An die 9.000 schwerbewaffnete Polizisten und Angehörige von Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei befanden sich im Einsatz, um im Rahmen einer Großfahndung einen 19-jährigen Studenten der Universität von Massachusetts zu fassen, nachdem dessen sieben Jahre älterer Bruder Tamerlan, der angebliche Kopf und die treibende Kraft hinter den Bombenanschlägen während des Marathonlaufs in Boston, bereits angeblich bei einer Verfolgungsjagd von der Polizei bei einem Schusswechsel getötet worden war.
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Noch vor Abschluss polizeilicher Ermittlungen stand der 19-Jährige schon als Täter fest. Das grundlegende Prinzip der Unschuldsvermutung wurde beiseite geschoben. Und nach den Worten des amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der immerhin auf ein Jurastudium an derrenommierten Harvard-Rechtsfakultät verweisen kann, hat sich der 19-jährige Student verschiedenster abscheulicher Verbrechen »schuldig gemacht«, allerdings ohne dass dafür hinreichende Beweise vorgelegt wurden oder eine Verhandlung vor Gericht stattgefunden hat:
»Von welchen hasserfüllten Absichten auch immer diese Männer zu diesen abscheulichen Taten getrieben wurden, sie werden sich nicht durchsetzen. Was immer sie auch zu erreichen anstrebten, sie sind bereits damit gescheitert... Warum griffen diese jungen Menschen, die hier in unserer Mitte aufwuchsen und in unserem Land studierten, zu solcher Gewalt?«
Im Zusammenhang mit den angeblichen, die Gifte Anthrax und Rizin enthaltenden Briefen, die seltsamerweise unmittelbar nach den tragischen Ereignissen in Boston auftauchten, hoben Washington und die Medien die gefährlichen Verbindungen der beiden Brüder Zarnajew zu militanten Aufständischen in Tschetschenien hervor.

Das Wall Street Journal berichtete unter Berufung auf die Ansicht "fachkundiger Experten":
»›... der tschetschenische familiäre Hintergrund könnte zumindest teilweise erklären, was sie die beiden Verdächtigen zu ihren Taten veranlasste‹, erklärte Lorenzo Vidino, Fachmann für tschetschenische Militante im Züricher Center for Security Studies (CSS, das der ETH Zürich angeschlossen ist). ... Auf einer persönlichen Internetseite in dem russischen sozialen Netzwerk Vkontakte, die scheinbar Dschochar Zarnajew zugeordnet werden kann, befindet sich auch ein Propagandavideo, in dem Dschihadisten aufgefordert werden, in Syrien an der Seite der Rebellen zu kämpfen. Dazu werden Äußerungen des Propheten Mohammed zitiert.« Es ist ausführlich dokumentiert, dass die ausländischen »Gotteskrieger« in Syrien von den USA und ihren Verbündeten angeworben werden. Chechen Terror Usually Aimed at Russia«, in: Wall Street Journal, 19. April 2013)
Damit wird einfach unterstellt, auch wenn die Verdächtigen keine Verbindungen zu einem Netzwerk muslimischer Extremisten unterhalten, so veranlasse ihr verinnerlichtes kulturelles Erbe und ihr islamischer »Hintergrund« sie - praktisch ganz natürlicherweise - dazu, Gewalttaten zu verüben. Inwieweit beeinflusst diese Vorstellung, die Muslime gewohnheitsmäßig mit Terrorismus in Verbindung bringt und die bis zum Abwinken immer wieder in den westlichen Nachrichten wiedergekäut wird, die geistige und gefühlsmäßige Einstellung der Menschen?

Während der Charakter und die Motive der Verdächtigen derzeit von den Ermittlern der Polizei untersucht werden, wurden die beiden Brüder Zarnajew bereits in die Schublade »radikaler Islamist« einsortiert. Im ganzen Land werden Muslime verleumdet und dämonisiert. Eine neue Welle der Islamfeindschaft wurde losgetreten.

