Kugelhagel in Kiew. Als am 20. Februar bis zu 100 Menschen durch das wohl größte Massaker in Europa seit Jahrzehnten starben, war es der Startschuss zum Pro-NATO-Putsch. Und für die Opposition und ihre westlichen Unterstützer der Beweis für die entmenschte Brutalität „des Regimes“, der Regierung des damaligen Präsidenten Victor Janukowitsch. Generalstaatsanwaltschaft und Übergangsregierung hatten sich jüngst auf die Schuld der früheren Führung festgelegt und zwölf Angehörige der Polizei-Sondereinheit Berkut als Hauptschuldige präsentiert.


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© Mstyslav Chernov; CC-BY-SA 3.0Opfer der Scharfschützen werden im Hotel Ukraine provisorisch aufgebahrt
Nach Recherchen der ARD - eines unverdächtigen Senders, was irgendwelche Sympathien zu Janukowitsch oder Russland angeht - erscheint die offizielle Version jedoch mehr als fragwürdig. Ein hochrangiges Mitglied des Ermittlerteams der ukrainischen Regierung, der an den Untersuchungen beteiligt ist, zieht die Aussagen der Generalstaatsanwaltschaft in Zweifel. Der Ermittler, der anonym bleiben will, berichtet das ARD-Magazin "Monitor" in einer Vorabinformation: “Meine Untersuchungsergebnisse stimmen nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft in der Pressekonferenz erklärt hat.” Dem Sender liegt demnach ein Mitschnitt des Funkverkehrs von Scharfschützen vor, die dem Lager von Ex-Präsident Janukowitsch zuzurechnen sind und am Vormittag des 20. Februar offenbar auf verschiedenen Dächern im Zentrum von Kiew stationiert waren. Dort fragt ein Scharfschütze seinen Kollegen: “Wer hat da geschossen? Unsere Leute schießen nicht auf Unbewaffnete.” Kurze Zeit später sagt ein anderer: “Den hat jemand erschossen. Aber nicht wir.” Und dann: “Gibt es da noch mehr Scharfschützen? Und wer sind die?” Auf Videos ist außerdem zu erkennen, dass die Oppositionellen auf der Institutska-Straße nicht nur aus Richtung der Regierungsgebäude beschossen wurden, sondern auch vom Hotel “Ukraina”, das in ihrem Rücken lag. Das Gebäude befand sich aber fest in der Hand der Opposition, die scharfe Einlasskontrollen durchführte. Auch die Anwälte von Angehörigen und Verwundeten erheben schwere Vorwürfe gegen die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft. Die bisherigen Ergebnisse der Ermittlungen würden ihnen fast komplett vorenthalten. “Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht richtig. Die decken ihre Leute, die sind parteiisch, so wie früher.”

Der Bericht bestätigt jedoch nur, was bereits bislang vermutet - und von COMPACT bereits in der Ausgabe 4/2014 veröffentlicht wurde. Im Artikel Tagebuch eines Putsches schreibt Jürgen Elsässer unter anderem:

„Die Attacke begann um 8 Uhr morgens - pünktlich zur selben Zeit, als der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Kiew landete. Zusammen mit seinen Amtskollegen, dem Polen Radislaw Sikorski und dem Franzosen Laurent Fabius, wollte er einen letzten Versuch zur Friedensstiftung starten. Zuerst traf sich das Trio mit den Oppositionsführern Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleh Tjahnybok, dann vier Stunden lang mit dem Präsidenten. «Janukowitsch zeigte sich erstaunlich kompromissbereit», resümiert die Frankfurter Allgemeine. Doch während in unterschiedlichen Zusammensetzungen verhandelt wurde, steigerte sich die Gewalt im Stadtzentrum zum blutigen Inferno. Scharfschützen rund um den Maidan forderten den höchsten Blutzoll seit Beginn der Unruhen, am Ende zählt man mindestens 70 Leichen. In der ARD-Tagesschau hieß es um 20 Uhr: «Zur Stunde ist nicht klar, wer das Feuer heute nach der gestrigen Waffenruhe eröffnet hat. Klar ist nur, dass das Feuergefecht begann, als die Demonstranten ihre von der Polizei geräumten Stellungen wieder einnahmen.»

