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© dpa/Frank RumpenhorstWahrheit oder Lüge?
Kann man mittels bildgebender Verfahren feststellen, was Menschen denken?

Schon Friedrich Nietzsche klagte: »Die Menschen lügen unsäglich oft.« Viele tun es um des eigenen Vorteils willen. Manche flunkern aber auch, um andere nicht zu kränken oder zu verletzen. Eine rundum ehrliche Gesellschaft wäre deshalb vermutlich eine Gesellschaft permanenter persönlicher Spannungen. Andererseits genügt ein kurzer Blick in die Geschichte, um zu erkennen, dass ohne Lüge und Täuschung viele kriegerische Konflikte erst gar nicht stattgefunden oder einen anderen als den überlieferten Verlauf genommen hätten.

Man mag daher verstehen, warum Menschen nach jedem Krieg oder Terroranschlag sofort die Frage stellen: Wäre das nicht alles zu verhindern gewesen? Heute obliegt es hauptsächlich den Geheimdiensten, mögliche Terrorgefahren rechtzeitig aufzuklären und abzuwehren. Künftig könnte diese Rolle auch Wissenschaftlern zufallen. Denn um herauszufinden, was Menschen beabsichtigen, taugen Gewalt und Erpressung oft ebenso wenig wie sogenannte Wahrheitsdrogen, bei denen selbst Fachleute Mühe haben, zwischen fabulierten und wahrheitsgetreuen Informationen zu unterscheiden.

Das erste Gerät, das geeignet schien, eine Lüge als solche zuverlässig zu erkennen, war der sogenannte Polygraf oder Lügendetektor, der 1915 von dem Harvard-Psychologen William Marston entwickelt wurde. Zwar kann dieser Apparat keine Gedanken lesen. Er kann jedoch registrieren, wie Gedanken bestimmte Körperreaktionen beeinflussen: Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Hautwiderstand. Denn bei den meisten Menschen, die lügen, geht der Puls in die Höhe und die Hände werden feucht. Nur leider zeigen auch ehrliche Personen oftmals solche Reaktionen, wenn sie unter Stress brisante Fragen mit Ja oder Nein beantworten sollen. In den USA wurde diese Situation in verschiedenen Experimenten simuliert. Ergebnis: Über 40 Prozent aller Versuchspersonen gingen, obwohl sie nachweislich die Wahrheit sagten, als Lügner aus dem Polygrafentest hervor.

Wie irreführend es gerade in Strafverfahren sein kann, auf die Zuverlässigkeit des Polygrafen zu vertrauen, zeigt das Beispiel des US-Amerikaners Melvin Foster, der 1982 als Verdächtiger in einem Serienmordfall durch den Lügendetektortest fiel. Er stand daraufhin viele Jahre als vorgeblicher Serienkiller im Fokus der Öffentlichkeit. Erst 2001 kam man dem wahren Täter durch DNA-Untersuchungen auf die Spur: Gary Ridg- way, der schließlich zugab, 49 Frauen ermordet zu haben. Bemerkenswert ist, dass Ridgway bereits 1984 als einer der Hauptverdächtigen galt. Da er jedoch den Lügendetektortest mit Bravour bestand, ließ die Polizei wieder von ihm ab, und die entsetzliche Mordserie ging weiter.

In der Bundesrepublik wurde der Einsatz des Polygrafen in Strafprozessen bereits 1954 verboten, unter anderem mit dem Argument, dass der Test gegen die Menschenwürde verstoße. 1998 hielt der Bundesgerichtshof (BGH) in einem neuen Urteil diesen Vorwurf zwar für unbegründet, sofern der Test freiwillig sei. Dennoch lehnten die BGH-Richter den Polygrafen als Beweismittel in Gerichtsverfahren wegen mangelnder Verlässlichkeit der Ergebnisse ab.

Zu jener Zeit hatten Wissenschaftler längst neue Methoden entwickelt, um an der Hirnaktivität selbst ablesen zu können, ob jemand lügt oder nicht. Eine wichtige Entdeckung hierzu gelang 1991 den US-Psychologen Lawrence Farwell und Emanuel Donchin. Sie beobachteten, dass bei Menschen, die nachweislich die Unwahrheit sagten, rund 300 Millisekunden später im Elektroenzephalogramm (EEG) ein auffälliger Peak entstand. Davon ausgehend machten einige Wissenschaftler sogleich den Vorschlag, die Schuld oder Unschuld von Verdächtigen anhand solcher P300-Peaks nachzuweisen. Ein Beispiel: Jemand wird des Mordes beschuldigt, bestreitet die Tat aber hartnäckig. Daraufhin konfrontiert man ihn im Verhör mit 20 Begriffen, von denen fünf die Besonderheiten der Tat beschreiben. Synchron dazu misst ein Psychologe das EEG des Beschuldigten. Kennt dieser den genauen Hergang der Tat, wird bei den fünf verfänglichen Begriffen in seinem Hirnstrombild automatisch der P300-Peak auftauchen. Allerdings hat auch diese Methode ihre Tücken. Sie funktioniert nämlich nur, wenn die Testpersonen kooperieren, was bei realen Verhören wohl nicht unbedingt zu erwarten ist.

