Mit einem massiven Polizeiaufgebot haben die Berliner Behörden am Dienstag begonnen, ein von Flüchtlingen besetztes ehemaliges Schulgebäude im Stadtteil Kreuzberg zu räumen. Zugleich entblödeten sich die Vertreter des Bezirksamtes nicht, den Fakt zu leugnen. In der Tageszeitung junge Welt wird Baustadtrat Hans Panhoff (Bündnis 90/Grüne) mit den Worten zitiert, es werde »nicht geräumt«, sondern lediglich Gespräche mit den Flüchtlingen und den Roma-Familien geführt, um diesen ein Angebot des Bezirks zu erklären. Für die Betroffenen stünden demnach zwei Unterkünfte in Spandau und Charlottenburg bereit. Wie lange der Bezirk das Angebot aufrechterhält und wie lange die Unterkünfte bezahlt werden, darüber mochte er keine Auskunft geben. Ob die aufgebotenen neun Hundertschaften der Polizei für eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre sorgen konnten, war ebenfalls zu bezweifeln. Bis zu 70 Menschen weigern sich bislang - Stand: Donnerstagmorgen - das Gebäude zu verlassen. Das ist auch eine Reaktion darauf, dass die Behörden in der Vergangenheit unter anderem den Flüchtlingen vom Oranienplatz Zusagen gemacht hatte, die anschließend gebrochen wurden.
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Die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) fordert in einer Erklärung den sofortigen Rückzug der Polizei und solidarisiert sich mit den Flüchtlingen und den auf dem Dach des Gebäudes ausharrenden Besetzern. In dem Statement heißt es:

»Der Polizeieinsatz gegen die Flüchtlinge in der Schule in der Ohlauer Straße ist ein politischer und menschlicher Skandal. Statt sich um das berechtigte Anliegen der Flüchtlinge auf ein menschenwürdiges Leben, und dazu gehört ein gesicherter Aufenthaltsstatus, das Recht zu arbeiten und damit sein Leben selbständig organisieren zu können, zu kümmern, setzte die Berliner und Kreuzberger Politik und Verwaltung gestern auf gewaltsame Eskalation.

Nach dem ein Großteil der Bewohner_innen der Schule in Bussen in andere Quartiere und in eine sehr ungewisse Zukunft abtransportiert wurde, harren verzweifelte, aber auch sehr entschlossene Flüchtlinge auf dem Dach der Schule aus, um ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben zu verteidigen. Wir fragen uns besorgt: Wird die Polizei mit einer gewaltsamen Räumung des Daches das Leben der Flüchtlinge riskieren?

Wir fordern den sofortigen Rückzug der Polizeikräfte aus der Schule und der Ohlauer Straße. Wir fordern eine Verhandlungslösung an deren Ende eine gesicherte Zukunftsperspektive für die Flüchtlinge stehen muss!

Unsere Organisation wurde von Menschen gegründet, von denen viele aus Deutschland vor den Nazis flüchten mussten. Sie wissen wie wichtig eine freundliche Aufnahme in den Zufluchtsländern ist. Den Flüchtlingen sei versichert, dass die Verfolgten des Naziregimes von ganzem Herzen an ihrer Seite stehen!

An alle Berliner_innen geht die Bitte den Kampf der Flüchtlinge auch vor Ort in der Ohlauer Straße zu unterstützen.«

Auch der Flüchtlingsrat Berlin erläutert die entstandene Lage: »In Abstimmung mit dem Senat hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die BewohnerInnen der Gerhart Hauptmann Schule aufgefordert, das Gebäude zu verlassen und stattdessen in zwei Sammelunterkünfte für Flüchtlinge zu ziehen. Viele lehnen dies ab, denn es ist völlig unklar, was dann mit ihnen geschieht. Der Flüchtlingsrat Berlin fordert Senat und Bezirk auf, den heute begonnenen Polizeieinsatz sofort zu beenden und den BewohnerInnen der Schule sowie den Oranienplatz-Flüchtlingen ein faires und transparentes Angebot zu unterbreiten. Dazu gehört ein Aufenthaltsrecht in Berlin. Zudem muss die Gerhart-Hauptmann-Schule als selbstorganisiertes Zentrum des Flüchtlingsprotests erhalten bleiben.