Die Entstehung einer neuen Legende: Die »Tschetschenien«-Verbindung

Eine neue Legende wird geboren: Die »Tschetschenien«-Verbindung bedroht Amerika. Der in der Russischen Föderation heimische extremistische Islam wird nun »nach Amerika exportiert«.

In einem Bericht des "Council of Foreign Relations"(CFR) heißt es:
»Strafverfolgungsbehörden haben zwar seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf allen Ebenen Fortschritte bei der Überwachung und Kontrolle erzielt, aber die Sicherheitsrisiken bleiben. Viele Terrorbekämpfungsexperten fordern, man müsse sich wieder verstärkt darauf konzentrieren, die USA in die Lage zu versetzen, derartige Ereignisse zu überstehen und sich schnell von ihnen zu erholen...« (Hervorhebungen vom Verfasser.)
Werden die tragischen Ereignisse in Boston von Washington dazu benutzt, eine weitere Welle polizeistaatlicher Maßnahmen durchzusetzen, die sich diesmal vor allem gegen »in den USA selbst lebende Terroristen« (so genannte »hausgemachte« oder »einheimische Terroristen«, »homegrown« bzw. »domestic terrorists«) richteten?

Sollen die katastrophalen Geschehnisse dazu dienen, in der Öffentlichkeit neue Islamfeindschaft zu schüren?

Soll hier die Öffentlichkeit etwa auf einen neuen Kreuzzug eingestimmt werden, der schon unter der Regierung Bush ausgerufen wurde und sich gegen mehrere islamische Länder richtete, diebeschuldigt wurden, »islamischen Terroristen Unterschlupf und Unterstützung« zu gewähren?

Nach Auffassung der mächtigen Denkfabrik Council of Foreign Relations, die sowohl auf das Weiße Haus als auch auf das Außenministerium maßgeblichen und scheinbar allgegenwärtigen Einfluss ausübt, »rufen« die Bombenanschläge von Boston »wieder das Schreckgespenst des Terrorismus auf amerikanischem Boden wach und zeigen aller Welt die Verwundbarkeit einer "freien und offenen Gesellschaft"«. (Ebenda.) Terrorbekämpfung und Kriegsrecht - die immer auch die Aussetzung oder Aufhebung von Bürgerrechten beinhalten - und nicht die Stärkung der zivilen Strafverfolgungsbehörden werden als Lösungen vorgeschlagen. Der frischgebackene Außenminister John Kerry sagte es so: »Meiner Meinung nach kann man es angemessen so ausdrücken: In der letzten Woche hatten wir es direkt mit dem Bösen zu tun.«

Nach übereinstimmender Schilderung der Massenmedien (und natürlich darf auch Hollywood hier nicht fehlen) wird Amerika wieder einmal angegriffen. Aber diesmal stammen die als Attentäter auftretenden »islamischen Terroristen« nicht aus Afghanistan oder Saudi-Arabien, sondern aus der Russischen Föderation:
»Sollte sich die Verbindung zwischen den des Bombenanschlags auf den Marathon verdächtigten Personen und tschetschenischen Separatisten bestätigen, wäre dies das erste Mal, dass Kämpfer aus einer früheren Sowjetrepublik einen tödlichen Angriff außerhalb Russlands durchführten.« (»Chechen insurgents deny any link to marathon bombing«, in: U.S. News, 19.4.2013)
Die »Tschetschenien«-Verbindung wurde zum festen Bestandteil eines neuen Narrativs der Medien. Die amerikanische Heimat wird potenziell durch islamische Terroristen aus der Russischen Föderation bedroht, die über Verbindungen zu al-Qaida verfügen.

