Wir nehmen vieles um uns als selbstverständlich hin - Materie, Raum und Zeit scheinen keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. Doch zählen sie zu den komplexesten Phänomenen, die unser gesamtes Universum und seine Eigenschaften bestimmen. Neueste Erkenntnisse lassen Zweifel an den bisherigen Konzepten aufkommen und verlangen nach einer erweiterten Physik und Kosmologie.

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»GR20« und »Amaldi 10« sind die Kürzel für zwei große Sonderkonferenzen. Allerdings nicht etwa politische Geheimgipfel à la Bilderberg, sondern Physik-Tagungen auf allerhöchstem Niveau. GR20 war die 20. Internationale Konferenz zu Allgemeiner Relativität und Gravitation in Warschau, die kombiniert mit jener zehnten Amaldi-Konferenz zu Gravitaionswellen veranstaltet wurde. Genau wie ein ESA-Modul der Internationalen Raumstation, trägt letztere Tagung ihren Namen zu Ehren des italienischen Physikers Edoardo Amaldi, der wesentliche Beiträge zur Theorie magnetischer Monopole und der Gravitationswellen lieferte.

Auf diesen Konferenzen diskutierten führende Experten die Relativität der Raumzeit, Schleifenquantengravitation und völlig neue Modelle des Quantenuniversums, wobei mehr als erstaunliche Aspekte ans Licht kamen, die selbst für ausgewiesene Fachleute unerwartete Perspektiven öffneten. So zeigte eine führende Forschergruppe aus Warschau, dass unterschiedliche Elementarteilchen jeweils abweichende Raumzeiten »erfahren«. Doch was sind überhaupt Raum und Zeit?

An sich glauben wir, das genau zu wissen. Immerhin handelt es sich um Phänomene der alltäglichen Erfahrung. Wir kennen den Raum um uns und die Zeit, die bis zu unserem Dahinscheiden verstreicht, sogar ziemlich gut. Die fortwährende, unmittelbare Erfahrung liefert das nötige Grundverständnis. Allerdings betrachten viele Menschen Sonne und Mond noch heute selten als astronomische Objekte. Beide zählen einfach zur täglichen Erfahrungswelt. Und viele können kaum erklären, was die »Sonne« eigentlich ist. Man könnte sagen: Ganz genau wissen das bis heute nicht einmal die Spezialisten, also Physiker und Astronomen. Das stimmt natürlich, denn die Wahrheit selbst scheut öffentliche Auftritte. Wissenschaft vermag lediglich Modelle der Wirklichkeit zu entwickeln und sich ihr unbestimmt zu nähern, ohne sie jemals selbst exakt zu reproduzieren. Der bloße Modellcharakter der Wissenschaft wird leider viel zu selten erwähnt.

Immerhin scheint man heute doch bereits ein sehr klares Bild zur Natur von Sonne und Mond entwickelt zu haben. Wie aber sieht es mit Raum und Zeit aus? Hier wird es deutlich schwieriger, beides sind eben keine direkt sichtbaren, materiell fassbaren Phänomene. Und beide haben so ihre Tücken, die nicht zuletzt auf »verwandtschaftlichen Beziehungen« beruhen. Vor allem Albert Einstein, ein wahrer »Monolith« der Wissenschaft und geradezu Synonym für ein "Jahrtausendgenie", hat vor rund hundert Jahren mit seinen Theorien für einige Verwirrung gesorgt. Plötzlich schien nichts mehr wie zuvor. Kein Wunder, wenn seine nicht mehr mit dem »gesunden Menschenverstand« zu fassenden Arbeiten bis heute heftig umstritten sind. Die Fachwelt aber ist sich weitgehend über die Richtigkeit dieser Konzepte sicher, nicht zuletzt wegen zahlloser korrekter Vorhersagen, Experimente und Beobachtungen. Trotzdem ist klar: Auch Einsteins Theorien sind nicht perfekt und versagen in so mancher Situation.

Zeitparadoxien

Bekanntlich breitet sich auch Licht nicht in Nullzeit durch den Raum aus. Das wurde bereits im 17. Jahrhundert an Laufzeitdifferenzen bei Verfinsterungen von Jupitermonden festgestellt. Schon lange geht fast die gesamte Wissenschaftsgemeinde davon aus, dass die Lichtgeschwindigkeit knapp 300 000 Kilometer pro Sekunde beträgt. In etwas mehr als einer Sekunde trifft ein Lichtstrahl vom Mond auf der Erde ein. Von der Sonne bis hierher dauert es im Schnitt 8,5 Minuten, und gibt man einem Lichtstrahl zwölf Monate Reisezeit, dann legt er in Kilometern eben 300 000 Mal die Sekunden eines Jahres zurück, ein Lichtjahr eben. Die Zahl entzieht sich jeder Vorstellungskraft.

