War Andreas Lubitz wahnhaft depressiv oder litt er unter einer Persönlichkeitsstörung? Psychoanalytiker M. Hilgers über die Notwendigkeit, eine Ferndiagnose zu stellen.

Germanwings
© Yves Malenfer/Ministre Interieur/dpaRettungskräfte bergen Teile der Germanwings-Maschine von Flug 4U 9525 (1. April 2015)
"Er inszenierte einen triumphalen Abgang"

ZEIT ONLINE:
Herr Hilgers, seit dem Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März sind fast vier Wochen vergangen. Wie haben Gesellschaft und Medien dieses Ereignis verarbeitet?

Micha Hilgers: Von Verarbeitung kann keine Rede sein, weder in der Öffentlichkeit und schon gar nicht bei den Angehörigen. Erlebt haben wir eine Achterbahn der Gefühle: Zunächst die Nachricht vom Unglück mit Spekulationen über mögliche technische Ursachen. Dann die Meldungen über einen willentlich herbeigeführten Absturz. Schließlich die Offenbarung einer psychiatrischen Vorgeschichte des Copiloten mit der dann folgenden einseitigen Verengung der Debatte auf eine Depression als Ursache. Es war eine Abfolge immer neuer Schocks. Verarbeitung dauert länger, bei den Angehörigen wird sie oft zum lebensbegleitenden Trauma.

ZEIT ONLINE: An diesem Freitag wird mit einem großen Trauerakt der Opfer gedacht. Kann er den Angehörigen Trost spenden?

Hilgers: Leid, Schmerz und Verzweiflung sind unermesslich. Eine staatliche Trauerfeier lindert nicht den Schmerz, erkennt ihn aber an. Wenn man überhaupt von Trost sprechen kann, dann ist diese Würdigung tröstlich, weil die Feier symbolisch die Leidtragenden in unsere Mitte nimmt.

ZEIT ONLINE: Als Konsequenz des Absturzes erwogen der bayerische Innenminister Hermann und der SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach Berufsverbote für depressive Taxifahrer, Busfahrer und Piloten.

Hilgers: Wenn das umgesetzt würde, ginge kein Mensch mehr zum Psychotherapeuten oder Psychiater. Solcher Populismus macht alles noch schlimmer. In Deutschland leben etwa drei bis vier Millionen Menschen mit Depressionen, von denen unzählige verantwortungsvolle Positionen ausfüllen: Chirurgen, Polizistinnen, Lokomotivführer, Politikerinnen. Will man die jetzt alle stigmatisieren oder stilllegen?

ZEIT ONLINE: Die zentrale Frage nach dem Absturz bleibt: Hat sich hier ein schwer depressiver Mensch verabschiedet?

Hilgers: Nein. Es hat sich ein Mensch verabschiedet, der offenbar depressive Symptome hatte, aber es ist unsinnig zu behaupten, dass eine Depression die alleinige Ursache für sein Verhalten war. Da müssen andere Faktoren dazukommen, ein Depressiver mit suizidaler Tendenz wählt keinen solchen Abgang. Depressive sind häufig mit Schuldgefühlen und Skrupeln belastet. Es sind gehemmte Menschen, die gerade nicht über diese aggressiven Potenziale verfügen; sie besitzen nicht die Hassgefühle, die sich gegen die ganze Welt richten wie bei einem Amoktäter.

ZEIT ONLINE: Fest steht, dass bei Andreas Lubitz in jungen Jahren eine Depression festgestellt worden war. Deswegen wurde auch die Pilotenausbildung unterbrochen.

Hilgers: Ja, es gab vermutlich eine schwere depressive Episode. Das bedeutet aber nicht, dass dies auch die Grunderkrankung war oder die einzige psychiatrische Erkrankung. Außerdem wurde die Diagnose schon in der Spätadoleszenz von L. gestellt. Wenn sich der Charakter eines Menschen noch formt, tut man sich schwer, bei einem Patienten zum Beispiel eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Man will junge Menschen nicht stigmatisieren und sie vor schwerwiegenden Diagnosen schützen. Die vor einigen Jahren bei L. gestellte Diagnose Depression bedeutet keineswegs, dass sie jetzt immer noch in der Form vorhanden war und dass sie ursächlich war.

ZEIT ONLINE: Wenn Sie die Depression nicht als ursächliche Grunderkrankung ansehen, wie erklären Sie dann, was passiert ist?