Aber hinter den Anschlägen lassen sich auch außenpolitische Ziele erkennen. Das Weiße Haus machte deutlich, sollten sich die Verbindungen der beiden »tschetschenischen Brüder« zuradikalen islamischen Gruppen bestätigen, erwäge die Regierung, »die Informationsbeschaffung im Ausland, aber auch die Überwachungsmaßnahmen in den USA selbst auszuweiten«.

Darüber hinaus schließt das neue terroristische Narrativ vorrangig nun auch »Gotteskrieger« aus der Russischen Föderation und weniger aus dem Nahen und Mittleren Osten ein. Hier geht es um geopolitische Auswirkungen. Wird die Regierung die »Tschetschenien-Verbindung« zum Vorwand nehmen, um Moskau unter Druck zu setzen? Mit welcher Art von Medienpropaganda ist wahrscheinlich zu rechnen?

Al-Qaida und die CIA

Die amerikanische Öffentlichkeit wird in die Irre geführt. Die Medienberichte unterschlagen bewusst die historischen Ursprünge der dschihadistischen Bewegung in Tschetschenien und ihre allgegenwärtigen Verbindungen zu amerikanischen Geheimdiensten.

Es ist eine Tatsache, dass die Bewegung der »Gotteskrieger« von amerikanischen Geheimdiensten erschaffen wurde und dies in Folge auch zur Entstehung eines »politischen Islams« führte. Die Rolle der CIA bei der Unterstützung des islamischen Dschihad (einschließlich der meisten mit al-Qaida verbundenen Organisationen) ist ausgiebig dokumentiert, aber es gibt auch Hinweise darauf, dass das FBI Möchtegern-Terroristen in den USA verdeckt ausgerüstet und angestachelt hat. (Siehe dazu: James Corbett, »The Boston Bombings in Context: How the FBI Fosters, Funds and Equips American Terrorists«, in: Global Research, 17. April 2013.)

Diese Planspiele und Operationen der CIA begannen bereits Ende der 1970er Jahre. Sie sahen vor, »Gotteskrieger« als »Freiheitskämpfer« (Mudschaheddin) anzuwerben und auszubilden, damit diese einen »Befreiungskrieg« gegen die prosowjetische säkulare afghanische Regierung führten.

Dieser »islamische Dschihad« (oder »heilige Krieg« gegen die Sowjets) wurde zum integralen Bestandteil der geheimdienstlichen Operationen der CIA und wurde von den USA und Saudi-Arabien unterstützt; wobei ein erheblicher Teil der finanziellen Unterstützung aus dem Drogenhandel des Goldenen Halbmonds [Iran, Afghanistan und Pakistan] stammte:
»Im März 1985 unterzeichnete Präsident Reagan die National Security Decision Directive 166 [NSDD 166]..., die die Ausweitung der verdeckten militärischen Hilfe für die Mudschaheddin genehmigte und deutlich machte, dass der geheime Krieg in Afghanistan ein neues Ziel verfolgte: den Sieg über die sowjetischen Truppen in Afghanistan durch verdeckte Operationen und einen sowjetischen Abzug. Die neue verdeckte amerikanische Unterstützung begann mit einem dramatischen Anstieg der Waffenlieferungen - 1987 waren sie bereits auf 65.000 Tonnen jährlich angestiegen... sowie einem ›schier endlosen Strom‹ von Spezialisten der CIA und des Pentagon in das geheime Hauptquartier des pakistanischen [Geheimdienstes Inter-Services Intelligence] (ISI) an der Hauptstraße in der Nähe Rawalpindis. Dort trafen sich die CIA-Experten mit pakistanischen Geheimdienstoffizieren, um bei der Planung des Vorgehens der afghanischen Rebellen zu helfen.« (Steve Coll, in: The Washington Post, 19. Juli 1992.)
Aus vielen islamischen Ländern wurden Mudschaheddin von der CIA angeworben, darunter auch Kämpfer aus den islamischen Republiken und autonomen Regionen der Sowjetunion. (Für weitere Informationen und Analyse siehe: Michel Chossudovsky,»Al Qaeda and the ›War on Terrorism‹«, in:Global Research, 20. Januar 2008.)