Jedenfalls gilt die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit als unumstößliche physikalische Gegebenheit, die durch alle Erfahrung bestätigt wird. Daraus zog Einstein in seiner Speziellen Relativitätstheorie erstaunliche Folgerungen. Berühmt ist das hierauf basierende Zwillingsparadoxon: Ein Raumfahrer, der die Erde verlässt, dann einige Monate oder Jahre nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durchs All rast, um anschließend auf die Erde zurückzukehren, wird verblüfft und traurig feststellen, dass er selbst zwar kaum gealtert ist, doch sein zurückgelassener Zwillingsbruder entweder weit schneller gealtert oder gar bereits gestorben ist. Warum lief die Zeit für den Astronauten offenbar langsamer ab als auf der Erde?

Er bewegte sich fast mit Lichtgeschwindigkeit durchs All, was eine »Zeitdilatation« bewirkte, eine Zeit-»Aufweitung«. Wenn man sich in einem fensterlosen Kasten befindet, kann man durch kein Experiment ermitteln, ob dieser Kasten sich gegenüber einem Bezugsobjekt in Ruhe oder aber in gleichförmiger, geradliniger Bewegung befindet. Der Astronaut in der Dunkelheit des Alls weiß nicht, ob er sich gleichförmig bewegt oder nicht. Er will es herausfinden, also baut er ein kleines Experiment auf: Er nimmt eine Lichtquelle sowie einen Spiegel, der den Strahl in die Quelle zurückführt, und misst die Zeit, die das Licht für diesen Weg benötigt. Da er weiß, wo bei seiner Rakete vorne ist, orientiert er den Lichtstrahl im rechten Winkel zur Bewegungsrichtung.

Nun ist klar, dass der Lichtstrahl bei einer ruhenden Rakete einfach vor- und zurückgeworfen wird, ohne seitliche Verschiebung. Schießt das Raumfahrzeug aber mit großem Tempo durchs All, muss der Lichtstrahl faktisch eine viel größere Strecke zurücklegen, er bewegt sich ja zwangsläufig mit dem Raumschiff mit und landet mit entsprechendem Versatz von der Ausgangsposition erst einmal auf dem Spiegel, um mit gleichem Versatz wieder eine längere Strecke zur Quelle zurück zu laufen. "Da die Lichtgeschwindigkeit konstant ist", sollte der Raumfahrer eine umso längere Laufzeit registrieren, je schneller seine Rakete unterwegs ist. Seine Messung ergibt aber genau den Wert, den er vom unbewegten Raumschiff kennt, egal, ob und wie schnell er jetzt gerade wirklich unterwegs ist. Der Astronaut »darf« ja laut Theorie keinen Unterschied feststellen - er kann die Physik nicht austricksen. Und so erfährt er nicht, was er wissen möchte.

Wie aber kann der Wert immer gleich sein? Wäre der Versuch ein Beleg für Überlichtgeschwindigkeit? Eben nicht. Damit wieder die konstante Lichtgeschwindigkeit und immer die gleiche Laufzeit herauskommt, muss die Zeit langsamer vergehen als gewöhnlich - der verlängerte Lichtweg wird durch eine entsprechend gedehnte Zeit kompensiert. Die langsamere Zeit gilt im gesamten bewegten System und betrifft auch den Raumfahrer selbst. Eine verrückte Situation. Später stellte sich heraus, dass auch Schwerefelder die Zeit langsamer ablaufen lassen müssen.

Sonderfälle

Man könnte nun zahlreiche Alternativvorschläge auflisten, denen zufolge Einstein irrte. Nur zeigen die meisten Gegenbeweise meist weitaus größere Schwächen als Einsteins Arbeiten, die durch unzählige Experimente ausgezeichnet bestätigt wurden. Allerdings suchen Physiker fieberhaft nach Abweichungen und Schwächen im Dschungel der Gleichungen und hoffen, Effekte zu beobachten, die endlich auch die Grenzen der Theorie aufzeigen. Dass es diese Limits gibt, dessen darf man sich ziemlich gewiss sein. Aber es geht nicht darum, Einstein zu widerlegen, sondern seine Weltsicht zu erweitern, so wie Newtons Physik durch Einstein ebenfalls nicht widerlegt, sondern dem Korrespondenzprinzip folgend erweitert wurde: Die frühere Theorie wurde als Sonderfall erkannt, ihr Gültigkeitsbereich durch neue Erkenntnisse und Theorien erweitert.

Das wird auch Einstein nicht anders ergehen. Und die ersten Schritte sind bereits getan. Einsteins Physik erklärt vieles, das früher unerklärlich war, und liefert dazu die präzisen Zahlen. Die heutige Technik wäre ohne Einstein undenkbar. Gravitationslinsen und Schwarze Löcher ließen sich ohne die Relativitätstheorie nicht verstehen. Raum und Zeit verschmelzen zu einer Einheit, einem vierdimensionalen Koordinatensystem, der Raumzeit. Jeder Punkt in der Raumzeit zeichnet sich also durch drei Raum- und eine Zeitkoordinate aus und wird als »Ereignis« definiert. Aber was eigentlich ist der Raum, was ist Zeit? Was ist Gravitation? Diese Fragen konnte auch Einstein nicht klären. Immer noch entzieht sich die Schwerkraft als vierte große Wechselwirkung einer vereinheitlichten Theorie. Sie will nicht ins physikalische Standardmodell passen.