Zwei Tage später las man in der FAZ zum ersten Mal eine Erklärung für die Todesschüsse. Der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk, ein Anhänger der Opposition, sagte: «Es gibt Videos, die zeigen, dass dieselben Scharfschützen sowohl die Demonstranten, als auch die Polizisten beschossen haben.» Ähnliche Beobachtungen hatten auch andere gemacht. «Am Tag nach den Ereignissen, dem 21. Februar, erklärte die Parlamentsabgeordnete Inna Bogoslowskaja, sie habe ein Video gesehen, wie Scharfschützen in Uniform der Sondereinheit Berkut aus Kalaschnikows mal auf Demonstranten, mal auf Polizisten feuerten. Aber sie war sich sicher, dass es keine Berkut-Polizisten waren,» berichtete welt.de - allerdings erst mit fast zwei Wochen Verspätung am 6. März. Frau Bogoslowskaja war insofern glaubwürdig, als sie die regierende Partei der Regionen im Dezember 2013 verlassen und Janukowitsch scharf kritisiert hatte.

Richtig in Fahrt kam die Debatte um die ominösen Scharfschützen erst, nachdem anonyme Hacker am 5. März den Mitschnitt eines Telefonats veröffentlichten, das der estnische Außenminister Urmas Paet mit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am 26. Februar geführt hatte. Paet berichtete dabei über sein Treffen mit der Ärztin Olga Bogomolez, die am 20. Februar Opfer in einer improvisierten Notaufnahme im Hotel Ukraina versorgt hatte. «Olga hat mir erzählt, dass alles darauf hinweist, dass die Personen, die von den Scharfschützen erschossen wurden, auf beiden Seiten, also Polizisten und Leute von der Straße, dass es dieselben Scharfschützen waren, die die Leute von beiden Seiten getötet haben. (...) Sie zeigte mir dann auch ein paar Fotos und sagte, dass sie als Ärztin sagen kann, dass es die gleiche Handschrift ist, die gleiche Art von Munition, und es ist wirklich besorgniserregend, dass die neue Koalition nicht gewillt ist zu untersuchen, was genau passiert ist. Somit wird der Verdacht verstärkt, dass hinter den Scharfschützen nicht Janukowitsch stand, sondern jemand aus der neuen Koalition.» Paet bedauerte, dass die neue Regierung das nicht untersuchen will, «darum verbreitet sich die Meinung immer stärker, dass hinter den Scharfschützen nicht Janukowitsch steckt, sondern jemand aus der neuen Koalition».“

Es verwundert nicht, dass die EU der Sache natürlich nicht weiter nachgegangen ist. Lady Catherine ging zur Tagesordnung über.

Übrigens: Interessant ist auch eine geleakte Mail des einstigen Favoriten Berlins unter den Euromaidan-Demokraten und Zögling der Konrad-Adenauer-Stiftung, Vitali Klitschko, an den litauischen Präsidentenberater vom 9. Januar 2014: «Laurynas, ich denke, wir haben den Weg geebnet für eine radikalere Eskalation der Situation. Ist es nicht an der Zeit, entschiedenere Aktionen anzugehen? Ich will auch, dass Du die Möglichkeit einer stärkeren Finanzierung in Betracht ziehst, um unsere Unterstützer für ihre Dienste zu bezahlen.»

  • Viele weitere brisante Details über den Putsch und seine Hintermänner finden Sie in COMPACT 4/2014. Diese Fakten können jedoch nur veröffentlicht werden, weil COMPACT unabhängig ist. Stärken Sie den Mut zur Wahrheit deshalb auch mit einem Abo.