Al-Qaida und der tschetschenische Dschihad

Tschetschenien ist heute eine autonome Republik der Russischen Föderation an der Grenze zu Georgien. Zu den Rekruten, die Anfang der 1990er Jahre für eine besondere Ausbildung vorgesehen waren, gehörte auch der Anführer der tschetschenischen Rebellion Schamil Salmanowitsch Bassajew (1965-2006), der unmittelbar nach dem Kalten Krieg den ersten Krieg für die Unabhängigkeit Tschetscheniens gegen Russland führte.

Während seiner Ausbildung in Afghanistan knüpfte Bassajew Kontakte zum in Saudi-Arabien geborenen, erfahrenen Mudschaheddin-Kommandeur »al-Khattab«, der als Freiwilliger in Afghanistan gekämpft hatte. Nur wenige Monate nach der Rückkehr Bassajews nach Grosny wurde Khattab Anfang 1995 eingeladen, in Tschetschenien einen Armeestützpunkt für die Ausbildung der Mudschaheddin einzurichten. Berichten der britischen BBC zufolge wurde dieser Einsatz Khattabs »über die [Internationale] Islamische Hilfsorganisation mit Sitz in Saudi-Arabien organisiert, die von verschiedenen Moscheen und wohlhabenden Einzelpersonen finanziert wurde, die Gelder nach Tschetschenien schleusten« (BBC, 29. September 1999).

Die vorhandenen Hinweise legen nahe, dass Schamil Bassajew seit Ende der 1980er Jahre über Verbindungen zu amerikanischen Geheimdiensten verfügte. 1991 war er an dem so genannten Augustputsch in Moskau beteiligt, der letztlich das Auseinanderbrechen der Sowjetunion einleitete. Im November 1991 spielte er eine führende Rolle bei der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens von der Russischen Föderation. Im folgenden Jahr stand er an der Spitze eines Aufstandes gegen armenische Kämpfer in der armenischen Enklave Bergkarabach in Aserbaidschan. Darüber hinaus war er auch in Abchasien aktiv, einer vorwiegend von Muslimen bewohnten Region in Georgien, die nach Unabhängigkeit strebt.

Der erste Tschetschenienkrieg (1994-96) begann kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und war Teil der verdeckten amerikanischen Bestrebungen, die Russische Föderation zu destabilisieren. Der zweite Tschetschenienkrieg fand 1999-2000 statt. Allgemein lässt sich festhalten, dass die gleichen Guerilla-Taktiken, die in Afghanistan angewendet worden waren, auch in Tschetschenien zum Einsatz kamen.

Yossef Bodansky, Leiter der Arbeitsgruppe Terrorismus und nichtkonventionelle Kriegführung des amerikanischen Kongresses, erklärte, der Aufstand in Tschetschenien sei auf einem geheimen Führungstreffen der internationalen Hizbollah 1996 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu geplant worden. (Levon Sevunts, »Who’s Calling The Shots? Chechen conflict finds Islamic roots in Afghanistan and Pakistan«, in: The Gazette, Montreal, 26. Oktober 1999.)

»Es sei offensichtlich, dass die Unterstützung des pakistanischen ISI in Tschetschenien ›über die Versorgung der Tschetschenen mit Waffen und Expertise weit hinausgehe: Der ISI und seine radikal islamischen Aktivposten haben tatsächlich in diesem Krieg das Sagen‹.« (Ebenda.)

Der ISI steht in ständiger Verbindung zur CIA. Die obige Äußerung macht deutlich, dass die amerikanischen Geheimdienste ihr pakistanisches Gegenstück ISI als Verbindungsglied benutzten, das ihre Anweisungen übermittelte.

