Ein Babyfoto von Kyrie und Brielle Jackson wird seit fast 20 Jahren immer wieder gedruckt und gepostet. Die Geschichte hinter dem Bild ist eine urbane Legende. Warum? Ein Gespräch mit den Zwillingen.

The Rescuing Hug
© Privat, Kyrie und Brielle Jackson
Es sei schon seltsam, sagt Kyrie Jackson Die wahrscheinlich Aufsehen erregendste Tat ihres Lebens habe sie schon hinter sich. "Und ich kann mich noch nicht mal daran erinnern." Dann lacht sie, wie 18-jährige Mädchen das so tun, aufgekratzt, unbeschwert, das Leben noch vor sich. Aber trotzdem hat sie vielleicht Recht.

Am 17. Oktober 1995 werden Kyrie und ihre Zwillingsschwester Brielle Jackson in Worcester im US-Bundesstaat Massachusetts geboren. Das muss die junge Studentin nicht erst erzählen, das lässt sich im Internet auf diversen Webseiten nachlesen. Kyrie und Brielle sind nämlich Teil einer urbanen Legende.

Ihr Foto, das nur wenige Tage nach ihrer Geburt aufgenommen wurde, wird seit fast 20 Jahren immer wieder gedruckt und seit dem Aufkommen von Blogs und Sozialen Medien auch immer wieder neu im Internet verbreitet. Wie aber lautet die Geschichte zu dem Bild?

Kyrie und Brielle Jackson wurden zwölf Wochen zu früh geboren. Die kleinen, schrumpligen Babys mussten in den Brutkasten. Während Kyrie Tag für Tag an Gewicht zulegte, hatte ihre winzige Schwester Atemprobleme, einen zu hohen Puls, nahm kaum zu und ihr Blutsauerstoffgehalt war zu gering. Am 12. November soll Brielle Jackson dann in einen kritischen Zustand geraten und dem Tod nahe gewesen sein. Ihre Ärmchen waren so dünn wie Stöckchen, ihre Haut blau-gräulich und ihr Puls zu hoch. Herkömmliche medizinische Maßnahmen hatten allesamt versagt. Bis der zuständigen Krankenschwester Gayle Kasparian eine Idee kam: Sie legte die beiden Schwestern zusammen in einen Brutkasten.

Zurück ins Leben gekuschelt

Die kleine Kyrie schmiegte sich an die noch zierlichere Brielle, legte ihr den Arm um die Schultern und siehe da - ihr Puls soll sich sofort normalisiert haben. Wie der Zufall es will, war ein Reporter des "Worcester Telegram" im Krankenhaus und gleich zur Stelle, er schoss ein Foto der Neugeborenen-Umarmung, das Foto landetet nebst der Schlagzeile "The Rescuing Hug" (Die rettende Umarmung) sogar im mittlerweile eingestellten "Life" Magazin, und im "Readers Digest". Ein Mythos war geboren: Drei Wochen alte Schwester rettetet mit einer Umarmung ihren Zwilling. Die Wunderkraft der menschlichen Berührung. Mittlerweile ist körperliche Nähe für Frühchen übrigens auf vielen Krankenhausstationen Standard, und auch unter dem Begriff "Känguru"-Methode bekannt.

"Wir sind mit der Geschichte aufgewachsen", sagt Brielle Jackson heute. "Das Foto war immer da." Als Babys wurden die Schwestern der 7.000-Seelen-Kleinstadt Westminster das Titelbild eines Zwillings-Buches - "Twin Tales". In ihrem Junior Year auf der High School wurde ihr Foto vom amerikanischenNachrichtensender CNN wiederentdeckt. Sie wurden vor laufenden Kameras interviewt. Das war 2013. Daraufhin landete das Foto auf Blogs, auf Instagram und in Foren wie Reddit.

"Da gab es mal einen Internetdialog, in dem sich mehrere Nutzer einig waren, dass das Foto ein Fake sei. Dass Kyrie den Arm gar nicht wirklich um mich gelegt habe. Dass es Photoshop sein müsste", sagt Brielle: "Da habe ich zurück geschrieben: 'Hey, das bin ich auf dem Bild und es ist echt. Photoshop gab es damals noch gar nicht'."

Vor wenigen Tagen bekam Brielle Jackson schließlich eine Nachricht von einer Freundin. Ashton Kutcher habe das Bild auf seinem Blog und auf Facebook geteilt. Die Mädchen waren in heller Aufregung. Ashton Kutcher. Ihr Bild. Kyrie und Brielle im Brutkasten. 33.000 Likes und an die 500 Kommentare. Und das nach 19 Jahren.

Ist die Geschichte wahr?

The Rescuing Hug
© Privat, Kyrie und Brielle JacksonBrielle (li.) und Kyrie Jackson heute und als Babys 1995 auf dem Foto, das um die Welt ging
"Ich glaube, die Geschichte ist deswegen nicht totzukriegen, weil sie einfach gute Laune verbreitet. Es gibt da draußen so viele schlechte Nachrichten jeden Tag. Menschen schreiben mir, dass sie geweint haben, als sie das Bild zum ersten Mal sahen", sagt Brielle. Und der Mythos? Die Geschichte dahinter? Ist die nun wahr?

"Es stimmt, dass sich mein Puls normalisiert hat, als meine Schwester mich umarmt hat. Aber ich war nicht sterbenskrank. Sie hat mich nicht vor dem Tod gerettet, ihre Berührung hat mich entspannt", sagt Brielle. Geld haben die Zwillinge mit dem Foto nicht verdient. Der Reporter, der das Foto ohne die Erlaubnis ihrer Eltern schoss, habe sich nie bei ihnen gemeldet. Aber Ruhm haben sie geerntet.

In der Schule waren die Zwillinge, wie Brielle sagt, "nicht unbedingt die Populärsten", aber sobald ihre Mitschüler erfuhren, dass sie "die Zwillinge" von dem "Rescuing Hug"-Foto waren, habe sich das meist geändert und das Interesse an ihnen sei groß gewesen. In ihrer Heimat seien sie kleine Berühmtheiten, lacht Brielle und schiebt dann hinterher: "Aber natürlich keine echten Berühmtheiten. Wir haben ja eigentlich nichts gemacht." Trotzdem bekämen sie häufiger Anfragen von Menschen, die gerne ein Autogramm von ihnen hätten.

Das erste Mal getrennt

Die Schwestern sind sich noch immer sehr nah. Sie wohnen zusammen, haben ähnliche Interessen wie Videospiele oder Lesen. Ein eingespieltes Team seien sie, sagt Brielle. Wenn Kyrie kocht, wäscht Brielle ab. Wenn Brielle keine Lust hat, für eine Klausur zu lernen, motiviert ihre Schwester sie. Und wenn die eine lachen muss, stimmt die andere mit ein.

In diesem Herbstsemester werden die Zwillinge zum ersten Mal für längere Zeit getrennt sein. Kyrie Jackson wird Medical Laboratory Science (das amerikanische Äquivalent zur deutschen Ausbildung als Arzthelferin) studieren und Brielle Jackson Psychologie, zwar immer noch im gleichen Bundesstaat, aber in unterschiedlichen Städten. Ein bisschen unheimlich sei die Vorstellung, aber auch aufregend, dass sie nun Menschen kennenlernen werden, die nicht wissen, dass sie einen Zwilling haben.

Vielleicht wird an den Colleges ja auch keiner ihr Foto kennen. Noch nicht.