Ein neuer fossiler Fund hat die vorherrschende wissenschaftliche Sicht der menschlichen Evolution erschüttert und könnte das entscheidende Bindeglied zwischen Affen und Menschen sein: Der neue Fund ist 400 000 Jahre älter als die bisher ältesten menschlichen Knochenfunde - vielleicht muss nun ein Großteil der Geschichte neu geschrieben werden.
Knochenfund erschüttert Evolutions-Lehre
© Screenshot Arizona State University
Seit Jahrzehnten waren die Wissenschaftler angesichts der noch klaffenden Lücke an Funden aus der Übergangszeit von Menschen, die noch gebückt und denen, die bereits aufrecht gingen, ratlos. Wer war dieser mysteriöse Vorfahre, der sich dem affenähnlichen Australopithecus mit der menschenähnlichen Gattung Homo anschloss? Möglicherweise finden wir nun eine Antwort. Es scheint, die ersten aufrechtgehenden Menschengab es schon vor 2,8 Millionen Jahren und nicht erst seit 2,3 Millionen Jahren.

Ein äthiopischer Student der Staatlichen Universität von Arizona (ASU) und die ihn begleitende Forschungsgruppe entdeckten den Unterkiefer mit fünf Zähnen 2013 in Äthiopien. Zum ersten Mal wurden nun die Forschungsergebnisse in zwei Fachzeitschriften gleichzeitig veröffentlicht, während eine dritte Zeitschrift die Ergebnisse dahingehend interpretiert, dass es sich bei dem Fund tatsächlich um ein Fundstück einer neuen Gattung und nicht um den Kiefer eines Homo habilis handeln könnte.

Die Knochenfunde gehören mit Sicherheit zur Abstammungslinie der Gattung Homo (von der wir heutigen Menschen die einzig verbleibenden Nachkommen sind), aber die Wissenschaftler sind sich noch im Unklaren darüber, welcher Gattung genau der Fund zuzuordnen ist. Möglicherweise könnte es sich auch um eine bisher völlig unbekannte Gattung handeln.

Das versteinerte Knochenstück wurde 400 Kilometer von der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba entfernt in der Afar-Senke in Nordostafrika gefunden. Man geht davon aus, dass die Überreste zuunseren Vorfahren gehörten, die in einer Zeit lebten, in der das heutige Trockengebiet noch ein Feuchtgebiet war, das von Flüssen durchzogen war und in dem vereinzelt Bäume Schatten spendeten.

Nicht weit entfernt von der neuen Fundstelle wurde 1974 Lucy, das berühmte Teilskelett eines vermutlich weiblichen Individuums der Gattung Australopitehcus afarensis der Homininen, gefunden, die zu den frühesten möglichen Vorfahren der Menschenfamilie zählt.

Der Übergang zwischen den beiden Gattungen beschreibt die Phase in unserer geschichtlichen Entwicklung, in der wir uns von der Vorgehensweise, Dinge mit Steinen zu zerschlagen, zu der intensiveren Nutzung unserer Gehirne zur Lösung der Probleme weiterentwickelten.

Es gab aber noch einen weiteren bekannten Vertreter dieser Übergangszeit, den Paranthropus, der etwas plumper und dessen Gehirn kleiner war und der kurz vor dem Übergang zur Gattung Homo auftrat.
»Bei den fossilen Funden klafft eine große Lücke für den Zeitraum von vor 2,5 Millionen Jahren bis vor drei Millionen Jahren - es gibt praktisch keine Funde aus dieser Zeit, die mit den Vorfahren der Gattung Homo in Verbindung stehen, obwohl viele Menschen danach suchen«,
sagte der Mitverfasser der Studie und einer der Leiter der Arbeitsgruppe, Brian Villmoar, von der Universität von Nevada, gegenüber Live Science.

Zum ersten Mal wurde nun diese Lücke von 700 000 Jahren zwischen den Homininen vom Typ Lucy und der Gattung Homogefüllt.
»Wir haben es hier mit einem kleinen Teil eines Puzzles zu tun, das die Tür für neue Arten von Fragen und Feldforschungen öffnet. Sodass wir nun darangehen können, weitere zusätzliche Belege zu finden, um diesen Zeitraum, über den nur wenig bekannt ist, zu erschließen«,
meinte der Direktor des ASU-Instituts für die Ursprünge des Menschen, William H. Kimbel in der Presseerklärung,
»Dieser Fund ist ein herausragendes Beispiel für ein Fossil einer Übergangszeit in einer wichtigen Phase der menschlichen Entwicklung.«
Aber auch dieser Fund und seine Bewertung stoßen auf Widerspruch. Einige Wissenschaftler erklärten, die Funde gehörten zu der bereits gutbekannten Gattung des Homo habilis, des bisherfrühesten Zweiges der Gattung Homo. Aber Bilder der Fundstücke in hoher Auflösung zeigen, dass es sich nicht um Teilstücke eines Exemplars der Gattung Homo habilis handelt und sie zu einem Wesen gehören, das kurz vor dieser Gattung entstand.

Im den heutigen Forschungsstand zu erreichen, waren Jahre intensiver Arbeit erforderlich. Die ersten Untersuchungen begannen 2002, wobei man unter allen Umständen vermeiden musste, bei der Untersuchung etwas zu zerstören.
»Wir brauchten letztlich 13 Jahre, um diesen [menschlichen Vorfahren] zu finden. Das bedeutet nicht, dass die ganze geleistete Arbeit bis zu diesem Punkt verschwendete Zeit war. Aber als wir diesen Kiefer entdeckten, waren wir alle sehr froh und glücklich, dass nach der ganzen Zeit tatsächlich ein konkretes Ergebnis feststand«,
erklärte Professor Chris Campisano, der ebenfalls zu den Verfassern der Studie gehört.

Eigentlich war man bei den Ausgrabungen davon ausgegangen, sozusagen Zeitgenossen von Lucy zu finden - und nicht etwas, das möglicherweise das entscheidende Bindeglied - das Missing Link - sein könnte.

»Wir sammelten zunächst Fossilien in dem Gebiet, wo der Kiefer schließlich 2012 gefunden wurde«fuhr Campisano fort, »Als uns klar wurde, wie alt die Sedimentschichten waren, hofften wir, möglicherweise weitere Versteinerungen der Gattung von Lucy zu entdecken und so herauszufinden, wie sich diese Abstammungslinie weiterentwickelte. Aber dann wurden wir mit dieser weitaus faszinierenderen Entdeckung belohnt.«

»Es war wirklich ein aufregender Moment ... Ich hatte viel Erfahrung in der Vermessung der Grabungsstellen und wusste, wo sich vermutlich Sedimente befinden würden. Ich erstieg ein kleineres Plateau und fand dieses Fossil direkt am Rande des Hügels«, berichtete der Student Chalachew Seyoum, der den aufregenden Fund machte.

Laut Professor Kaye Reed von der ASU wissen wir mit Sicherheit, dass dieses Wesen auf zwei Beinen ging und in Ostafrika lebte. Die Suche nach Antworten zur Ernährung und der Benutzung von Werkzeugen sind die weiteren logischen Untersuchungsbereiche, um zu verstehen, wie klug unser Vorfahr war. Entsprechend werden die Grabungen nach weiteren Fossilien in der gleichen Region durch die ASU fortgesetzt, um Antworten auch auf diese Fragen zu finden.

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