Die wichtigsten russischen Pipelinerouten verlaufen durch Tschetschenien und Dagestan. Ungeachtet der Verurteilung des »islamischen Terrorismus« durch Washington waren die amerikanischen Erdölkonzerne, die um die völlige Kontrolle über die Erdölvorkommen und Pipelinerouten des Kaspischen Meeres wetteifern, die Nutznießer der Kriege in Tschetschenien.

Die beiden wichtigsten tschetschenischen Rebellenstreitkräfte (die damals von dem bereits verstorbenen Schamil Bassajew und Emir Khattab befehligt wurden) waren etwa 35.000 Mann stark und wurden von der CIA und dem pakistanischen ISI unterstützt. Letzterer spielte eine entscheidende Rolle bei der Organisation und Ausbildung der tschetschenischen Rebelleneinheiten:
»[1994] organisierte der pakistanische Inter-Services Intelligence [in Verbindung mit der CIA] für Bassajew und dessen zuverlässigste Offiziere in der afghanischen Provinz Khost im Stützpunkt Amir Muawia eine intensive islamische Indoktrinierung und Ausbildung in Guerillakriegführung. Dieses Lager war Anfang der 1980er Jahre von der CIA und dem ISI errichtet worden und stand unter dem Kommando des berüchtigten afghanischen Kriegsherrn Gulbuddin Hekmatyār. Nachdem Bassajew im Juli 1994 seine Ausbildung in Amir Muawia abgeschlossen hatte, wurde er in das Lager Markaz-i-Dawar gebracht, um sich dort einer Ausbildung in fortgeschrittener Guerillataktik zu unterziehen. In Pakistan traf Bassajew mit sehr hochrangigen pakistanischen Militär- und Geheimdienstoffizieren zusammen: Verteidigungsminister General Aftab Schaban Mirani, Innenminister General Nasrullah Babar und dem Chef der ISI-Abteilung für die Unterstützung der islamischen Sache, General Javed Aschraf (alle inzwischen nicht mehr im Amt). Diese hochrangigen Verbindungen sollten sich für Bassajew schon bald als sehr vorteilhaft erweisen.« (Ebenda.)
Nach Abschluss der Ausbildungs- und Indoktrinierungsphase war Bassajew dazu ausersehen, den Angriff auf die russischen Truppen im ersten Tschetschenienkrieg zu kommandieren. Seine Gruppe hatte auch enge Verbindungen zu Verbrechersyndikaten in Moskau und zur organisierten Kriminalität in Albanien sowie der [paramilitärischen albanischen Organisation] "UÇK" [Ushtria Çlirimtare e Kosovës, »Befreiungsarmee des Kosovo«] geknüpft. (Witali Romanow und Viktor Jaducha, »Chechen Front Moves To Kosovo«, in: Segodnia, Moskau, 23. Februar 2000.)

Der Aufstand in Tschetschenien orientierte sich am Vorbild des von der CIA unterstützten Dschihad in Afghanistan, diente aber seinerseits dann als Vorbild für verschiedene Militäroperationen der USA und der NATO, darunter der Bosnienkrieg (1992-95), der Krieg im Kosovo (1999), das militärische Eingreifen in Libyen (2011) und der »Bürgerkrieg« in Syrien (2011-).

Die tschetschenischen Rebellen: eine verdeckte amerikanische Operation zur Destabilisierung der Russischen Föderation

Der erste Tschetschenienkrieg von 1994-96, der von den stärksten Rebellengruppen gegen Moskau geführt wurde, diente dazu, die säkularen staatlichen Institutionen zu zerschlagen. Die Übernahme des islamischen Rechts in den größtenteils eher säkular geprägten islamischen Gesellschaften der Teilrepubliken und autonomen Regionen der früheren Sowjetunion diente den strategischen Interessen der USA in der Region.

