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© dpaViele Industriechemikalien sind nicht da­raufhin untersucht, ob sie die Entwicklung des Gehirns beim Fetus schädigen.
Von Daniela Biermann / Chemikalien sollten besser auf ihr neurotoxisches Potenzial getestet werden als bislang, fordern zwei renommierte Toxikologen im Fachjournal »The Lancet«. Ihnen zufolge steigt die Zahl der Umweltgifte, die Auswirkungen auf die kindliche Hirnentwicklung haben, immer weiter an. Eine globale Präventionsstrategie sei nötig.

Die Folgen der Exposition gegenüber diesen Giftstoffen seien Störungen wie Autismus, ADHS, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder auch zerebrale Lähmung, schreiben Dr. Philippe Grandjean von der Harvard School of Public Health in Boston und Dr. Philip Landrigan von der Mount-Sinai-School of Medicine in New York. Sie sprechen von einer »stillen Epidemie«; eines von sechs Kindern weltweit sei bereits betroffen. »Unsere große Sorge ist, dass Kinder weltweit unbekannten toxischen Chemikalien ausgesetzt sind, die lautlos die Intelligenz aushöhlen, Verhaltensweisen stören, zukünftige Erfolge verhindern und Gesellschaften schädigen, vielleicht am schwerwiegendsten in Entwicklungsländern.«

Zwischen 2006 und 2014 habe sich die Anzahl bekannter Chemikalien, die neurologische Entwicklungsstörungen auslösen können, von fünf auf elf erhöht, darunter Schwermetalle, Fluoride, Pestizide und Lösungsmittel. Eine Analyse in 2006 hätte fünf Neurotoxine identifiziert: Blei, Methylquecksilber, polychlorierte Biphenyle, Arsen und Toluol. Seit dieser Analyse hätten epidemiologische Studien sechs zusätzliche Entwicklungsneurotoxine dokumentiert: Mangan, Fluorid, Chlorpyrifos, Dichlordiphenyltrichlorethan, Tetrachlorethen und polybromierte Diphenylether.

Industrie in der Bringpflicht

Mittlerweile seien 214 Substanzen bekannt, die das Gehirn schädigen können. Es sind Chemikalien, die sich auch in Kleidung, Spielzeug und Möbeln finden lassen. Grandjean und Landrigan vermuten, dass noch zahlreiche weitere Stoffe neurotoxisch wirken können. Denn die Mehrheit der 80 000 Indus­triechemikalien, die in den USA eingesetzt werden, seien nicht auf eine mögliche schädigende Wirkung auf den Fetus oder das Kind untersucht worden. Die Substanzen könnten bei Kindern schon in sehr viel geringeren Dosen schädlich wirken, als dies bei Erwachsenen der Fall ist.

Die Zulassung neuer Industriechemikalien wird laut Autorenaussage weitaus laxer gehandhabt als die Zulassung von Arzneimitteln. Sie fordern nun, dass die Industrie zunächst die Unbedenklichkeit neuer Chemikalien nachweisen muss, inklusive der Wirkung auf die neuronale Entwicklung, bevor sie verwendet werden dürfen. Für bereits verwendete Chemikalien müsse dies ebenso geschehen. Grandjean und Landrigan sehen hier die Industrie in der Bringpflicht. Derzeit müssten Behörden nachweisen, dass es einen schädlichen Effekt gibt, bevor der Einsatz bestimmter Chemikalien eingeschränkt werden kann.