Aknemittel mit dem Wirkstoff Isotretinoin stehen im Verdacht, Depressionen und sogar Suizide auszulösen. Ärzte nehmen dies oft nicht ernst, verschreiben das Mittel zu schnell und klären zu wenig auf.
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© W. GriesingerRalf W. mit seiner Freundin in glücklicheren Zeiten

Dieser Sommer ist für die Berlinerin Thi Tho Pham-Tran eine schwere Zeit. Vor einem Jahr nahm sich ihr Sohn Lam-Son das Leben, mit 20 Jahren. Er sei ein guter Student gewesen, aufgeweckt, aktiv und fröhlich, erzählt seine Mutter. Eine Kämpfernatur, zu der ein Suizid nicht passe.

Auch der Freund von Wolfgang Griesinger war beruflich erfolgreich, sportlich und lebte in einer glücklichen Beziehung. "Er war ein offener und lebensfroher Mensch", erinnert sich Griesinger. "Doch irgendwann hat er alles negativ gesehen." Nach gut drei Jahren Leidenszeit nahm sich Ralf W. mit 44 Jahren das Leben.

Lam-Son und Ralf W. - obwohl beide sich nicht kannten, haben sie eines gemeinsam: Beide hatten Akne, der eine schwer, der andere leicht. Und beide erhielten gegen ihre Hautprobleme ein Medikament mit dem Wirkstoff Isotretinoin, wie mindestens 50.000 andere Patienten in Deutschland pro Jahr. Zugelassen ist der Wirkstoff eigentlich nur bei schwerer Akne, die nicht mit anderen Mitteln therapiert werden kann.

Starke Nebenwirkungen

Aus guten Gründen, denn Isotretinoin hat gravierende Nebenwirkungen: Der Wirkstoff kann unter anderem bei Ungeborenen Missbildungen hervorrufen, junge Frauen dürfen die Mittel daher nur einnehmen, wenn sie eine Schwangerschaft sicher verhüten. Schon seit Langem wird allerdings über eine weitere schwerwiegende Nebenwirkung diskutiert: Isotretinoin - vor allem in Tablettenform - steht im Verdacht, Depressionen auszulösen und Menschen sogar in den Suizid zu treiben.

Ganz klar ist noch nicht, ob der Wirkstoff selbst die mitunter tödliche Schwermut bedingt oder ob schon allein die Akne die Seele derart stark belastet. Schwedische Forscher stellten in einer aktuellen Studie ein erhöhtes Selbstmordrisiko unter der Einnahme von Isotretinoin fest, machten dafür aber hauptsächlich die schwere Akne selbst verantwortlich und nicht das Medikament.

Allerdings mehren sich schon seit einigen Jahren die Hinweise, dass das stark wirkende Aknemittel die psychischen Nebenwirkungen durchaus hervorrufen kann. So konnten Forscher um Sarah Bailey von der University of Bath nachweisen, dass Isotretinoin die Ausschüttung von Substanzen erhöht, die wiederum die Produktion des "Glückshormons" Serotonin vermindern. Bereits 2006 hatten Bailey und Kollegen bei Mäusen beobachtet, dass die Tiere depressive Symptome entwickeln, wenn sie eine ähnliche Dosis Isotretinoin verabreicht bekamen, wie sie für Menschen vorgesehen ist.

Auch der US-amerikanische Psychiater Douglas Bremner von der Emory University in Atlanta konnte 2005 in einer - wenn auch kleinen - Studie zeigen, dass Isotretinoin die Gehirnfunktionen beeinflusst. Er verglich Hirnscans von Patienten, die mit dem Wirkstoff behandelt wurden, mit denen von Patienten, die Antibiotika erhielten. Fazit: Die Hirnaktivität im orbitofrontalen Kortex, einem Bereich, der für die Emotionskontrolle zuständig ist, war bei ihnen deutlich verringert.

