Unruhen in China sind von einer besonderen Qualität. Sie können mit einer solchen Wucht auf die oberste Staatsspitze durchschlagen, wie das für wenige andere Staaten gilt. Das muss niemand der chinesischen Staatsführung sagen. Das weiß sie. Spätestens seit den Ereignissen 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ist klar, um was es in China dabei geht.

Manch einer aus der damaligen Staatsspitze ist für die schrecklichen Folgen anschließend verantwortlich gemacht worden. Auch bei uns wurden dazu Namen genannt. Tatsache ist aber, dass der damalige und unbestrittene Führer der Volksrepublik China, der Genosse Deng Xiao Ping, bis in die weit entfernten Regionen des Riesenreiches seine Emissäre auf der Suche nach noch loyalen Militäreinheiten aussenden musste, damit diese gegen Peking und die demonstrierenden Menschenmassen eingesetzt werden konnten.

Zu eng waren die demonstrierenden Studenten mit der in China damals herrschenden Elite verbunden. Die höchsten Funktionsträger in Peking und den wichtigsten Städten Chinas wussten ihre Kinder auf den Pekinger Straßen. Sie verweigerten sich der Staatsführung in dem Bemühen, die Entwicklung auf dem berühmten Platz in Peking in den Griff zu bekommen.

Die Armee und weite Teile des Sicherheitsapparates waren schlichtweg nicht gegen die Kinder der Amtsinhaber aus der Entscheidungsebene der Militärspitze und des Sicherheitsapparates einsetzbar.

Deng und die damalige Führung suchten den Ausweg nach den blutigen Ereignissen darin, für die ökonomische Entwicklung Chinas die Schleusen zu öffnen. Der Erfolg blieb ihm dabei, anders als den Opfern in Peking gegenüber, nicht versagt. China entfesselte seine Leistungskraft in einem Maße, dass selbst nach dem Zusammenbruch der Lehmann-Brothers-Bank und dem westlichen Finanzchaos, China einen Großteil der Kräfte mobilisieren konnte, die uns auch in Deutschland vor dem Schlimmsten bewahrt haben. China blieb zusammen.

Sowohl in China als auch in dem Vielvölkerstaat Indien herrscht eine fast panische Angst davor, durchaus berechtigten Anliegen in verschiedenen Landesteilen nachzugeben, weil anschließend der Zusammenbruch der Riesenreiche China und Indien befürchtet wird. Es ist auch nicht so, dass von außen nicht alles unternommen wird, China in eine solche Lage zu manövrieren.

Es gibt in Japan einflussreiche Kräfte zu Hauf, die sich ein China vorstellen können, das aus sieben bis acht kleineren Chinas besteht. Wir hier finden den Dalai Lama bewundernswert sympathisch, viele hängen an seinen Lippen, wenn er in den Stadien der Republik zu ihnen spricht.

Dabei wird völlig ausgeblendet, wie intensiv die indischen Versuche gewesen sind, Tibet aus seiner strategisch wichtigen Position gegenüber Indien aus dem chinesischen Staatsverband zu lösen. Der tibetische Aufstand, an dessen Ende die Flucht des Dalai Lama nach Indien stand, war von eben diesem Indien angezettelt worden. Es gibt eine ausreichende Zahl US-amerikanischer Publikationen, die das Fehlen eines schwungvolleren amerikanischen Engagements während des Kalten Krieges zur Loslösung Tibets von China beklagen.

Dem wird heute abgeholfen, wie die Kooperation in Washington und München mit den uigurischen Kräften zeigt. Die Nachbarn der chinesischen Westprovinz Singkiang, wie Kasachstan, Kirgistan und andere, haben China versichert, nicht auf eine Lostrennung der Provinz Singkiang von China deshalb aus zu sein, weil dort jene Uiguren leben, die ihre Verwandten in Staaten wie Kasachstan und anderen Staaten haben. Das ist im Interesse der USA noch lange nicht gesagt. Es ist sogar für den Spiegel auffällig, welche Hintermänner die Anschlagserien in Singkiangs Hauptstadt Urumchi oder in Kunming an einem anderen Rand des Landes haben könnten.

Auffallend ist jedenfalls, dass immer dann, wenn in Europa Kriegsgefahr wächst, in China die Bomben hochgehen. Niemand wird diese Signale in Peking beiseiteschieben. Das war im Vorfeld des Jugoslawien-Krieges so und bei dem Bürgerkrieg in der Ukraine auch.

Die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums konnte einem fast leidtun, als sie vor der internationalen Presse die Warnung an andere Staaten verkündete, sich nur ja nicht in die Angelegenheiten Hongkongs und damit Chinas einmischen zu wollen. Das musste wohl gesagt werden, war aber in den Wind gesprochen.

Man muss sich in Anbetracht der Entwicklung, die vor der Rückgabe Hongkongs durch die britische Kolonialmacht an China bereits einsetzte, heute etwas ganz anderes fragen: In welchem Maße gibt es Pekinger Einfluss auf Hongkong? Von einem kann in Hongkong ausgegangen werden. Vor der Übergabe der Kronkolonie haben diejenigen, die es sich erlauben konnten, sich vor allem ins kanadische Vancouver oder ins kalifornische Los Angeles abgesetzt. Die Dinge haben sich nach der Rückkehr Hongkongs zum Mutterland besser entwickelt, als dies befürchtet worden ist.

Aber Hongkong ist von Vancouver oder Los Angeles nicht zu trennen und da stehen die Scheunentore offen. Staatsrechtlich ist Hongkong dem Mutterland im Sinne von »einem Staat und zwei Systemen« verbunden, aber es ist aus Gründen dieser Entwicklung offener als jemals zur britischen Zeit. Diese hat während ihrer Herrschaft vieles bewirkt, aber ein demokratisches Erbe mit nennenswerter Bedeutung nicht hinterlassen. Hongkong geht uns alle an. Auch deshalb, weil die Grundüberlegungen der Demonstranten der miesen Stimmung in unseren Staaten fast bis ins Detail entsprechen.