(Eigener Bericht) - Berlin erhöht seinen Druck auf Kiew zur Durchsetzung des Waffenstillstands im Osten der Ukraine. Eine Fortführung des Bürgerkriegs gilt unter Beobachtern als riskant: Zum einen werden neue Gebietsverluste an die ostukrainischen Aufständischen befürchtet; zum anderen ist nicht ersichtlich, wie ohne ein Ende der Kampfhandlungen der komplette wirtschaftliche Kollaps des Landes verhindert werden kann.

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Kiew/Dnipropetrowsk//Berlin - Bundesaußenminister Steinmeier ist deshalb am Wochenende nicht nur nach Kiew, sondern eigens auch nach Dnipropetrowsk gereist; dort hat der Oligarch Ihor Kolomojskij seinen Sitz, der zwar kürzlich vom Amt des Gouverneurs zurücktreten musste, aber faktisch immer noch maßgeblichen Einfluss auf die teils faschistischen Milizen hat, die bislang nicht bereit sind, den Waffenstillstand zu akzeptieren.


Um Druck auf die Faschisten auszuüben, die halfen, den Kiewer Umsturz vom Februar 2014 herbeizuführen, nun aber im Bürgerkrieg aus dem Ruder zu laufen drohen, muss Berlin mit denjenigen Kräften paktieren, gegen die sich die Majdan-Proteste richteten - mit den ukrainischen Oligarchen.


Außenminister Steinmeier hat im Verlauf des vergangenen Jahres schon mehrmals mit mächtigen Oligarchen persönlich - Staatspräsident Poroschenko eingeschlossen - oder mit von ihnen direkt abhängigen Politikern Absprachen getroffen. Experten bestätigen: Das ukrainische Oligarchensystem hat die Umbrüche des vergangenen Jahres unversehrt überstanden.

Vor dem Kollaps

In Gesprächen mit der ukrainischen Staatsspitze hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier Ende vergangener Woche zum wiederholten Male Druck zugunsten der Einhaltung der Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen ausgeübt. Der Bürgerkrieg im Osten des Landes ist für die Kiewer Truppen gegenwärtig nicht zu gewinnen; vielmehr droht ihnen bei seiner Weiterführung der Verlust der Hafenstadt Mariupol, die wegen ihrer Industrie, vor allem aber wegen ihres Hafens für die Ukraine beträchtliche Bedeutung besitzt. Zudem ist nicht nicht ersichtlich, wie unter Bürgerkriegsbedingungen die dringend nötige Stabilisierung der ukrainischen Wirtschaft gelingen soll. Kiew balanciert seit Monaten am Rande des Staatsbankrotts. Die Wirtschaftsleistung ist im vierten Quartal 2014 um 14,8 Prozent, im ersten Quartal 2015 um weitere 17,6 Prozent eingebrochen; Prognosen, der Gesamtrückgang könne im laufenden Jahr bei 8,5 Prozent gestoppt werden, erscheinen beinahe optimistisch. Außerdem kommt es zunehmend zu Protesten gegen Preiserhöhungen für Wasser und Energie, die im Auftrag der westlichen Gläubiger durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) erzwungen werden. Nach einem teilweise zweistelligen Kostenanstieg im Jahr 2014 wurden jüngst erneut die Preise angehoben - für Erdgas um 40 Prozent, für Wasser um 55 Prozent und für Strom um 67 Prozent, dies bei gleichzeitigem klarem Rückgang der Reallöhne.[1] "Minsk II" gilt in Berlin als vielleicht einzige Chance, die prowestlich gewendete Ukraine halbwegs zu stabilisieren und ihren Kollaps zu verhindern.