Die modernste Form des Lügendetektors fußt auf der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Bei diesem bildgebenden Verfahren wird der stoffwechselbedingte Blutfluss in verschiedenen Hirnarealen gemessen, wobei eine stärkere Durchblutung als Indiz für eine erhöhte neuronale Aktivität des betreffenden Areals gilt. Zwar wurde bei solchen Untersuchungen im Gehirn kein separates »Lügenzentrum« gefunden. Dennoch halten es Wissenschaftler für erwiesen, dass eine Lüge unser Gehirn in einen anderen Aktivitätszustand versetzt als die Wahrheit. Denn Lügen ist kognitiv aufwendiger, da wir stets im Gedächtnis behalten müssen, welche erfundenen Geschichten wir anderen bereits mitgeteilt haben.

Bei Menschen, die lügen, so stellte der US-Neurologe Daniel Langleben fest, ist der präfrontale Cortex besonders aktiv, also jener Bereich des Gehirns, der unter anderem dazu dient, unerwünschte Reaktionen zu unterdrücken. Lügen wäre demnach ein Prozess, bei dem unser Gehirn zunächst die wahre Information verarbeitet, sie anschließend unterdrückt und zuletzt in ihr Gegenteil verkehrt. Für Langleben besteht mithin kein Zweifel: »Die Wahrheit ist der kognitive Grundzustand unseres Gehirns.« Denn auch ein Lügner müsse jederzeit den wahren Sachverhalt vor seinem geistigen Auge haben, um sich nicht selbst zu verraten.

In den USA wurden inzwischen sogar zwei Firmen gegründet, »No Lie MRI« und »Cephos Corporation«, die vollmundig versprechen, sie könnten anhand von fMRT-Bildern die Wahrheit mit hoher Zuverlässigkeit von einer Lüge unterscheiden. Das mag unter idealen Laborbedingungen vielleicht funktionieren. Sofern der Test jedoch dazu dient, einen Menschen als Straftäter zu überführen, dürften selbst Unschuldige so gehörig in Stress geraten, dass der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen nicht mehr sicher festgestellt werden kann. »Auch ein verbrecherischer Soziopath ohne Unrechtsgefühl kann mittels fMRT nicht überführt werden, ebenso wenig wie ein Terrorist, der in der Regel von seinen Anstiftern einer Gehirnwäsche unterzogen wurde«, sagt der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke. Da Terroristen überdies Handlungen für moralisch legitimiert halten, die gewöhnlich als Verbrechen gelten, wäre für ihre präventive Erfassung ein Hirnscan kaum geeignet.

2009 kam die fMRT-Methode im US-Bundesstaat Illinois erstmals vor Gericht zum Einsatz. Um darzulegen, dass der mehrfache Mörder und Vergewaltiger Brian Dugan nicht zurechnungsfähig sei, berief sich die Verteidigung auf dessen Hirnbilder, die schwere Defizite in den emotionsverarbeitenden Arealen offenbarten. Weil der Richter jedoch befürchtete, dass die Geschworenen durch diese Bilder suggestiv beeinflusst werden könnten, durften sie im Gerichtssaal nicht gezeigt, aber immerhin von einem Gutachter erklärt werden.

Nachdem das geschehen war, präsentierte die Anklage ein Gegengutachten, das den Einsatz der fMRT-Bilder im konkreten Fall für unzulässig erklärte. Denn erstens sei Dugans Gehirn nicht zum Zeitpunkt seiner Untaten, sondern erst Jahre später untersucht worden. Und zweitens erlaube die fMRT nur statistische Aussagen über Gruppen von Personen. Bei einem einzelnen Menschen sei es dagegen prinzipiell unmöglich, aus dem Hirnscan dessen Geisteszustand abzuleiten. Offenkundig verfehlten diese Argumente auch bei den Geschworenen ihre Wirkung nicht: Sie verurteilten Dugan zum Tode. Allerdings wurde das barbarische Urteil nicht vollstreckt, sondern nach der Abschaffung der Todesstrafe in Illinois 2011 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.