Egal, ob ein Mensch zwei oder 30 Sprachen spricht - für das Gehirn wird jede Wortwahl zu einer komplexen Aufgabe. Das kann sogar vor Alzheimer schützen.
Multilingualität
© PAMultilingualität bringt lebenslange Vorteile für die Karriere, aber auch für Geist und Gehirn.

Johan Vandewalle sammelt Sprachen. Er weiß nicht genau, wie viele er nun schon gelernt hat. Im Jahr 1987 gewann er einen Wettbewerb, der ihn zum polyglottesten Menschen Flanders kürte. Schon damals sprach er 31 Sprachen, darunter so exotische wie Aserbaidschanisch, Tadschikisch und Swahili.

Außerdem noch neun tote Sprachen. Seine Begeisterung für Vokabeln und Grammatik begann bereits im Kindesalter, als Vandewalle in die Schule kam. Dort lernte der im Jahr 1960 in Brügge geborene Belgier neben seiner Muttersprache Flämisch bald Französisch. Im Gymnasium kamen Deutsch und Englisch, später Griechisch und Latein hinzu.

Türkisch ist mathematisch

Mit 13 Jahren wollte die Familie in den Urlaub nach Rumänien reisen, doch der Flug war ausgebucht. Also flogen die Vandewalles nach Istanbul. Dort lernte er die ersten Brocken Türkisch. Das ist bis heute seine liebste Sprache. „Sie ist so mathematisch. Es gibt keine Ausnahmen“, sagt er. Ob sein Gehirn besonders ist, hat er nie untersuchen lassen. Doch das Lernen fiel ihm mit jeder neuen Sprache immer leichter. Fremdsprachen sind zu seinem Lebensinhalt geworden. An der Universität Gent leitet Vandewalle den Fachbereich für türkische Linguistik.

Vandewalle ist ein Extrem. Doch wer auch nur eine oder zwei fremde Sprachen spricht, hat einen Vorteil - und zwar ein Leben lang. In jedem Alter sind Mehrsprachige ihren monolingualen Mitmenschen um einen Schritt voraus. Das bestätigen Erkenntnisse aus dem relativ neuen Feld der „Neurowissenschaft des Multilingualismus“: Demnach profitieren schon Babys und Kleinkinder in ihrer Entwicklung vom Erwerb einer zweiten Sprache. Kinder und Jugendliche erlernen ohne größere Mühe weitere Sprachen, wenn sie schon eine Fremdsprache in petto haben.

In der Geschäftswelt gilt Englisch als Grundvoraussetzung, jede weitere Sprache als Zusatzqualifikation. Selbst für die geistige Fitness im Alter sorgen Sprachen besser als so manches Medikament. Am besten also, man beginnt schon früh mit dem Vokabelpauken und hört damit bis zum endgültigen Verstummen nicht auf. Denn auch wer erst im Alter anfängt, kann in einer späteren Lebensphase die kognitiven Vorteile der Multilingualität genießen.

Leichter fällt das Sprachenlernen allerdings denen, die schon sehr früh damit anfangen - am besten schon im Mutterleib. Neugeborene können bereits zwischen zwei Sprachen unterscheiden, wenn sie im Bauch ihrer Mutter mit den unterschiedlichen Tönen vertraut gemacht wurden. Das haben kanadische Wissenschaftler der University of British Columbia in Vancouver und Forscher der Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung in Frankreich herausgefunden, indem sie Babys philippinischer Mütter beim Stillen beobachteten. Einige Mütter hatten während der Schwangerschaft nur Englisch gesprochen. Die anderen Frauen hingegen sprachen Englisch und Tagalog, eine auf den Philippinen weit verbreitete austronesische Sprache.

Stärkerer Saugreflex bei bilingualen Kindern

Während die Säuglinge an der Brust ihrer Mütter nuckelten, spielten die Forscher eine Tonbandaufnahme einer zehnminütigen Rede ab. Die Vortragssprache wechselte minütlich. Die monolingualen Kinder zeigten nur Interesse an den englischen Aufnahmen - ihre Nuckelfrequenz erhöhte sich, wenn sie die bekannten Töne hörten, schreiben die Wissenschaftler im Fachjournal Psychological Science Die bilingualen Kinder fühlten sich durch beide Sprachen angesprochen - sie saugten während der gesamten zehn Minuten stärker an den Brüsten ihrer Mütter, als die einsprachigen Kinder es taten.

In den ersten paar Lebensmonaten nimmt das Gehirn noch die Wörter und Eigenschaften einer Sprache auf, ohne dass ein bewusster Lernprozess stattfindet. Experten nennen das den „doppelten Erstsprachenerwerb“. Wer sein Kind bilingual erziehen möchte, setzt meist auf diesen Effekt. Doch zu lange darf man allerdings nicht auf ihn hoffen: Bereits in den ersten zwölf Monaten, so schreiben Wissenschaftler der University of Washington in Seattle in einer im Journal of Phonetics veröffentlichten Studie, beginnt das Gehirn seine Aufnahmefähigkeit für die fremden Laute allmählich zu verlieren.

In ihrem Versuch setzten die Neurologen Babys aus Spanisch und Englisch sprechenden Haushalten und Babys aus einsprachig englischen Haushalten eine Elektrodenkappe auf den Kopf, um ihre Gehirnaktivität mittels eines Elektroenzephalogramms zu messen. Schon im Alter von acht bis zehn Monaten nahm bei den Kindern aus den ausschließlich Englisch sprechenden Familien die Sensibilität für andere Sprachen ab.