Zunächst wurde in Tschetschenien in vielen Regionen und Dörfern ein paralleles System lokaler Regierung errichtet, das von den islamistischen Milizen kontrolliert wurde. In einigen Kleinstädten und Ortschaften wurden islamische Gerichtshöfe, die nach der Scharia urteilten, mit terroristischer Gewaltherrschaft aufgebaut.
»Trotz massiven Widerstandes der Bevölkerung war die Finanzhilfe aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten, die an die Rebellenarmeen floss, an die Errichtung von Scharia-Gerichten gebunden. Der Oberste Richter und Emir der Scharia-Gerichte in Tschetschenien war Scheich Abu Umar, der ›1995 nach Tschetschenien kam und sich dort den Mudschaheddin anschloss, die von Ibn-ul-Khattab kommandiert wurden... Er begann mit dem Islam-Unterricht unter Berücksichtigung der wahren islamischen Theologie (»Aqidah«), der sich an die zahlreichen tschetschenischen Mudschaheddin richtete, von denen viele falsche und verzerrte islamische Glaubensüberzeugungen vertraten.« (Global Muslim News, Dezember 1997.)
Die wahhabitische Bewegung aus Saudi-Arabien versuchte nicht nur, die zivilstaatlichen Einrichtungen in Dagestan und Tschetschenien zu überrennen, sondern wandte sich auch gegen die traditionellen islamischen Sufi-Führer. Und so setzte sich der Widerstand gegen die islamistischen Rebellen und die ausländischen Kämpfer in Dagestan im Wesentlichen aus einem Bündnis von Vertretern der (säkularen) lokalen Regierungen und den Sufi-Scheichs zusammen:
»Diese wahhabitischen Gruppen bildeten eine sehr kleine, aber finanzstarke und gut bewaffnete Minderheit. Mit ihren Angriffen lösten sie in den Herzen der Massen Angst und Schrecken aus... Und indem sie Anarchie und Gesetzlosigkeit erzeugen, gelingt es diesen Gruppen, der Bevölkerung ihre eigene strenge und intolerante Spielart des Islam aufzuzwingen... Solche Gruppierungen stehen nicht für die allgemein verbreitete Sichtweise des Islam, wie sie von der großen Mehrheit der Muslime und den islamischen Gelehrten vertreten wird, für die der Islam beispielhaft das Vorbild einer Zivilisation und vollkommenen Moral verkörpert. Diese wahhabitischen Extremisten repräsentieren demgegenüber nur eine Bewegung zur Anarchie unter einem islamischen Deckmantel... Ihnen liegt weniger daran, einen islamischen Staat zu errichten, als einen Zustand der Verwirrung zu erzeugen, in dem sie gedeihen können.« (Mateen Siddiqui, »Differentiating Islam from Militant ›Islamists‹«, in: San Francisco Chronicle, 21. September 1999.)
Der zweite Tschetschenienkrieg wurde vom damaligen russischen Ministerpräsidenten Putin vom Zaun gebrochen, der damit die Macht der Zentralregierung festigen und die von den USA unterstützten, gegen die Russische Föderation kämpfenden tschetschenischen Terroristen besiegen wollte.

Terrorismus unter »falscher Flagge«

Der 19-jährige Verdächtige, dem die Bombenanschläge zur Last gelegt werden, wird als Sündenbock vorgeschoben. Obwohl sein Bruder und er keine Verbindungen zu der dschihadistischen Bewegung unterhielten, arbeiten die amerikanischen Medien daran, die Legende einer »Tschetschenien-Verbindung« zu stricken und spielen dabei auf ein scheinbar natürliches Verhaltensmuster an, das praktisch für alle Muslime typisch sei:
»›Die Brüder verbrachten in einer persönlichkeitsbildenden Lebensphase zehn Jahre in den USA, und ihre Lebensweise unterschied sich nicht von dem normalen Verhalten anderer Einwanderer der ersten Generation‹, meinte Mitchell Silber, ein früherer Mitarbeiter der New Yorker Polizei, der mit Geheimdienstangelegenheiten betraut war. ›Es stellt sich nun die Frage, was hat diese Veränderung ausgelöst und verstärkt? War das tschetschenischer Nationalismus? Ging [die Veränderung] von einem tschetschenischen Nationalismus aus und weitete sich dann irgendwie in einen panislamistischen Dschihad aus?‹« (»Renewed Fears About Homegrown Terror Threat«, in: Wall Street Journal, 20. April 2013)
Aussagen aus dem familiären Umfeld verweisen darauf, dass sich die Zarnajew-Brüder bereits Jahre vor dem Anschlag in Boston im Visier des FBI befanden und verschiedentlich bedroht und schikaniert wurden. Wie das Wall Street Journal bestätigte, hatte das FBI Tamerlan Zarnajewschon 2011 »befragt« (ebenda).