Hilgers: Es ist zu vermuten, dass eine Persönlichkeitsstörung vorlag. Eine Psychose, eine bipolare Störung oder wahnhafte Depression kann man ausschließen, weil man mit diesen Erkrankungen kein Flugzeug fliegen kann. Denn die Crew treffen, mit ihr vernünftig kommunizieren, den Check vor den Flügen machen, das Gerät mit dem Piloten gemeinsam fliegen, starten, landen, Kommunikation mit Towern und Lotsen. Das bedeutet hohe soziale Dichte mit Teamorientierung, Konzentration, Disziplin, Aufstehen in aller Herrgottsfrühe,Belastbarkeit über Stunden und formal geordnetes Denken. Glaubt jemand im Ernst, dass ein Mensch mit psychotischer Erkrankung oder wahnhafter Depression zu solch komplexen Leistungen über lange Zeit in der Lage ist? Allenfalls minutenweise. Für mich kommt deshalb nur eine Persönlichkeitsstörung infrage, die durchaus depressive Symptome enthalten kann.

ZEIT ONLINE: Was vermuten Sie?

Hilgers: Man muss sich den völligen Empathiemangel dieses Menschen vorstellen. Als die Maschine auf den Abgrund zuraste, muss er ja die Schreie gehört, die Panik gespürt haben. Der Aufwand, den L. wählte, spricht für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Das Gefühl der Größe, der Gottähnlichkeit, die Macht über Leben und Tod - das genießen diese Menschen. Er inszeniert den final-triumphalen Abgang als Herrscher über Leben und Tod. Und natürlich wusste er, dass wir, die Medien, die Gesellschaft, noch lange über sein Handeln reden würden. Großartige Phantasien über das Selbst in der Nachwelt gehören mit zu einer solchen Tat.

ZEIT ONLINE: Das sind erst einmal Spekulationen. Sie sind diesem Menschen nie begegnet. Ist es zulässig, per Ferndiagnose zu urteilen?

Hilgers: Es ist nicht nur zulässig, es ist notwendig, die vorliegenden Fakten zu bewerten. Wie sonst wollen Sie diese Tat eines offenbar schwer gestörten Menschen verstehen und erklären? Das sind wir auch den Opfern schuldig und den Angehörigen, die auf Erklärungen warten. Die Verengung der Diagnose auf die Depression ist wenig überzeugend und führt nur zur Stigmatisierung von Millionen.

ZEIT ONLINE: Hat sich die Gesellschaft womöglich zu schnell auf die Psychiatrisierung dieses Menschen gestürzt?

Hilgers: Das ist ein Automatismus bei monströsen Taten. Man versucht mit psychiatrischen Diagnosen den Täter aus der Mitte der Gesellschaft hinaus zu katapultieren. Das Böse gehört dann nicht mehr zu uns, es ist scheinbar fremd und relativiert sich damit. Zweitens bietet die psychiatrische Diagnose - darüber sollten wir uns im Klaren sein - einen Notausgang aus unserer Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sobald es eine Diagnose gibt, gibt es auch die Illusion, etwas dagegen tun zu können, nach dem übersichtlichen Motto: erkennen, behandeln, verhindern.

ZEIT ONLINE: Sie reden von Planung, von einem bewusst herbeigeführten Absturz. Trotzdem ist immer noch von Suizid oder erweitertem Suizid die Rede.

Hilgers: Der Begriff erweiterter Suizid bagatellisiert die Tat. Erweiterter Suizid - das bezieht sich auf Angehörige, die auch umgebracht werden. Hier wurden aber völlig Unbeteiligte, die für L. anonym blieben, mit in den Tod gerissen. Das erfüllt die Definition des Amoks und, wenn man Heimtücke und Planung unterstellt, auch des Mords.

ZEIT ONLINE: Fluggesellschaften mischen ständig ihre Crews. Es soll keine zu große Nähe entstehen. Hätte der Amokflug verhindert werden können, wenn sich die beiden Piloten besser gekannt hätten?

Hilgers: Vielleicht hätte dann der Pilot Persönlichkeitsveränderungen bei Andreas L. festgestellt. Aber eine Meldung beim Arbeitgeber macht man nicht so schnell. Die Hemmung, jemanden anzuschwärzen, ist größer, wenn man sich näher kennt.

ZEIT ONLINE: Im alltäglichen Umgang soll der Copilot unauffällig gewesen sein, nett und freundlich.

Hilgers: Das ist typisch. Sehen Sie sich die Beschreibungen der Amokläufer von Winnenden oder Erfurt an. Man könnte von "Normopathen" sprechen: angepasst, zurückhaltend, freundlich. "Wir haben nie etwas bemerkt", sagen Angehörige, Freunde und Nachbarn. Das zeigt, wie schwierig es ist, einen potenziellen Amoktäter herauszufiltern.

ZEIT ONLINE: Wie kommt man ihnen dann auf die Spur? Flugtauglichkeitsuntersuchungen sollen jetzt durch psychiatrische Checks erweitert werden.

Hilgers: Ich habe 19 Jahre lang eine forensische Einrichtung supervidiert, mit schwer gestörten Straftätern. Trotzdem traue ich mir nicht zu, in einem vielleicht einstündigen Check jeden gefährlichen Menschen zu entdecken. Erst recht nicht, wenn der Betreffende das verbergen will.