Kinder, die in ihrer Umgebung Englisch und Spanisch hörten, verloren die Aufnahmefähigkeit für zusätzliche Sprachen im Durchschnitt erst zwei Monate später. „Das bilinguale Gehirn ist faszinierend, weil es die menschliche Gabe des flexiblen Denkens veranschaulicht. Zweisprachige Babys lernen, dass Objekte und Ereignisse zwei Bezeichnungen haben, und sie wechseln flexibel von der einen zur anderen. Das trainiert ihr Gehirn“, sagt Patricia Kuhl, Co-Autorin der Studie.

Dieses Training der grauen Zellen lohnt sich. Mehrsprachige Kinder sind oft aufmerksamer als ihre einsprachigen Altersgenossen. Zu diesem Ergebnis kamen kanadischer Forscher von der Concordia University in Montreal. Ihre Studie erschien im Journal of Experimental Child Psychology.

Die Wissenschaftler untersuchten über 60 Zweijährige mit verschiedenen Sprach- und Intelligenztests. Insbesondere Aufgaben, bei denen die Aufmerksamkeit der Kinder abgelenkt wurde, lösten die bilingualen Kinder besser. „Wir haben herausgefunden, dass die kognitiven Vorteile der Zweisprachigkeit viel früher eintreten, als in vorangegangenen Studien beschrieben wurde“, sagt Diane Poulin-Dubois, Professorin für Psychologie an der Concordia University.

Doch woher kommt dieser geistige Vorsprung? Ähnlich wie eine Sportart zu einer allgemein verbesserten Fitness und zu einer Stärkung bestimmter Muskelgruppen führt, steigere auch der Spracherwerb die Konzentrationsfähigkeit und bestimmte kognitive Funktionen, sagt Jubin Abutalebi von der Università Vita-Salute San Raffaele in Mailand.

Sprachregionen besser ausgebildet

Dabei nutzen Mehrsprachige dieselben Gehirnareale wie einsprachige Menschen. Tatsächlich sind die Sprachregionen bei multilingualen Menschen aber besser ausgebildet. Das trifft insbesondere auf den anterioren zingulären Kortex zu, einen Teil des Brocaschen Sprachzentrums in der Großhirnrinde.

Dieses Areal steuert unter anderem Entscheidungsprozesse. So nutzen mehrsprachige Menschen dieses Areal häufig, weil sie bei jedem Wort auswählen müssen, in welcher Sprache es gesprochen werden soll. Deswegen fällt es ihrem Gehirn auch leichter, sich zu entscheiden, ob es sich auf wichtige Informationen oder unwichtige Ablenkungsmanöver konzentrieren soll. Zwei-, oder über 30 Sprachen, wie bei Vandewalle, machen jede Wortwahl zu einer komplexen Aufgabe. Dabei gilt jedoch: „Je besser ich die Sprachen spreche, desto besser ist auch meine kognitive Kontrolle“, sagt Neurologe Abutalebi.

Diese hilft auch im Alter, wenn die grauen Zellen langsam schwächer feuern. Ein Team kanadischer Wissenschaftler um Ellen Bialystok von der York University fand heraus, dass bei Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, Alzheimer im Durchschnitt erst fünf Jahre später diagnostiziert wird. Zudem zeigten die bi- oder multilingualen Probanden der Studie, die im Fachblatt Neurology veröffentlicht wurde, vier Jahre später Symptome der degenerativen Demenzerkrankung.

Um das Gehirn lebenslang fit zu halten, muss die Fremdsprache nicht in die Krippe gelegt werden. Das Lernen falle im höheren Alter nur schwerer, sagt Abutalebi. Grundvoraussetzung für den Erfolg sei eine ausreichende Motivation.

„Ein polyglotter Mensch hat eine positive Herangehensweise. Er gibt nicht auf“, sagt Vandewalle. Wenn der Polyglott eine neue Sprache in Angriff nimmt, hat er meist ein konkretes Ziel. So eignete er sich für einen Urlaub auf Malta das auf Arabisch basierende Maltesisch an.

Für eine Reise nach Ägypten beschäftigte er sich mit Hieroglyphen. „Es war ein Erfolgserlebnis, als ich einige der Zeichen bei einem Pyramidenbesuch entziffern konnte“, sagt Vandewalle. Mit jeder neuen Sprache werde der Lernprozess leichter. „Man ist mit den allgemeinen Strukturen vertraut, weiß etwa, dass dekliniert und konjugiert werden muss.“

Erziehungswissenschaftler der Universität Haifa bestätigen Vandewalles These. Die Forscher im Team von Professor Salim Abu-Rabia testeten die Englischkenntnisse von rund 80 Sechstklässlern. Für die Hälfte der Schüler war Englisch die erste Fremdsprache.

Diese Gruppe wuchs einsprachig auf und sprach nur Hebräisch. Die andere Gruppe, Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetstaaten, sprach mit ihrer Familie Hebräisch und Russisch. Bei den Englischtests der Wissenschaftler schnitten die von Haus aus bilingualen Jugendlichen rund 13 Prozent besser ab als ihre monolingualen Klassenkameraden.

Vandewalle hat seine Kinder nicht bilingual erzogen, sondern mit ihnen in seiner Muttersprache Flämisch gesprochen. Doch im Alter von sieben Jahren äußerte sein Sohn Alexandre den Wunsch, Arabisch zu lernen. So drückte er mit Erwachsenen in einem Sprachzentrum, das von seinem Vater geleitet wird, die Schulbank.

Einige Jahre darauf war es dann Chinesisch. Heimlich begann Alexandre sich Isländisch anzueignen. Als er seine Mutter bat, ihm ein Lehrbuch zu bestellen, flog die Sache auf. „Es scheint erblich zu sein“, sagt Vandewalle. Nun lernt der 51-jährige Vandewalle mit seinem 17-jährigen Sohn eine Sprache, die außer ihnen nur rund 300.000 Menschen weltweit sprechen.