Funde von Millionen Jahre alten Werkzeugen lassen Forscher vermuten, dass unsere Vorfahren in Asien das Wandern lernten, nicht in Afrika

Der sicher geglaubte Lehrsatz, dass die Wiege der Menschheit in Afrika steht, ist in Gefahr

Knapp 1200 Meter hoch liegt das georgische Städtchen Dmanisi, inmitten des Kaukasus-Gebirges. Gar nicht mal so weit entfernt vom Berg Ararat. Auf seinem Gipfel könnten ja vielleicht noch die Reste der Arche Noah liegen, aus der heraus der Mensch, gemeinsam mit allen anderen Kreaturen, nach der Sintflut die Welt zum zweiten Mal besiedelt haben soll. Viele Wege unserer Urväter kreuzten sich dort oben, Abstecher der Seidenstraße führten ganz in der Nähe entlang. Der Austausch von Waren und Fertigkeiten, von Religionen und Kulturen zwischen den drei Kontinenten der alten Welt fand hier oben statt, wohl seit eineinhalb Jahrtausenden.

Ursprünglich waren es denn auch die Hinterlassenschaften des frühmittelalterlichen Fernhandels, die David Lordkipanidze vom Nationalmuseum Georgiens ursprünglich auf das Dmanisi-Plateau gelockt hatten. Seit etwa 20 Jahren gräbt der führende Paläontologe des Landes dort oben. Das Mittelalter hat er längst durchstoßen, immer tiefer drang er vor in die Menschheitsgeschichte. Vor Jahren schon ist er in der Altsteinzeit angekommen, beim Vorfahren von Homo sapiens, Etwa dort, wo Homo erectus lernte, mit dem Feuer umzugehen. Bei eineinhalb Millionen Jahren vor unserer Zeit. 1,6 Millionen, 1,7 Millionen. Da war Lordkipanidze, wie er bald meinte, schon bei den frühen Vertretern der Gattung homo, die, kaum, dass sie gelernt hatten, auf zwei Beinen zu gehen, von Afrika aus in dieses Gebirge zwischen Kaspischem und Schwarzen Meer gewandert waren, das viel später dann auch in der Bibel Erwähnung finden wird.

Jetzt ist der georgische Chefarchäologe noch eine Stufe tiefer angelangt. Jetzt behauptet er, womöglich hätte bei Dmanisi die Gattung Homo den aufrechten Gang überhaupt erst angenommen, und sei von dort aus nach Afrika gewandert, in umgekehrter Richtung also als bisher angenommen. Lordkipanidze beginnt damit eine neue Runde im alten Streit der Vorgeschichtler, der spätestens seit den 80er Jahren als beendet galt: Wo bildete der Vormensch seine entscheidenden Fähigkeiten aus, wo begann er seine Wanderungen durch jene drei Kontinente? In Asien, in Afrika - oder gar auf beiden Kontinenten gleichzeitig? Nachdem die Paläontologen den afrikanischen Kontinent im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allzu lange vernachlässigt hatten und folglich alle Welt Asien als Wiege der Menschheit vermutete, galt nach Funden aus den 1960er und 1970er Jahren in Äthiopien und Malawi als Stand der Wissenschaft: "Out of Africa" - von Afrika aus ging es um die Welt. Nur in China meint man heute noch hier und da, im Geburtsland des weisen Homo zu leben.

Nun aber hat Lordkipanidze mit seinem Team mehr als hundert Werkzeuge aus tieferen Schichten des Dmanisi-Plateaus zutage gefördert, Faustkeile, Steinmesser und anderes. Die radiometrische Bestimmung der Sedimente, in denen der Fund gelang, ergab das stolze Alter der Artefakte von 1,85 Millionen Jahren. Damit ist er angekommen in den Bereichen auch der ältesten Funde von Homo Erectus, die man in Afrika aufspürte.

Reid Ferring von der Universität von Nord-Texas, der an den Ausgrabungen teilnahm, sagt, bei den Funden handele es sich um die ältesten Hinterlassenschaften unserer Gattung nicht nur auf asiatischem Boden, sondern überhaupt außerhalb von Afrika. Möglicherweise habe sich also der Vorgänger des Menschen von der Kaukasus-Region aus in Richtung Afrika ausgebreitet und nicht umgekehrt. Um dies zu belegen, sei allerdings noch weitere Forschung nötig.

