Nach der überraschenden Wahl des sprachwissenschaftlich trivialen Begriffs „Lügenpresse“ zum „Unwort des Jahres 2014“ (Analyse der Pressemitteilung), wählt die Wissensmanufaktur zum „alternativen Unwort des Jahres 2014“ den Kampfbegriff „Verschwörungstheoretiker“. Diese als Abwertung intendierte Bezeichnung für Menschen, die Modelle über illegitime, geheime Absprachen aufstellen, wird heute in der öffentlichen Kommunikation immer häufiger verwendet und zwar nicht mehr nur für diejenigen, die sich z.B. mit dem Kennedy-Attentat oder den Umständen des 11. September 2001 beschäftigen. Mittlerweile werden breite gesellschaftliche Gruppen durch dieses politische Schlagwort diskriminiert, wenn sie sich kritisch oder misstrauisch gegenüber Medien und Politik äußern. Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die aus der Verwendung dieses Begriffs entstehen, werden noch durch die widersprüchliche und irreführende Wortbildung verstärkt.
Conspiracy Theories
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Aus den rund 400.000 Google-Treffern, die mittlerweile unter diesem Suchbegriff gefunden werden (zum Vergleich des Verbreitungsgrades: Das Unwort des 20. Jahrhunderts „Menschenmaterial“ liefert rund 63.000, das Unwort des Jahres 2013 „Sozialtourismus“ 54.000), soll die beigefügte Auswahl einiger aktueller Beispiele aufzeigen, zu welchen Anlässen dieser Begriff unter anderem derzeit gebraucht wird:

  • Tagesanzeiger: (01.02.2014 „Der forsche Jungpolitiker [...] vertritt teilweise ein eigenartiges Weltbild und umgibt sich mit auffälligen Freunden. Manche von ihnen gehören zur umstrittenen Szene der Verschwörungstheoretiker.“)
  • rbb-online: (22.04.2014 „Hipster, Alt-68er und Verschwörungstheoretiker“)
  • fr-online: (27.04.2014 „Die Allianz der Verschwörungstheoretiker“)
  • Die Welt: (21.05.2014 „Das große Fressen für Verschwörungstheoretiker“)
  • taz: (20.08.2014 „Verschwörungstheoretiker, Rassisten und Pöbler“)
  • Süddeutsche: (03.11.2014 „Das Verfassungsgericht klingt wie ein Verschwörungstheoretiker“)
  • Tagesspiegel: (23.11.2014 „Egon Bahr und die Verschwörungstheoretiker“)
  • Die Welt: (05.12.2014 Die Opec ist ferngelenkt, der Goldpreis von unheimlichen Eliten manipuliert - in Zeiten des Umbruchs haben Verschwörungstheoretiker regen Zulauf. Dafür gibt es eine einfache Erklärung.)
  • Frankfurter Allgmeine: (09.12.2014 „Verschwörungstheoretiker formieren sich in Deutschland“)
  • Frankfurter Rundschau Online: (10.12.2014: „Pegida, Hogesa, NPD, AfD, Verschwörungstheoretiker - und mittendrin die Friedensbewegung: In Deutschland bilden sich derzeit erstaunliche Bündnisse. Links und rechts tun sich zusammen.“)
  • Der Spiegel: (11.12.2014 „Unter dem Motto "Friedenswinter" wollen am Wochenende Tausende auf die Straße gehen, das Bündnis versammelt Putin-Fans, Pazifisten und Verschwörungstheoretiker. Im Zentrum ihrer Kritik steht Bundespräsident Gauck.“)
  • taz: (11.12.2014 „Der Frieden der Wirrköpfe [... ] darunter auch Verschwörungstheoretiker, Antisemiten und Neurechte verschiedener Couleur“)
  • Zeit Online: (13.12.2014 „... daneben steht der Wagen der neuen Montagsmahnwachen, unter deren Dach sich verschiedenste Verschwörungstheoretiker und "Reichsbürger" versammeln“)
  • Tagesspiegel: (13.12.2014 „Verschwörungstheoretiker, Linke und Neonazis gegen Gauck“)
In diesen Beispielen kann man deutlich erkennen, dass eine öffentliche Ächtung von Einzelnen oder Gruppen durch den Begriff „Verschwörungstheoretiker“ stattfindet. Wer die erforderliche Zivilcourage für Meinungsäußerungen aufbringt, die von der öffentlichen (bzw. medial kommunizierten) Meinung abweichen, geht ein zunehmendes Risiko ein, dafür als „Verschwörungstheoretiker“ verurteilt und ins Abseits gedrängt zu werden. Die Folge ist eine wachsende Hemmschwelle für die Äußerung von Warnungen und Einwänden, die wie eine indirekte Zensur wirkt und somit Machtmissbrauch erleichtert und demokratische Prinzipien gefährdet. Dies geht im Extremfall sogar soweit, dass selbst das Verfassungsgericht von einer renommierten Zeitung beschuldigt wird, wie ein Verschwörungstheoretiker zu klingen, wenn es die Daten der Bürger vor der Regierung (der man doch vertrauen müsse) schützen will.

