Der moderne Mensch lebt ohne andersartige Mitmenschen. Früher war das offenbar anders: Im Pliozän existierten verschiedene Arten parallel. Ein neuer Fund in Äthiopien stellt das Bild des menschlichen Stammbaums infrage.
menschenartige skelette,lucy
© DPA/ UC of the Witwatersrand/ Lee BergerGrößenvergleich von links nach rechts: Homo, Australopithecus, Pan (Schimpanse).
Wir stellen uns den menschlichen Stammbaum gemeinhin so vor: Ausgehend von einem Vorfahren vor mehr als drei Millionen Jahren fächerte sich die Familie der Menschen in verschiedene Arten auf, nur um ganz am Ende wieder bei nur einer Art zu landen - bei uns, dem Homo sapiens. Es ist eher ein Hinter- als ein Nebeneinander, bei dem im Laufe der Zeiten eine Art der anderen folgt.

Ganz so einfach, behauptet eine aktuelle, im Fachblatt Nature veröffentlichte Studie, war das aber wohl nicht. Bereits im Pliozän vor rund dreieinhalb Millionen Jahren sollen demnach mehrere verschiedene Menschenarten nicht nur gleichzeitig, sondern teils auch noch in der gleichen Region gelebt haben.

Wir Menschen gehören zur Ordnung der Primaten, wir sind eine Gattung innerhalb der Familie der Menschenaffen. Der Rest ist weitgehend Interpretations- und Definitionssache: Unstrittig ist, dass sich die Entwicklungslinie unserer Art zu einem bestimmten Zeitpunkt von den Entwicklungslinien unserer nächsten Verwandten getrennt hat. Aber wo genau man die Grenze zieht, ab der man von Menschen im heutigen Verständnis spricht, liefert noch immer Stoff für Debatten.

Wir gehen heute davon aus, dass die Abspaltung von den Entwicklungslinien anderer Primaten irgendwann vor fünf bis sechs Millionen Jahren erfolgte. Die Gattung Homo, mit der wir klar als Mensch erkannte Vertreter unserer Familie bezeichnen, trat vor rund 2,5 Millionen Jahren erstmals auf - mit mehreren Varianten, die mehr oder minder gleichzeitig lebten.

Direkt davor lebten Lucy und ihre Verwandten, deren Art wir Australopithecus afarensis genannt haben. Wir sehen diese Australopithecinen nicht als Menschen im engeren Sinn, aber als Vormenschen, die wir als Bestandteil unseres eigenen Stammbaums erkennen. Sie lebten in der Zeit von vor vier bis vor etwa zwei Millionen Jahren in Afrika.

Stammbaum: Unten immer breiter?

Bis vor einigen Jahren gingen wir davon aus, dass es zur Zeit des mittleren Pliozän nur eine Art davon gab, Australopithecus afarensis. Eine geringe Artenzahl zu diesem frühen Zeitpunkt würde zur Annahme passen, dass sich eine Ursprungsart erst später in verschiedene Spezies auffächerte - der Stammbaum wäre unten dünn.

Dann begründeten neue Funde die These, dass es möglicherweise bis zu drei Varianten gab, die im Zeitfenster vor dreieinhalb Millionen Jahren zeitgleich lebten und verschieden genug waren, als eigene Arten gesehen zu werden.

Die aktuelle Studie von Yohannes Haile-Selassie und anderen stützt diese Annahme mehrerer parallel lebender Arten - und legt noch eine oben drauf. Basierend auf der Analyse eines neuen Fundes stellen die Autoren die These auf, dass der menschliche Stammbaum schon im Pliozän deutlich weiter aufgefächert war und mehr Arten hervorgebracht hatte als bisher gedacht.

Ihren Fund benannten sie Australopithecus deyiremeda. Es wäre die vierte Art, die für das betreffende Zeitfenster im Dreieck zwischen dem heutigen Äthiopien, dem Tschad und Kenia nachgewiesen worden wäre.

Die Forscher machen das an messbaren Unterschieden zwischen den Kiefern und Zähnen der Arten Australopithecus afarensis, bahrelghazali und deyiremeda sowie von Kenyanthropus platyops fest. Ob die beiden letzten allerdings so unterschiedlich waren, dass man sie wirklich als eigene Arten und nicht als regionale Varietäten sehen kann, müsse laut den Autoren durch weitere Untersuchungen geklärt werden.

Warum ist das alles relevant?

Das bemerkenswerteste an der Studie ist nicht die Erhöhung der Artzahl im Zeitfenster des mittleren Pliozäns. Bis vor wenigen Jahren ging man dort von einer relativ weit verbreiteten Art aus, Australopithecus afarensis, und sah Australophitecinen anderer Art eher in einer zeitlichen Abfolge. Der neue Fund bestätigt nur die neue Sicht, dass eben mehrere Arten nebeneinander lebten.

Darüber hinaus hat der Fund aber weitere Implikationen. Arten werden anhand morphologischer Eigenschaften bestimmt, also sicht- und messbaren körperlichen Unterschieden. Im menschlichen Stammbaum dienen dazu häufig solche von Kiefer und Zähnen.

Der neue Fund zeigt nun, dass bestimmte Eigenschaften des Kauapparates, die wir bisher als originäres Merkmal von Menschen gesehen haben, offenbar weit früher ausgeprägt wurden als bisher gedacht. Denn anders wäre nicht zu erklären, dass mehrere, parallel existierende Arten vergleichbare Eigenschaften zeigen: Man muss annehmen, dass sie eine Erbschaft früher lebender Vorfahren waren.

Das aber passt nicht so recht zu den bislang angenommenen Abfolgen und zeitlichen Dimensionen der Entwicklung hin zum Menschen. Die Autoren der Studie drücken das so aus: "Die taxonomischen und phylogenetischen Beziehungen unter frühen Homininen werden durch die Addition neuer Arten komplizierter, und der Zeitrahmen und die Einordnung früher Homo werden infrage gestellt."

Man könnte auch sagen: Jeder neue Fund wirft neue Fragen auf. Die Fossilien aus Äthiopien zeigen, dass man deutlich weiter zurückblicken muss, wenn man nach der Wurzel des Stammbaums sucht.