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© Lutz KleinhansAuschwitzprozess 1963: Die Verfolgung von SS-Wachleuten war schon damals schwierig. Heute ist es ein Mühsal.
Zwei Frankfurter sollen Wachleute in Auschwitz gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob sie sich auch fast 70 Jahre nach Kriegsende noch vor Gericht verantworten müssen.

Wenn Herr X und Herr Y irgendwann vor einer Frankfurter Jugendstrafkammer sitzen, weil sie während des Zweiten Weltkrieges, 17 und 20 Jahre alt, im Konzentrationslager Auschwitz Wache hielten, dann sollen keine Überlebenden des Lagers aussagen müssen. Keiner soll sich den Tort antun müssen, wie es ehemaligen Häftlingen in den Auschwitzprozessen Anfang der sechziger Jahre abverlangt worden war: ihre Peiniger nach all der Zeit genau zu identifizieren, sich zu erinnern, wer wann Menschen totgeschlagen oder ins Gas getrieben hat. Dieses Mal, so hofft es die Staatsanwaltschaft, wird es auch so gehen.

Den letzten überlebenden mutmaßlichen Tätern der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg den Prozess zu machen ist ohnedies eine Mühsal - und es ist ungewiss, ob es gelingt. Deutschlandweit werden zurzeit 30 Verfahren gegen Männer geführt, die der Waffen-SS angehört haben sollen und den Kompanien, die Auschwitz bewachten. Ihnen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Was historisch und moralisch so klar ist wie wenig sonst, ist juristisch kniffelig: Das Einzige, was den Männern heute noch nachgewiesen werden kann, ist ihr Dienst im Lager zu einer Zeit, als dort Deportationszüge ankamen. Bei keinem der Männer, gegen die jetzt ermittelt wird, geht es um eigene Schüsse, um selbstgeführte Schläge, um persönliche Grausamkeiten. Es geht nur ums Dabeigewesensein. „Der klägliche Rest der Feststellungen, die jetzt noch gemacht werden können“, nennen sie das bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt.

Warum erst jetzt?

Ende Februar wurden in ganz Deutschland Wohnungen von alten Männern durchsucht, weil ihnen Mittun an den Verbrechen der Nationalsozialisten vorgeworfen wird. Diese Verbrechen sind überhaupt der Grund dafür, dass Mord in Deutschland grundsätzlich nicht verjährt. Die Zentralstelle zur Bekämpfung der Nazi-Verbrechen gibt es schon seit mehr als 50 Jahren, sie hat ihren Sitz in Ludwigsburg. Nach dem Urteil des Münchner Landgerichts gegen den Sobibor-Wachmann John Demjanjuk im Mai 2011 haben die Staatsanwälte in Ludwigsburg gegen 50 noch lebende Auschwitz-Wachmänner Ermittlungen eingeleitet. Bei einigen hat sich der Vorwurf erhärtet, einige sind inzwischen gestorben. Übrig waren im September vergangenen Jahres noch 30 Verfahren, die Akten wurden an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften übergeben. Die Männer sollen, falls das gelingt, in der Nähe ihres Wohnortes vor Gericht gestellt werden. Zwei sind es in Hessen, beide Männer leben in Frankfurt.

Warum erst jetzt? Der Fall Demjanjuk, so sagen sie es bei der Zentralstelle, hat die juristische Sicht auf die Verbrechen in Konzentrationslagern verändert: Obwohl dem 1920 geborenen Mann keine konkrete Tat zugeschrieben werden konnte, wurde er vom Landgericht München zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen sei, wie es im Urteil heißt. 1969 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) im Falle von Auschwitz noch entschieden, dass es eben nicht reiche, jemanden zu verurteilen, nur weil er dabei war. Es brauche eine konkrete Tat. Für die Zentralstelle war das Demjanjuk-Urteil deshalb ein Paradigmenwechsel: Bis dahin hatte sie bei einigen längst bekannten Auschwitz-Wachleuten mit Verweis auf das BGH-Urteil keine Chance für eine Anklage gesehen.

Wachdienst kaum geschichtlich erforscht

Die beiden Männer, gegen die in Frankfurt ermittelt wird, sollen in den Jahren 1942, 1943 und 1944 zur Wachmannschaft des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gehört haben. Sie sind, anders als drei Männer aus Baden-Württemberg, nicht in Untersuchungshaft genommen worden, weil laut Staatsanwaltschaft keine Haftgründe wie etwa Fluchtgefahr vorliegen: Die Männer haben keine Verwandtschaft im Ausland, leben seit rund 50 Jahren ohne Wohnortswechsel in Frankfurt.