Zustimmung erhalten Ferring und Lordkipanidze vom niederländischen Archäologen Will Roebroeks, der die Funde als "wichtige Beobachtungen" zum Thema der Besiedlung Eurasiens bezeichnet. Roebroeks sieht darin freilich auch sich selbst bestätigt, hatte er doch vor sechs Jahren schon den Stand der herrschenden Lehrmeinung in Zweifel gezogen und Asien als die Region bezeichnet, in der der Mensch seine wesentlichen Entwicklungsschritte vollzogen habe. Richard Potts vom Smithsonian National Museum of Natural History in Washington dagegen sieht in den jetzigen Funden noch keine Notwendigkeit für eine Richtungsänderung in der Paläontologie:
Bei den jüngst in Dmanisi gefundenen Objekten handelt es sich lediglich um Steinwerkzeuge und nicht um Knochen. Wir können also nicht wissen, wer diese Gegenstände hergestellt hat.
Das mag wohl sein. Dass aber einige Homini erecti auf ihren meist tausende Jahre dauernden Wanderungen die Faustkeile aus Afrika importiert hätten, wäre eher unwahrscheinlich. Im Übrigen werden heute die ältesten Knochenfunde eines Homo aus Dmanisi - Unterkiefer, Schädel, Oberschenkel - auch schon auf ein Alter von über 1,8 Millionen Jahren taxiert. Insgesamt also ist man beim Wettlauf um die Jahrmillionen im Kaukasus nicht mehr allzu weit entfernt von Ostafrika, dessen älteste Funde aus der Zeit von vor 1,9 Millionen Jahren zurückreichen.

Doch egal allerdings, wer im Rennen zwischen Kaukasus und Ostafrika gerade den Rekord hält, die Devise "Out of Africa" wird auch weiterhin gelten. Zum einen schon deshalb, weil die noch älteren Vorfahren, jene, die noch auf Bäumen wohnten und auf allen Vieren liefen, (bislang) unumstritten in Afrika ihre Heimat hatten, es sich also auch dann, wenn jetzt der Weg in die andere Richtung gegangen sein sollte, nur um eine Rückwanderung gehandelt haben dürfte. Der Australopithecus war so einer unserer frühen Verwandten, dem die Wissenschaftler über lange Jahre sogar schon den aufrechten Gang zugetraut hatten. Inzwischen weiß man, dass er in seiner Lebensart noch manch affenartiges pflegte. Wohnen auf dem Baum, gehen - in aller Regel jedenfalls - wie der Gorilla.

Und "Out of Africa" gilt natürlich vor allem für die späteren Auswanderungen, die entscheidenderen, weil sie unsere "nähere" Verwandtschaft betreffen.

Vor etwa 600 000 Jahren wanderte der späte Homo erectus aus Afrika über Kleinasien zum ersten Mal nach Europa, bildete sich nach vorherrschender Meinung über den Homo heidelbergensis zum Neandertaler, und lebte dort friedlich. Bis vor etwa 100 000 Jahren, als dann der fast schon moderne Homo sapiens erneut aus Afrika nach Norden aufbrach und Europa eroberte. Ob er dort die Neandertaler aktiv verdrängte, bekämpfte gar, oder ob diese vielmehr aus anderen Gründen - die in der Nahrung, der Umwelt, dem Klima lagen - von selbst ausstarben, ist in der Paläontologie noch umstritten.

Klar ist wohl dagegen, dass diese letzte Auswanderungswelle aus Afrika die Menschheit weiter trug als je zuvor. Australien wurde besiedelt, und obwohl der Seeweg dorthin damals erheblich kürzer war als heute, so waren dabei dennoch einige Fernreisen übers Meer zu bewältigen. Auch nach Amerika ging es nun, vor etwa 15 000 Jahren, nach Meinung der meisten Forscher über die damals, zur großen Eiszeit, trocken gefallene Beringsstraße und Alaska. Doch selbst dies ist nicht unumstritten, einige Vorgeschichtler gehen auch hier von größeren Seereisen weiter im Süden aus.

So weit, dass sein Homo georgicus, wie die Funde aus Dmanisi von manchen Fachleuten zwischendurch bereits genannt wurden, von sich aus damals schon die Welt umwanderte, will Lordkipanidze nicht gehen. Allerdings verweist er hier und da in seinen Artikeln in Fachzeitschriften auf die seiner Ansicht nach frappanten Ähnlichkeiten der Fossilien aus dem Kaukasus mit den 12000 bis 100000 Jahre alten Schädeln und anderen Skelettteilen, die man im Jahre 2003 auf der Insel Flores in Indonesien fand. Weil es sich dabei um die Überreste von besonders kleinwüchsigen Menschen handelte, meinte man zwischenzeitlich, neben den Neandertalern und Homo sapiens eine dritte Menschenart gefunden zu haben. Inzwischen gilt als sicher, dass es sich um eine Nebenlinie von Homo sapiens mit einem Gendefekt gehandelt habe. Ähnlich hin und her ging es übrigens auch mit den Funden in Dmanisi selbst. Mal ordnete man sie den Homo ergaster aus Südafrika zu, mal dem Homo habilis aus Ostafrika, bis schließlich über den Homo georgicus bei Homo erectus Einigkeit erzielt werden konnte.

Vieles liegt noch im Dunkeln, was unsere Herkunft angeht. Manch sicher gewähnte Lehrmeinung wird noch einstürzen. Auch wenn dieses Mal noch die Auswanderung "Out of Africa" durch alle Phasen der letzten zwei Millionen halten sollte.