Aus all diesem ergibt sich mehr als deutlich, dass die amerikanische Regierung keineswegs entschlossen gegen Terrorismus vorgeht - eher im Gegenteil. Amerikanische Geheimdienste haben seit mehr als 30 Jahren Terroristen angeworben und umhegt, während gleichzeitig in der Öffentlichkeit das absurde Bild verbreitet wurde, diese Terroristen, die als gutgläubige »geheimdienstliche Aktivposten« tätig sind, stellten eine Bedrohung für Amerika dar. Diese angebliche Bedrohung durch einen »äußeren Feind« gehört zu der ausgefeilten Propagandakampagne hinter dem »weltweiten Krieg gegen den Terrorismus« (»Global War on Terrorism«, GWOT).

Wie sieht es in Wahrheit aus?

Der Aufbau islamistischer und terroristischer Kampftruppen in verschiedenen Ländern der Welt ist fester Bestandteil aufwendiger und komplexer amerikanischer Geheimdienstprojekte. Die Zarnajew-Brüder werden ohne belastbare Beweise für eine Verbindung zu tschetschenischen Terroristen für die Anschläge verantwortlich gemacht. Die entscheidende Frage lautet aber, wer steckt eigentlich hinter den tschetschenischen Terroristen? In einer verqueren Logik sind die Befürworter des »weltweiten Krieges gegen den Terrorismus« praktisch mit den planvollen Urhebern des »islamischen Terrorismus« identisch.

Die Geisteshaltung des »weltweiten Krieges gegen den Terrorismus«

Die mentale und emotionale Einstellung des »Krieges gegen den Terrorismus« gründet sich auf einen allgemeinen Konsens: Millionen von Amerikanern wird vorgegaukelt, ein militarisierter Polizeiapparat sei zum Schutz der Demokratie unabdingbar. Dem meisten Menschen bleibt verborgen, dass die amerikanische Regierung selbst die wichtigste Ursache des nationalen wie internationalen Terrorismus ausmacht. Die Medienkonzerne bilden dabei die Propagandamaschine Washingtons, die gebetsmühlenartig Muslime als Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellt.

In diesem kritischen Augenblick unserer Geschichte, in dem wir an einem Scheideweg der weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Krise stehen, kommt den Bombenanschlägen in Boston eine wichtige Rolle zu - sie sollen den sich abzeichnenden übermächtigen Polizeistaat rechtfertigen, der allein in der Lage sei, die Sicherheit der Heimat zu garantieren.

Dieser amerikanische Polizeistaat nimmt immer mehr Gestalt an und wird dabei als rettendes Mittel zum Schutz der Bürgerrechte bezeichnet. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung werden außergerichtliche Tötungen, die Aufhebung der Rechte im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen (Festnahmen ohne Haftbefehl, keine rechtsstaatliche Haftüberprüfung etc.) und Folter als rechtmäßige Werkzeuge zum Schutz der Verfassung angesehen.