Während zu den Leiden der Opfer in Konzentrationslagern schon vieles gesagt wurde, viele Haupttäter der Vernichtung, so sie denn nach 1945 noch lebten, schon bestraft worden sind, sei der „gewöhnliche Wachdienst“ in Auschwitz erstaunlich schlecht erforscht, sagen sie bei der Staatsanwaltschaft. Sicher sind nur einige Eckdaten: Zu einer Kompanie gehörten etwa 100 bis 150 Leute. Die Männer hatten sich freiwillig zum Lagerdienst gemeldet. Die meisten von ihnen wechselten zum Ende des Krieges in die Wehrmacht. Und in den Akten der Wehrmacht finden sich heute noch am häufigsten Hinweise auf die Tätigkeit der Männer in Auschwitz. Dieser Umweg ist bei der Aufklärung oft nötig, da viele der Unterlagen der Waffen-SS und in den Konzentrationslagern von den Nationalsozialisten selbst vernichtet worden sind.

Bewertung des Falls schwierig

Kommen jetzt also, im hohen Alter, vielleicht noch einmal zwei Frankfurter Täter vor Gericht, weil es vor drei Jahren gelungen ist, John Demjanjuk zu verurteilen? Bei der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt, die die Ermittlungen zu den zwei Männern aus Hessen führt, sehen sie das anders. Demjanjuk habe die Thematik zwar wieder ins Bewusstsein der Justiz geholt, sagt die Leiterin, ein Entschluss, „jetzt versuchen wir es noch einmal“, sei das gewesen. Rechtlich aber habe sich seit dem Urteil gegen den Wachmann aus dem Vernichtungslager Sobibor nichts getan, die Sache sei, wie sie war: kniffelig. Schon immer hat die Justiz in der ihr eigenen Art und Notwendigkeit, auch das größte Grauen noch zu klassifizieren, bei der Strafverfolgung zwischen zwei Lagertypen unterschieden: zwischen reinen Vernichtungslagern wie Sobibor, Treblinka und Belzec und eben solchen wie Auschwitz.

Während Auschwitz-Birkenau auch ein reines Vernichtungslager war, gilt das für Auschwitz II, dem Arbeitslager, nicht - deshalb ist die juristische Bewertung für Auschwitz insgesamt schwierig. Der BGH-Beschluss von 1969 stehe zumindest für Auschwitz II - der Fall Demjanjuk hin oder her - also noch immer im Raum, so die Meinung bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft. Zwar sollen die beiden Frankfurter, gegen die ermittelt wird, im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Wache gehalten haben. Aber selbst wenn ihnen das nachgewiesen werden kann: Gegen das Demjanjuk-Urteil haben dessen Verteidiger und die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt - bevor darüber entschieden werden konnte, starb Demjanjuk. Ob das, worauf nun die Anklage gegen die noch lebenden Wachmänner aufgebaut werden soll, der Gedanke also, dass, wer da war, auch schuld ist, höchstrichterlich Bestand haben würde, ist deshalb auch im Falle eines reinen Vernichtungslagers ungeklärt.

Männer sind 89 und 92 Jahre alt

Bei der Frankfurter Polizei wird gerade eine Arbeitsgruppe zusammengestellt, die die Ermittlungen in der Auschwitz-Sache koordinieren soll. Die Arbeit in dem Fall sei ungewöhnlich, sagt die zuständige Staatsanwältin. Bei gewöhnlichen Verbrechen werden Zeugen befragt, Spuren gesichert. In diesem Fall geht es vor allem in die Archive. Einige davon, im Osten Europas, sind unsortiert oder erst kürzlich geöffnet worden. Im Büro der Staatsanwaltschaft stehen die monumentalen Auschwitz-Chroniken der polnischen Autorin Danuta Czech. Darin ist für jeden einzelnen Tag zwischen 1939 und 1945 aufgelistet, was in Auschwitz geschah: wie viele Tote es gab, ob Züge ankamen, welcher Sturmbannführer im Einsatz war. Die Originalquellen für das Buch versuchen die Ermittler nun aufzutreiben, um die Daten mit den Tagen und Zeiten abzugleichen, an denen die verdächtigen Wachmänner im Lager waren. Ein Puzzlespiel, bei dem schnell nichts mehr zueinanderpassen kann, wenn etwa einer beweisen kann, er sei an einem bestimmten Tag, an dem Deportationszüge angekommen sind, krank gewesen.

Wann darüber entschieden wird, ob gegen die beiden Männer, die in Frankfurt leben, Anklage erhoben wird, ist ungewiss. Wahrscheinlich ist, dass es eher um Monate als um Wochen geht. Beispielsweise muss die Staatsanwaltschaft noch ein Rechtshilfegesuch nach Polen schicken, und die Zusammenarbeit mit Behörden im Ausland ist naturgemäß besonders zeitaufwendig. Ob die Männer, die jetzt 89 und 92 Jahre alt sind, noch leben, wenn Staatsanwaltschaft und Polizei fertig sind, ob sie verhandlungsfähig sein werden, ist fraglich. Aber selbst wenn es nicht gelingen sollte, fast 70 Jahre nach Kriegsende noch jemanden für seine Taten zu bestrafen: Wenigstens haben wir es noch einmal, zum letzten Mal, versucht, sagen sie bei der Staatsanwaltschaft.