Psychologen sehen die "Grenze zwischen menschlicher und maschinenhafter Realität verschwimmen"

Computerspiele, Rollenspiele, zocken
© apDie Empfindlichkeit gegenüber Eindrücken in der realen Welt sinkt bei Spielern immersiver Computerspiele, sagen die Autoren der Studie.
Witten - Wer am PC viel Zeit in den virtuellen Welten von Rollenspielen verbringt und aus der Perspektiver von Avataren agiert, nimmt wichtige Körpersignale im echten Leben möglicherweise weniger intensiv wahr. Die Empfindlichkeit gegenüber Eindrücken in der realen Welt sinkt bei den Spielern, besagt das Ergebnis einer Studie von Forschern der deutschen Universität Witten/Herdecke der Melbourne University in Australien.

Die Wissenschafter untersuchten, was geschieht, wenn ein Spieler eines immersiven Computerspiels die Rolle eines nichtmenschlichen Charakters oder eines Avatars annimmt und sich mit ihr identifiziert. In bisherigen Studien zu diesem Thema ging es in der Regel um die Frage, inwiefern aggressives Verhalten im virtuellen Raum sich durch Einübung und Gewöhnung in die reale Welt überträgt. Die neue Studie untersuchte nun unabhängig davon, ob ein Spiel gewaltfrei oder gewalttätig ist, ob das reine Hineinversetzen in einen Avatar dazu führt, dass Spieler virtuelles Verhalten und Erleben einstudieren und in die wirkliche Welt übernehmen.

Schmerzempfinden verändert

Im Fokus stand vor allem die Frage, inwieweit das Schmerzempfinden dabei beeinflusst wird. Avatare haben oft mechanische, roboterartige Wesenszüge wie mechanistische Trägheit, Starrheit und das Fehlen von Emotionen und Wärme, so die Autoren der Studie. Die Teilnehmer wurden gefragt, wie viel Zeit sie jede Woche mit Computerspielen verbringen. Ihre Antworten wurden dann in Bezug zu einer Schmerztoleranzmessung gesetzt: Gezählt wurde, wie viele Büroklammern ein Proband aus eiskaltem Wasser holen konnte. In einem zweiten Experiment spielten die Probanden entweder ein immersives oder ein nicht-immersives Computerspiel, bevor sie den gleichen Schmerztoleranztest absolvierten. Die Spieler immersiver Spiele zeigten ein reduziertes Schmerzempfinden, sie holten deutlich mehr Klammern aus dem Eiswasser. Auch ließen sich weniger von Abbildungen von Menschen mit Schmerzreaktionen beeindrucken.

Dies zeige, dass das Eintauchen in die Rolle eines automatenhaften Avatars nicht nur das eigene Schmerzempfinden herabsetzt, sondern auch unempfindlicher für die Schmerzen anderer macht. "Die aktuellen Befunde legen nahe, dass durch Rollenspiele die Grenze dessen, was wir als gesunden Abstand zwischen menschlicher und maschinenhafter Realität erleben, unklarer wird", sagt Ulrich Weger, Leiter des Departments für Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke.

Auch soziales Verhalten übertragbar

Andererseits gebe es auch Hinweise darauf, dass soziale Spiele zu sozialen Verhaltensweisen im wirklichen Leben führen, so Weger. "In der Tat zeigen solche Studien ganz allgemein, dass wir das Verhalten, das wir in der virtuellen Welt einüben und erlernen, auch in die wirkliche Welt übertragen." Das von Computerspielen übernommene Verhalten, egal ob aggressiv oder sozial, sei allerdings von eher serienmäßiger, mechanischer, geistloser Natur, glaubt der Forscher.

Er sieht die Grenzen zwischen Mensch und Maschine mehr und mehr verschwimmen. Menschen versetzten sich einerseits in die Rolle virtueller Maschinen und Roboter, andererseits würden animierte Figuren und Spielsachen anthropomorphisiert, bekämen also scheinbar menschliche Eigenschaften zugeschrieben. "Dass sich die Grenzen auflösen, steht außer Frage, dennoch ist dies eine beunruhigende Entwicklung, die unsere Gesellschaft zu beeinflussen beginnt," so Weger. "Wir müssen uns bewusst machen, was Menschsein wirklich bedeutet, und wir müssen herausfinden, wie wir die Fortschritte im Bereich künstlicher Intelligenz so einsetzen, dass die freigesetzten Ressourcen und das individuelles Potenzial sinnvoll zum Tragen kommen können, ohne dass wir uns selbst zum Sklaven dieses Fortschritts machen."

(red, derStandard.at)

Abstract
Psychonomic Bulletin & Review: Virtually numbed: Immersive video gaming alters real-life experience