Nur wenn die Flüchtlinge eine aufenthaltsrechtliche Perspektive und Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, löst sich ihre prekäre Situation. Das Aufenthaltsgesetz bietet der Berliner Ausländerbehörde zahlreiche Möglichkeiten, den Flüchtlingen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen. Dies ist allein eine Frage des politischen Willens.

Es ist nicht verwunderlich, dass viele BewohnerInnen der Schule Bezirk und Senat misstrauen, denn durch den unehrlichen Umgang der staatlichen Stellen mit den Oranienplatz-Flüchtlingen haben diese das Vertrauen der Flüchtlinge verspielt. So hat der Senat sich nicht an die Zusagen gehalten, die den Oranienplatz-AktivistInnen gegeben wurden:

Vereinbart war, dass alle Unterkunft und Versorgung erhalten sollen. Untergebracht wurde jedoch nur ein Teil der Betroffenen. Der Senat verweigert aber auch den untergebrachten Flüchtlingen rechtswidrig die Krankenversorgung. Die Dauer der Unterbringung und Leistungsgewährung ist völlig unklar. Die Flüchtlinge erhalten Leistungen über die Heimbetreiber oder die Kreuzberger Bezirkskasse ohne Bescheid und ohne Angabe der zuständigen Leistungsbehörde. Der Senat bezeichnet diese Zahlungen als „freiwillige“ Leistungen - obwohl die Flüchtlinge nach §§ 1 Abs 1 Nr. 5, §§ 3 und 4 Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch auf Unterkunft, Versorgung und Krankenscheine haben, solange sie sich tatsächlich hier aufhalten.


Vereinbart war, dass für die Oranienplatz-Flüchtlinge ein Abschiebestopp gelten soll. Fakt ist, dass viele TeilnehmerInnen des Oranienplatz-Agreements akut von Abschiebung bedroht sind und der Senat ihnen keinen Schutz gewährt und sich auch weigert, Duldungsbescheinigungen auszustellen.

Vereinbart war eine wohlwollende Prüfung im Einzelfallverfahren sowie die Übernahme der ausländerrechtlichen Zuständigkeit durch die Ausländerbehörde Berlin (Umverteilung). Fakt ist jedoch, dass noch kein einziger Umverteilungsantrag bewilligt wurde und Innensenator Henkel regelmäßig betont, dass es keine besondere Behandlung für die Oranienplatz-Flüchtlinge geben wird. Gegenüber seinen Länderkollegen ließ er verlauten, dass Berlin sich nicht für zuständig erklärt.

Vereinbart war, dass alle TeilnehmerInnen des Oranienplatz-Agreements vom Senat finanzierte Deutschkurse erhalten. Fakt ist, dass drei Monate nach Verkündigung der Einigung noch kein Deutschkurs begonnen hat. Auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen erklärt der Senat, für 80 Personen Deutschkurse anbieten zu wollen - mindestens 300 Personen sind jedoch Teil des Agreements, ein Großteil ginge also leer aus.

Die Vereinbarung zwischen Senat und Oranienplatz-Flüchtlingen erweist sich damit als reine Farce. Solange der Senat den Flüchtlingen kein echtes Angebot mit einer realen Aufenthaltsperspektive in Berlin unterbreitet, wird es keine einvernehmliche Lösung für die Gerhart-Hauptmann-Schule geben. Sollten bei der Räumung der Schule Menschen zu Schaden kommen, ist dies nicht zuletzt auch eine Folge der verantwortungslosen Politik von Bezirk und Senat.«

Quellen: junge Welt, VVN-BdA, Flüchtlingsrat Berlin /