Gleichzeitig werden die von der CIA geschaffenen und unterstützten Terroristen zu Terroranschlägen »unter falscher Flagge« [d.h. die eigentlichen Urheber der Verbrechen bleiben im Dunkeln] eingesetzt, um auf diese Weise der Forderung nach einem weltweiten militärischen Kreuzzug gegen islamische Länder, die rein zufällig zu den wichtigsten Erdölförderländern gehören, Nachdruck zu verleihen.

»Ereignisse mit hohen Opferzahlen«

Der frühere CENTCOM-Kommandeur General Tommy Franks, der 2003 die Invasion des Iraks befehligte, hat in einem Szenario »Ereignisse mit hohen Opferzahlen« auf amerikanischem Boden (neuerliche Anschläge in der Größenordnung der Anschläge vom 11. September 2001) beschrieben. In diesem Memorandum wird die Überzeugung angedeutet, zivile Opfer seien notwendig, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und für den »weltweiten Krieg gegen den Terrorismus« zu gewinnen:
»Ein Terroranschlag mit hohen zivilen Opferzahlen könnte sich irgendwo im Westen - möglicherweise in den Vereinigten Staaten - ereignen und dazu führen, dass unsere Bevölkerung unsere eigene Verfassung in Frage stellt und damit beginnt, unser Land zu militarisieren, um so eine Wiederholung eines ähnlichen Ereignisses mit hohen Opferzahlen zu verhindern.« (Interview mit General Tommy Franks, in: Cigar Aficionado, Dezember 2003)
Auch wenn sich die Bombenanschläge in Boston in keiner Weise mit den »katastrophalen Ereignissen« vergleichen lassen, auf die sich General Franks bezieht, scheint die Regierungihrerseits entschlossen, an ihrer Logik einer »Militarisierung des Landes« als Mittel zum »Schutz der Demokratie« festzuhalten.

Schon jetzt werden die Ereignisse in Boston dazu instrumentalisiert, die Öffentlichkeit auf eine Ausweitung und Verstärkung des inneramerikanischen Terrorbekämpfungsapparats einzustimmen. Diese Maßnahmen würden dann zusammen mit außergerichtlichen Tötungen so genannter »einheimischer, sich selbst radikalisierender Terroristen« eingeführt und umgesetzt:
»Die amerikanische Terrorbekämpfung hat sich seit 2001 vor allem darauf beschränkt, Terroristen im Ausland zu töten oder zu verhindern, dass sie in die USA einreisen. Aber die Bombenanschläge in Boston machen deutlich, dass die Veränderung des taktischen Vorgehens der Terroristen leicht Grenzen überwinden kann. Die Überwachung und Bekämpfung kleiner Gruppen von Einzelpersonen auf amerikanischem Boden kann zu einer belastenden Aufgabe werden.

[Der langjährige CIA-Mitarbeiter und Berater des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrats] Bruce Riedel, Leiter des Informationsprojekts der überparteilichen in Washington ansässigen Denkfabrik Brookings Institution erklärte, bei den Anschlägen in Boston handele es sich wahrscheinlich um Vorboten weiterer Anschläge. ›Hier zeigt sich vermutlich das zukünftige Muster der terroristischen Bedrohung der USA‹, sagte er und fügte hinzu, die Gefahr, die von kleinen Gruppen radikalisierter Beteiligter, die in den USA gelebt hätten und dort einen Anschlag durchführten, ausgehe, ist der schlimmste Albtraum aller Terrorbekämpfer - ein im eigenen Land entstehender, auf Selbstradikalisierung beruhender Terrorismus, der sich seine Kenntnisse über das Internet verschafft‹.« (Wall Street Journal, 20. April, a.a.O.)
Ein solcher »Terroranschlag mit hohen Opferzahlen« wird von General Franks als entscheidender politischer Wendepunkt gedeutet.

Markieren die Bombenanschläge in Boston einen solchen Wendepunkt, eine Wasserscheide, die letztlich zur schrittweisen Aufhebung der verfassungsmäßigen Regierung beiträgt?