Die subtil irreführende und negative Wirkung des Begriffs „Verschwörungstheoretiker“ wird durch folgende Analyse der Wortbildung deutlich:
  1. Der Begriff „Verschwörung“ ist überwiegend negativ besetzt und wird mit geheimen Absprachen in Verbindung gebracht, die das Ziel haben, anderen zu schaden. Dementsprechend gibt es kaum Gruppen, die sich selbst so bezeichnen.
  2. Ein „Theoretiker“ kann ein Denker bzw. Kopfarbeiter sein oder jemand, der zwar etwas von der Theorie versteht aber wenig von der Praxis. Der Begriff ist neutral bis negativ besetzt. Ein Theoretiker wird allerdings grundsätzlich nicht als Gegner der Sache wahrgenommen, mit der er sich beschäftigt. Die Bezeichnung steht eher für jemanden, der etwas damit zu tun hat oder daran beteiligt ist, was z.B. durch einen Vergleich mit willkürlich gewählten, vergleichbaren Komposita hervorgeht: Kriegstheoretiker, Waffentheoretiker, Wirtschaftstheoretiker, Regierungstheoretiker, Universitätstheoretiker, Nazitheoretiker, Kirchentheoretiker usw.
Neben der eher negativen Besetzung der beiden Einzelbegriffe ergibt sich aus dem zweiten Aspekt eine sprachliche Verwirrung. Ein „Verschwörungstheoretiker“ kann unbewusst als jemand wahrgenommen werden, der an geheimen, illegitimen Handlungen beteiligt ist, auch wenn wir vom Verstand her eine andere Definition haben. Aus folgendem Auszug einiger aktueller Beispiele wird deutlich, dass diese subtile Wirkung nicht nur tatsächlich existiert, sondern sogar die breite öffentliche Kommunikation durchdrungen hat. Bei diesen Beispielen ist jeweils „Verschwörungstheoretiker“ gemeint, man schreibt jedoch „Verschwörer“ oder Entsprechendes:
  • Focus: (06.01.2014 „Verschwörer vermuten leere Goldtresore in den USA.“
  • Profil: (04.08.2014 „Verschwörer Heinz-Christian Strache [...] verbreitete eine ganze Reihe von Verschwörungstheorien.“)
  • Die Welt: (28.10.14 „Plattform für Verschwörer und Wirrköpfe“
  • The European (11.11.2014 „Angesichts der Heterogenität der Verschwörungsbewegung könnte man von einem Randphänomen ausgehen.“)
  • Wikipedia: (21.11.2014 „Michael Mross (* 1958 in Köln) ist ein deutscher Autor, Wirtschaftsjournalist, Moderator, Dokumentarist und Verschwörungsideologe.“)
  • Die ZEIT Online: (23.11.2014 „Das verschwörungsfreundliche Compact-Magazin lädt zur "Friedenskonferenz" und erklärt die Weltordnung.“)
  • Publikative.org: (23.11.204 „[...] dass er offenbar an bestimmte Theorien glaubt, die in der Verschwörungsszene durchaus beliebt sind.“)
  • Märkische Allgemeine Online: (23.11.2014 „Die korrespondierende Verschwörungstheorie ist [...] FortgeschritteneVerschwörer sagen nun [...]“
  • Wikipedia: (06.12.2014 „Amateurreporter der Verschwörungsbewegung «We Are Change Switzerland» (WAC)“
  • Der Spiegel Online: (07.10.2014 „Xavier Naidoo: Pop-Sänger richtet sich an Verschwörer-Klientel“)
  • n-tv: (13.12.2014 „Verschwörung für den Frieden“, [...] „Verschwörer-Mahnwachen“)
Aus diesen Beispielen geht deutlich hervor, dass sogar viele Journalisten der Leitmedien „Verschwörungstheoretiker“ als „Verschwörer“ wahrnehmen. Damit unterliegen sie der irreführenden Kommunikation, die durch den Gebrauch dieses Unworts bereits entstanden ist. In einigen dieser Beispiele vermuten die Autoren sogar eine Art „Verschwörung der Verschwörungstheoretiker“, womit sie sich - ihrem eigenen Sprachgebrauch entsprechend - eigentlich selbst als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnen müssten. Damit setzen sie der sprachlichen Verwirrung um dieses Schlagwort noch das i-Tüpfelchen auf.

Die Wahl des Begriffs „Verschwörungstheoretiker“ zum Kampfbegriff des Jahres 2014 kann zu einem entscheidenden Denkanstoß für diejenigen werden, die diesen Begriff entweder bewusst als Abwertung einsetzen oder gedankenlos verwenden, während sie sich der Wirkung von Sprache in der öffentlichen Kommunikation nicht bewusst sind. Ein großes Medienecho auf diese ausschlaggebende Wahl könnte eine grundlegende gesellschaftliche, hoffentlich selbstkritische Debatte auslösen, die einen richtungsweisenden Wandel in Richtung einer wertschätzenden Diskussionskultur und mehr Sprachbewusstsein bewirken kann.