Die neben der Relativität zweite revolutionäre Theorie der Physik ist bekanntlich die Quantentheorie. Dummerweise wollen sich die beiden nicht so recht miteinander vertragen. Im Bereich winzigster Dimensionen, dort, wo die heutige Physik ihre Grenzen erreicht, kommen sich die beiden Theorien unversöhnlich ins Gehege, sofern man versucht, sie hier gleichzeitig anzuwenden. Da erhalten unvorstellbar winzige Objekte plötzlich so viel Masse, dass sie kollabieren und zum Schwarzen Loch werden müssten. Genau wegen solcher Widersprüche suchen theoretische Physiker gegenwärtig nach einem neuen, besseren und umfassenderen Modell, das sowohl Relativitätstheorie als auch Quantentheorie beinhaltet und als Sonderfälle behandelt - so, wie »Newton« ein Sonderfall von »Einstein« war.


Raumzeit und Schleifenquantengravitation

Ein revolutionäres neues Konzept ist die Schleifenquantengravitation (kurz: SQG), eine mit den Strings konkurrierende, komplexe Theorie. An sich nur etwas für hochspezialisierte Physiker. Aber das Grundprinzip leuchtet schnell ein. In dieser Theorie erweist sich der Raum nicht als dreidimensionale kosmische Bühne, auf der eben alles geschieht. Er ist vielmehr ein physisch nicht greifbares, hyperfein geflochtenes »Netz« aus »Fäden« und »Knoten«. Die Auflösung ist enorm: Die gigantische Zahl von 1099 Knoten bevölkert jeden Kubikzentimeter und bietet somit in jedem Zentimeter-Würfel eine höhere Ereignisdichte als das gesamte überschaubare Universum, würde man diese auf sein in Kubikzentimetern ausgedrücktes Volumen beziehen. Löste sich das Netz auf, gäbe es auch keinen Raum mehr, denn dieses Netzwerk liegt nicht etwa innerhalb des Raumes, es selbst ist der Raum.

Das Phänomen »Zeit« seinerseits wäre durch jegliche Veränderungen in diesem Netz definiert, während Elementarteilchen und letztlich die gesamte Materie durch gesetzmäßige Strukturierungen der Knoten und Fäden entstehen, wobei deren hyperfeine Auflösung gleichzeitig die geringste überhaupt mögliche Größe von Objekten festlegt. Auch die Schwerkraft, die bei Einstein als Eigenschaft der Raumzeit interpretiert wird, geht in die Quantisierung ein. Hier ist aber erst ein Anfang erreicht.

Die SQG zeigt sich in der Lage, einige bisherige Rätsel zu erhellen und Vorhersagen zu treffen. Interessant ist auch, dass sie die Singularität des Urknalls umgeht und eine ihm vorausgehende Ära relativ leicht ermöglicht. Auf den aktuellen Tagungen stellte der Warschauer Professor Jerzy Lewandowski sein mathematisches Modell einer SQG vor, die Relativität und Quantentheorie vereint. Er untersuchte dabei auch einen kritischen Aspekt der Theorie, nämlich das Problem, wie die Raumzeit aus der Quantengravitation hervorgeht. Wenn die normale Raumzeit das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen Materie und Quantengravitation ist, »können wir dann sicher sein, dass jede Art von Materie definitiv mit einer Raumzeit interagiert, die stets die gleichen Eigenschaften aufweist?«, so fragt Lewandowski.

Bei seinen Berechnungen stellte sich heraus, dass Teilchen, die eine von null abweichende Ruhemasse aufweisen, abhängig von ihrer Bewegungsrichtung jeweils ihre ganz individuelle Raumzeit »erfahren« - ein auch für Lewandowski und seine Kollegen absolut überraschendes theoretisches Ergebnis. Da aber diese Effekte nur auf der Quantenebene innerhalb der jeweiligen »Welt« eines solchen Teilchens auftreten, zeigen sie sich nicht bei »klassischen Beobachtungen« im Labor. Entsprechend schwer wird sich die Theorie überprüfen lassen.

Die SQG erfreut sich ihrerseits nicht überall völliger Zustimmung, da sie die Konstanz der Vakuumlichtgeschwindigkeit »c« infrage stellt und damit ein wesentliches Postulat der gegenwärtigen Physik herausfordert. Laut SQG erhöht sich c wegen Auswirkungen der raumzeitlichen Quantenstruktur bei extrem kurzen Wellenlängen geringfügig. Dieser Einfluss kann sich bei kosmischen Gammastrahlenausbrüchen in Gestalt von Laufzeitdifferenzen bei verschiedenen Gamma-Frequenzen bemerkbar machen. Erste Messungen scheinen das zu bestätigen, sind aber noch zu unsicher. Doch die SQG könnte der richtige Schritt zu einer umfassenderen Sicht der Welt sein. Vielleicht löst sie Einstein ab, wird zur neuen großen Erweiterung der Physik. Zumindest bis zur nächsten Wachablösung auf dem Weg zur Wahrheit.