Vorposten Dnipropetrowsk

Erschwerend wirkt sich dabei aus, dass die Kiewer Regierung die in der Ostukraine kämpfenden Freiwilligen-Einheiten - extrem nationalistische, teilweise offen faschistische Milizen, die den Waffenstillstand dezidiert ablehnen und immer wieder brechen - trotz aller Anstrengungen nicht unter Kontrolle hat. Sie kann also die Einhaltung von "Minsk II" nicht garantieren. Außenminister Steinmeier ist deshalb am Samstag aus Kiew nach Dnipropetrowsk gereist, um persönlich Einfluss zu nehmen. Hintergrund ist, dass die Stadt nach dem Umsturz vom Februar 2014 schnell und systematisch zum Vorposten der neuen prowestlichen Regierung im Kampf gegen die Antimajdan-Opposition aufgebaut wurde. Dnipropetrowsk, relativ nahe des Donbass gelegen, war Ende 2013 und Anfang 2014 Schauplatz von Antimajdan-Protesten und galt deshalb aus der Perspektive der neuen Kiewer Machthaber als "gefährdet". Am 2. März 2014 setzten sie den Milliardär Ihor Kolomojskij zum neuen Gouverneur der Oblast Dnipropetrowsk ein, der bis heute im Ruf steht, einer der reichsten und vor allem der skrupelloseste Oligarch der Ukraine zu sein. Seine Herrschaft über Dnipropetrowsk hatte Folgen - bis heute.

"Nicht legal, aber wirkungsvoll"

Zum einen ist es Kolomojskij tatsächlich gelungen, die Antimajdan-Opposition weitgehend auszuschalten. "Die Regionalpolitik in und um Dnipropetrovsk" sei "schon früh entschlossen gegen separatistische und prorussische Bewegungen vor(gegangen)", heißt es rückblickend in einem Bericht bei der Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen).[2] Kritische Beobachter haben schon im vergangenen Jahr Kolomojskijs "entschlossenes Vorgehen" gegen Oppositionelle plastisch geschildert. "Mit manchen haben wir uns geeinigt, den Rest haben wir verängstigt", wurde ein Stellvertreter des Gouverneurs zitiert.[3] "Die praktische Seite erledigten die Schläger des Rechten Sektors, dem Kolomojskij in Dnipropetrowsk ein praktisches Betätigungsfeld und auch finanziellen Rückhalt geboten hat", heißt es etwa in einem Bericht des Ukraine-Experten Reinhard Lauterbach: In der Verwaltung der Oblast werde das Vorgehen des Rechten Sektors, der seinen Hauptsitz im April 2014 nach Dnipropetrowsk verlegte, höflich als "nicht immer ganz legal, aber wirkungsvoll" umschrieben.[4] Kolomojskij setzte ein Kopfgeld auf die Ergreifung von Oppositionellen ("Saboteuren") aus und stellte sonstige Mittel für den Aufbau teils faschistischer Freiwilligen-Bataillone bereit. In Dnipropetrowsk konnte der Führer des "Rechten Sektors", Dmitro Jarosch, bei den Parlamentswahlen im Oktober sogar ein Direktmandat für die Werchowna Rada gewinnen.


Der Hauptprofiteur des Majdan

Zum anderen hat Kolomojskij bis heute erheblichen politischen Einfluss in Dnipropetrowsk. Er sei derjenige unter den ukrainischen Oligarchen, der am meisten vom Umsturz im Februar 2014 profitiert habe, stellte eine Studie des Warschauer "Ośrodek Studiów Wschodnich" (OSW, "Centre for Eastern Studies") zu Jahresbeginn fest.[5] Tatsächlich ist Kolomojskij - gerade auch wegen seines maßgeblichen Einflusses auf diverse Freiwilligen-Bataillone - so stark geworden, dass Präsident Petro Poroschenko sich Ende März genötigt sah, ihn in einem beispiellosen Machtkampf aus dem Amt zu jagen (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Damit hat Kolomojskij nun zwar sein politisches Amt, nicht aber seinen Einfluss verloren, zumal er neben seinem Wirtschaftsimperium zahlreiche Abgeordnete in mehreren Fraktionen des ukrainischen Parlaments kontrolliert. Wer die Milizen in der Ostukraine zum Waffenstillstand zwingen will, kann in Dnipropetrowsk mehr erreichen als in Kiew, weshalb Außenminister Steinmeier am Samstag dort eintraf. Zwar legt das Auswärtige Amt Wert auf die Feststellung, der Minister sei nicht Kolomojskij persönlich begegnet. Über dessen Amtsnachfolger Walentin Resnitschenko heißt es jedoch höflich, er könne sich gewiss "nicht gegen" den Oligarchen stellen.[7] Mit Resnitschenko hat Steinmeier am Samstag verhandelt.