Und noch etwas anderes beobachten Experten: Wird das Mittel abgesetzt, bessert sich der Gemütszustand der Patienten zumeist wieder, bei erneuter Einnahme geht es häufig wieder bergab.

Zusammenhang wird zu wenig beachtet

"Ich habe keine Zweifel, dass Isotretinoin an den psychischen Reaktionen beteiligt ist", sagt Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des pharmakritischen Arznei-Telegramms. "Selbstmordgedanken und Selbsttötungen werden auffällig häufig unter Einnahme von Isotretinoin beobachtet, nicht aber unter Einnahme von anderen Aknemitteln."

In den USA sind mittlerweile zahlreiche Klagen gegen die Firma Roche anhängig, die den Wirkstoff in den 80er Jahren auf Markt gebracht hat. Menschen, die sich als Opfer fühlen, haben eine eigene Internetseite eingerichtet, auf der sie sich regelmäßig austauschen. Hierzulande ist das Roche-Medikament "Roaccutan" mittlerweile nicht mehr erhältlich, doch es gibt zahlreiche Nachfolgepräparate anderer Firmen mit demselben Wirkstoff.

Die Weltgesundheitsorganisation hat über 6000 Berichte zu psychischen Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Isotretinoin gesammelt, darunter mehrere hundert Suizide und Suizidversuche. Und für Europa alleine hat die Europäische Arzneimittelagentur Ema seit 1995 an die 300 Suizide und 456 Selbstmordversuche im Zusammenhang mit dem Mittel registriert.

Bei der zuständigen Aufsichtsbehörde in Deutschland, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, liegen sechs Berichte zu Suizidversuchen und fünf zu Suiziden im Zusammenhang mit Isotretinoin seit 1991 vor. Warum die Zahlen soviel geringer sind als die europäischen, kann man sich dort nicht erklären. Sicher ist aber: Solange das Problem nicht so bekannt ist, wird es auch weniger wahrgenommen. Wie viele Menschen leiden, ohne einen Bezug zu ihrem Aknemittel herzustellen, weiß niemand.

"Die gemeldeten Zahlen sind nur die Spitze des Eisberges", meint der Arzt und Apotheker Becker-Brüser. Der Zusammenhang zwischen Suizidversuchen oder Suiziden und der Einnahme von Isotretinoin-Präparaten werde "viel zu wenig beachtet". "Schon kurz nachdem das Präparat auf den Markt kam, wurde relativ rasch auf die psychischen Nebenwirkung hingewiesen", bestätigt auch Gerd Glaeske, Arzneimittelexperte und Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen.

"Wir haben dem Arzt blind vertraut"

In die Fachinformationen und Beipackzettel ist der Warnhinweis auf die psychischen Nebenwirkungen mittlerweile aufgenommen worden. Doch Ärzte scheinen ihn nicht immer ernst zu nehmen.

"Ralf hatte eigentlich nur eine leichte Akne, die ihn auch kaum gestört hat. Doch der Arzt sagte, es sei ein gutes Mittel", erinnert sich Wolfgang Griesinger, der Freund von Ralf W. "Er erzählte mir auch, dass er den Arzt auf die Nebenwirkungen angesprochen hätte. Doch der sagte wohl, dass es nur Panikmache sei."

Ein Einzelfall ist das vermutlich nicht. "Als wir den Beipackzettel und die Liste an Nebenwirkungen gesehen haben, waren mein Sohn und ich beunruhigt, und ich riet ihm, das Mittel nicht zu nehmen. Doch der Hautarzt wiegelte ab", erinnert sich Thi Tho Pham-Tran. Er habe das Mittel immer weiter verschrieben. "Zuletzt sogar die doppelte Dosis, ohne erneute Warnung."

