Geschätzte zwei bis vier Prozent der Menschen zählen zu den Synästheten. Sie können beispielsweise Farben hören und Töne schmecken. Warum es diese scheinbar nutzlose Fähigkeit immer noch gibt, zählt zu den ungelösten Rätseln. Zwei Forscher meinen, eine Spur gefunden zu haben.

Sie vermuten einen versteckten Zweck hinter dem ursprünglich als Wahrnehmungsstörung klassifizierten Phänomen. Kurz gefasst: Die Synästhesie erleichtert das Denken.

Ein Übermaß an Synapsen

Sind die Wahrnehmungen verschiedener Sinnesorgane aneinander gekoppelt, spricht man von Synästhesie. Manche Betroffene schmecken Farben, andere riechen Formen oder spüren Geschmack. Theoretisch können alle Sinneseindrücke miteinander verbunden sein, wissenschaftlich dokumentiert sind immerhin an die 60 Kombinationen.

Am besten untersucht sind zwei der häufigsten Varianten, bei der Töne oder Schriftzeichen mit Farben verknüpft werden. Gehirnstudien zeigen, dass der Anblick von Ziffern bei Betroffenen zu einer Aktivierung des visuellen Kortex führt, erst vor wenigen Tagen wurde eine neue Arbeit dazu veröffentlicht. Das bestätigt die Vermutung, dass die synästhetische Wahrnehmungen tatsächlich mit den Sinnen zu tun haben und nicht die Folge übergeordneter Denkassoziationen sind, wenngleich deren Einfluss nicht ganz ausgeschlossen wird.

Vermutlich liegt ein Übermaß an neuronalen Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Modalitäten der Synästhesie zugrunde. Forscher nehmen an, dass bereits beim Ungeborenen weniger Verbindungen gekappt wurden, als dies beim Hirnreifeprozess üblicherweise der Fall ist. Anatomische Differenzen im erwachsenen Gehirn untermauern diese These.

Mutmaßlich erblich

Man geht davon aus, dass das Phänomen erblich ist, immerhin 40 Prozent aller Synästheten berichten von einem Betroffenen unter ihren Verwandten ersten Grades. Die spezifische Form - also welche Sinne miteinander verknüpft sind - kann dabei aber variieren. Oft sind auch mehrere Sinne assoziiert.

Es handelt sich also wahrscheinlich um eine allgemeine familiäre Vorbelastung mit unterschiedlicher Ausprägung. Unter Umständen sorgt die genetische Ausstattung lediglich für einen generellen Hang, verschiedene Sinne oder unzusammenhängende Konzepte miteinander zu koppeln. Trotz der Indizienlage sind die verantwortlichen Gene bis heute noch nicht gefunden worden. Dass es sie gibt, gilt dennoch als höchstwahrscheinlich.

"Hidden agenda"

Aber auch abgesehen davon bleibt das Phänomen ein Rätsel, obwohl sich die Forschung seit über 200 Jahren damit befasst. Völlig unklar ist beispielsweise, warum die scheinbar nutzlose genetische Anlage - vorausgesetzt es gibt sie in dieser Form überhaupt - überlebt hat, ganze zwei bis vier Prozent der Bevölkerung sollen davon betroffen sein. Dieser Frage widmen sich David Brang und V.S. Ramachandran von der University of California in San Diego in der aktuellen Ausgabe des PLoS Biology unter der Rubrik "Unsolved Mystery".

Die Synästhesie könnte z.B. ein reines Epiphänomen sein, d.h., die zugrundeliegenden Gene hätten dann eigentlich eine völlig andere Aufgabe. Gut möglich wäre es auch, dass sie nur deshalb erhalten geblieben sind, weil sie nicht viel "kosten", sozusagen evolutionärer Zierrat. Oder die Synästhesie könnte einfach die extreme Ausprägung einer allgemeinen Eigenschaft - nämlich der, Modalitäten zu verknüpfen - sein.

Brang und Ramachandran halten eine andere Ursache für bei weitem wahrscheinlicher: Synästhesie könnte eine "hidden agenda", also einen bis jetzt noch nicht erkannten Nutzen für Menschen haben.

Synästhesie hilft beim Querdenken

Auffällig sei, dass die Erfahrung der Synästhesie von Betroffenen überwiegend positiv beschrieben wird. Sie erleichtere ihren kreativen Lebenszugang. Es ist also kein Zufall, dass sich unter Künstlern überdurchschnittlich viele Synästheten befinden, ihnen fällt z.B. das Finden von Metaphern oder das Herstellen ungewöhnlicher Zusammenhänge besonders leicht. Es klingt zwar plausibel, dass die Kreativität zum Überleben der Synästhesie beigetragen hat, überzeugend belegt ist dies bis jetzt allerdings nicht.

Andere kognitive Vorteile könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Als Beispiel nennen die Autoren sogenannte "Savants", Menschen mit außerordentlichen Inselbegabungen, die häufig Synästhesie für ihre Merkfähigkeiten nutzen. Abgesehen von derartigen Extremen hätten auch andere Untersuchungen mit Synästheten gezeigt, dass diese ein vergleichsweise gutes Gedächtnis haben. Auch auf der Wahrnehmungsebene - etwa bei der Unterscheidung sehr ähnlicher Farben - schlagen sie andere Probanden.

So gesehen könnte die Synästhesie den Forschern zufolge sehr wohl einen Sinn haben: Die spezielle Wahrnehmung hilft beim Erkennen, beim Verarbeiten und beim Behalten von Sinnesreizen. Vieles spreche dafür, dass man das Randphänomen bisher unterschätzt habe, denn die Verschränkung der Sinnesmodalitäten ist eine Hilfe bei unterschiedlichsten Denkprozessen - ein Umstand, den sich möglicherweise auch Normalbegabte zunutze machen könnten.

Die Studie in PLoS Biology:
"Survival of the Synesthesia Gene: Why Do People Hear Colors and Taste Words?" von David Brang und V.S. Ramachandran