Das oligarchische System

Dass Berlin direkt und indirekt mit ukrainischen Oligarchen kooperiert, gegen deren Willkür sich die Majdan-Proteste richteten, zeigt sich seit dem Umsturz des Jahres 2014 immer wieder. "Die Majdan-Revolution hat das oligarchische System der Ukraine nicht erschüttert", heißt es beim Warschauer OSW. Zwar habe es eine Art Umgruppierung gegeben; die Oligarchen um Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch seien geschwächt oder gänzlich ausgeschaltet worden, andere wie Kolomojskij seien aufgestiegen. Doch seien die Oligarchen insgesamt womöglich sogar erstarkt; der Bürgerkrieg im Donbass und die eskalierende Wirtschaftskrise hätten den Staat weiter geschwächt und damit die politischen Spielräume der Milliardäre gesichert, vielleicht sogar noch vergrößert. Man müsse damit rechnen, dass sie ihre Macht auf absehbare Zeit sichern könnten.[8]

"Kopf der organisierten Kriminalität"

Entsprechend ist der deutsche Außenminister bei seinen Ukraine-Reisen immer wieder entweder mit Oligarchen persönlich zusammengetroffen oder doch zumindest an ihre Stammsitze gereist, um dort mit von ihnen abhängigen Politikern Absprachen zu treffen. Im März und im Mai 2014 traf Steinmeier persönlich mit Rinat Achmetow zusammen, dem reichsten Mann des Landes, den deutsche Medien zwei Jahre zuvor noch als "Kopf der organisierten Kriminalität im Land" bezeichnet hatten.[9] Ziel des Treffens war es, Achmetows Einfluss im Donbass zu nutzen, um die dortige Antimajdan-Opposition zu schwächen.[10] Das Vorhaben scheiterte. Im Mai 2014 traf sich Steinmeier zudem mit dem neuen Gouverneur der Oblast Odessa, dem Millionär und Kolomojskij-Verbündeten Ihor Palyzja. Auch dabei ging es darum, mögliche Unruhen zu unterbinden; Palyzja hatte damit nach dem Massaker faschistischer Schläger an Regimegegnern vom 2. Mai 2014 weitgehend Erfolg. Herausragender Kontaktmann Berlins ist mit Staatspräsident Petro Poroschenko, einem Süßwaren- und Rüstungsproduzenten, ohnehin ein Oligarch.[11] Steinmeiers jüngste Gespräche in Dnipropetrowsk setzten die deutsche Kooperation mit den ukrainischen Oligarchen und ihrem abhängigen Umfeld fort.

Quellenangaben:

[1] Nina Jeglinski: Mit Galgenhumor gegen hohe Energiepreise. www.tagesspiegel.de 16.05.2015.
[2] Donata Hasselmann, Miriam Kruse: Eindrücke aus Dnipropetrovsk. www.boell.de 27.05.2015.
[3], [4] Reinhard Lauterbach: Im Reich des Condottiere. junge Welt 12.09.2014.
[5] Wojciech Konończuk: Oligarchs After The Maidan: The Old System In A "New" Ukraine. OSW Commentary Number 162, 16.02.2015.
[6] S. dazu Der Weg nach Westen.
[7] Majid Sattar: Steinmeier und der Pate von Dnipropetrowsk. www.faz.net 30.05.2015.
[8] Wojciech Konończuk: Oligarchs After The Maidan: The Old System In A "New" Ukraine. OSW Commentary Number 162, 16.02.2015.
[9] Carsten Eberts, Jürgen Schmieder: Glossar zur Fußball-EM. www.sueddeutsche.de 07.06.2012.
[10] S. dazu Die Restauration der Oligarchen (III).
[11] S. dazu Die Restauration der Oligarchen (IV).