Anfang 2009 bekam ihr Sohn Lam-Son das Medikament verordnet, Mitte Juli 2010 sprang er vom Dach des Unigebäudes. Kurz zuvor hatte er seinen Geldbeutel verloren. Ohne Isotretinoin hätte dieser Zwischenfall nie zu einer solchen Kurzschlussreaktion geführt, ist die Mutter überzeugt. "Wir haben dem Arzt einfach vertraut, einfach blind vertraut, das hätten wir nicht gedurft", sagt sie. Gegenüber stern.de äußerte sich der Mediziner nicht.

Ärzte verordnen den Wirkstoff zu schnell

Arzneimittelexperten wie Glaeske und Becker-Brüser sind überzeugt: Ärzte greifen zu schnell zu dem gefährlichen Wirkstoff, mitunter schon bei leichter oder mittelschwerer Akne - und klären zu oft nicht hinreichend über die möglichen Nebenwirkungen auf.

5,6 Millionen Tagesdosen Isotretinoin in Tablettenform wurden laut dem aktuellen Arzneimittelreport im Jahr 2009 verordnet. "Das sind, je nach Therapielänge, zwischen 50.000 und 75.000 Patienten, die das Mittel eingenommen haben", sagt Becker-Brüser. "Das wären schon viele, die die Kriterien erfüllen müssten, die in der Zulassung drinstehen."

"Es wird relativ rasch damit therapiert, aber viel zu wenig aufgeklärt", kritisiert auch Arzneimittelexperte Glaeske. Die psychischen Nebenwirkungen seien nicht so präsent in den Köpfen der Dermatologen, meint er. "Doch der Beipackzettel entlastet die Ärzte nicht, sie müssen darüber informieren, bevor sie das Mittel verschreiben."

Fatal ist laut Glaeske auch, dass wohl kaum jemand, der depressiv wird, daran denkt, dass sein Aknemittel daran schuld sein könnte. "Die Menschen landen beim Psychologen oder Psychiater. Und diese Ärzte übersehen den Zusammenhang möglicherweise."

Verharmlosende Informationen im Netz

Und noch ein anderer Aspekt verschärft das Problem: Mittlerweile ist das verschreibungspflichtige Medikament ohne Rezept auch im Internet erhältlich - illegal natürlich. "Auf diesen Seiten finden sich aber nur verharmlosende Informationen zu den Nebenwirkungen", sagt Glaeske. Gerade Jungs mit Akne, die aus Scham einen Hautarztbesuch vermeiden wollen, könnten zum Kauf im Netz verleitet werden, befürchtet er.

In den USA hat die Arzneimittelbehörde FDA schon seit Längerem reagiert - und vorgeschrieben, dass Patienten, die Isotretinoin erhalten, regelmäßig auf depressive Symptome und Suizidgedanken kontrolliert werden müssen. Auch die deutsche Fachinformation verpflichtet Ärzte dazu.

Becker-Brüser ist dennoch überzeugt: Die Ärzte, aber auch die Herstellerfirmen klären nicht deutlich genug auf. "In den USA wird am Anfang der Produktinformation in einem umrahmten Textkasten nicht nur auf die Embryo schädigende Wirkung des Mittels hingewiesen, sondern auch an prominenter Stelle vor den Auswirkungen auf die Psyche gewarnt. In der deutschen Fachinformation steht das auf einer der hinteren Seiten, am Ende einer Bleiwüste von sonstigen Bemerkungen. Das reicht nicht", sagt er.

Gegenüber stern.de verweisen die Pharmaunternehmen darauf, dass es sich um ein zugelassenes Arzneimittel handle und sie sich genau an die Vorgaben der Behörden halten würden.

Thi Tho Pham-Tran hätte sich in erster Linie gewünscht, dass der Hautarzt ihren Sohn und sie deutlich über das Risiko aufgeklärt hätte. Auch wenn es Lam-Son nicht mehr hilft, fordert sie vor allem eins: Dass Ärzte die gefährlichen Nebenwirkungen nicht mehr außer Acht lassen und Patienten und Familienmitglieder darüber ausreichend informieren. "Das hilft, Menschenleben zu retten."