Der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer untersucht seit zehn Jahren, wie sich die Werte des Zusammenlebens in Deutschland verändern. In seinen jüngsten Erhebungen macht er beunruhigende Beobachtungen. Heitmeyer sieht die Gesellschaft der Bundesrepublik in einem explosiven Dauerzustand. Die Mitte drängt Randgruppen zunehmend nach außen.
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„Deutsche Zustände“, so lautet die die Reihe der Forschergruppe des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Untersuchungsgegenstand: die deutsche Gesellschaft, ihre Werte, ihre Vorurteile, der Zustand des Kitts, der unser Sozialgefüge zusammenhält. Mit Band zehn der empirischen Langzeitstudie legen die Sozialwissenschaftler nun eine Bilanz vor.

Es befördert einen zum Teil widersprüchlichen Komplex an Aussagen zutage. Einige sprechen für eine Liberalisierung der Gesellschaft, andere legen gegenteilige Schlussfolgerungen nahe.

Ein "entsichertes Jahrzehnt"

Heitmeyer selbst spricht von einem „entsicherten Jahrzehnt“ und konstatiert eine wachsende Verunsicherung der Gesellschaft. Die Deutschen haben demnach durch die Krisen der vergangenen Jahre das Vertrauen verloren. Viele sind frustriert, fühlen sich machtlos. „Demokratieentleerung“, heißt das in der Studie.

Die Folge: das Land ist zunehmend gespalten. Der rechte Rand verfestigt sich, soziale Randgruppen werden zunehmend diskriminiert. Heitmeyer sieht damit zentrale Werte unseres Zusammenlebens gefährdet. Für ihn ist ganz entscheidend, wie eine Gesellschaft mit den Schwächsten in ihren Reihen umgeht.

Die Ergebnisse im Einzelnen

Vorurteile

Die Ansichten der Deutschen haben der Studie zufolge zum Teil einen Wandel zu liberaleren Einstellungen vollzogen, zum Teil aber nicht. So sind Antisemitismus, Schwulenfeindlichkeit und Frauenfeindlichkeit gesellschaftlich weniger akzeptiert.

Die Forscher ermittelten das durch Interviews und die Antworten von 2000 Befragten. Der Aussage, es sei ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen, wollten im Jahr 2011 nur noch 25,3 Prozent der Befragten zustimmen. 2002 waren es noch fast 35 Prozent. Dem Satz "Frauen sollten sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen“ wollten nur noch 18,5 Prozent zustimmen, vor knapp zehn Jahren waren es noch 29,4 Prozent.

Die Außenseiter

Doch gleichzeitig zeichnet sich gegenüber anderen Gruppen ein gegenläufiger Trend ab. Rassismus und Islamfeindlichkeit verfestigen sich, schlechter noch sieht es für Obdachlose und Langzeitarbeitslose aus. Sie finden in der Gesellschaft zunehmend weniger Halt. Stattdessen nimmt die Neigung zu, auf sie herabzusehen und sie auszugrenzen.

Mehr als die Hälfte der Befragten meint in 2011 „Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu finden.“ 35,4 Prozent stimmen in 2011 der Aussage zu: „Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden“. Die Ansicht: „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“ ist im Jahr 2011 um fünf Prozentpunkte auf 29,3 gestiegen.

Rechtspopulismus

Besondere Beachtung finden in der Sozialstudie politische Einstellungen im Hinblick auf rechtes Gedankengut. Auch hier ist das Ergebnis zwiespältig. So sind der Studie zufolge insgesamt weniger Menschen dem Spektrum zuzurechen, das auf eine rechtspopulistische Orientierung schließen lässt. Härte bei Verstößen gegen Recht und Ordnung, scharfe Strafen gegen Verbrecher, zu viele Ausländer in Deutschland, Ausländer als Belastung für das soziale Netz - derartige Aussagen fanden im Vergleich zu 2003 deutlich weniger Befürworter. Nur dem Satz „Durch die vielen Muslime in Deutschland fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“ stimmten mit 30 Prozent etwa genauso viele zu wie schon vor zehn Jahren.

Doch sieht Heitmeyer darin keinerlei Anlass zur Entwarnung. "Etwa zehn Prozent der Deutschen denken durch und durch rechts", sagt der Sozialforscher - sechs Prozent mehr als noch vor sieben Jahren. In einer der Umfragen stimmte etwa jeder Zweite der Aussage zu, Deutschland werde "in einem gefährlichen Maß überfremdet". Der Nährboden für eine rechtspopulistische Stimmung - er wäre damit durchaus gegeben.

Politische Entfremdung

Zudem beobachteten Heitmeyer und seine Kollegen, dass sich die Rechts-Klientel zunehmend von der Mitte abkoppelt. Die überwiegende Mehrheit hat mit dem politischen System abgeschlossen. Dem Satz "Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“ stimmten 92,2 Prozent der Befragten mit Sympathien für rechtspopulistisches Gedankengut zu. Gleichzeitig könnten die früheren Volksparteien CDU und SPD immer weniger rechte Wähler an sich binden. Die Sozialforscher sprechen von politischer Entfremdung.

In dem Maße, in dem die Frustration steigt, wächst den Zahlen nach auch die Bereitschaft zum Protest. In den vergangenen zwei Jahren ist die Wut erheblich gestiegen. 2009 liebäugelten nur 29,7 Prozent der rechtsorientierten Bürger damit, auf der Straße zu protestieren. 2011 sind es 41,9 Prozent. Der Verärgerungs-Trend spiegelt sich auch in der Gesamtbevölkerung, wenn auch weniger deutlich. Beim rechten Rand ist hingegen auch wieder eine gestiegene Duldung wie auch Bereitschaft zur Gewalt zu erkennen.

Eine "verrohte Mitte" Zusammengefasst ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die droht auseinanderzufliegen. In der Bevölkerung ist diese Ansicht bereits weit verbreitet. 74 Prozent stimmten der Aussage zu, die Gesellschaft falle eigentlich immer mehr auseinander. Die Forscher erkennen darin die Gefahr, dass das Auseinanderdriften der Gesellschaft zunimmt. Denn wer seine Gemeinschaft bedroht sehe, neige vermehrt dazu, andersartiges auszugrenzen. Die Angst vor dem eigenen Abstieg veranlasse dazu, andere Menschen abzuwerten, sagte Heitmeyer dem Spiegel.

Verstärkt wird der Trend nach Ansicht der Forschergruppe durch neue Wertemuster bei den Besserverdienenden. Ihnen werfen die Forscher vor, der sozialen Spaltung Vorschub zu leisten. Von einem Klassenkampf von oben und einer "rohen Bürgerlichkeit" ist mitunter die Rede. Von der grundgesetzlichen Maxime, dass Eigentum verpflichtet, wollten diese Kreise nur noch wenig wissen. Das Denken erfolge in wirtschaftlichen Kategorien, das Hartz-IV-Empfängern und Langzeitarbeitslosen den Stempel von „Nutzlosen“ und „Ineffizienten“ aufdrückt.

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