Deutsche Forscher sind dem System auf die Spur gekommen, wie das Gehirn die räumliche Struktur einer vertrauten Umgebung verarbeitet: Offenbar ist der Anhaltspunkt für die Orientierung der Norden - es ist also, als ob wir eine imaginäre Landkarte vor Augen hätten.

Die Wissenschaftler um Julia Frankenstein vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen führten ihre Experimente mit 26 Einwohnern der Stadt Tübingen durch. Die ortskundigen Probanden wurden mit einem fotorealistischen virtuellen Modell ihrer Heimatstadt konfrontiert. Sie trugen dazu einen Helm, der ihnen dreidimensionale Straßenansichten Tübingens direkt vor die Augen projizierte, so dass sie das Gefühl hatten, vor Ort zu sein. Die Aufnahmen stammen aus dem Projekt „Virtuelles Tübingen“, für das Wissenschaftler des MPI das Zentrum der Stadt dreidimensional am Computer neu entstehen ließen. So ist es möglich, die Stadt virtuell zu erkunden und Untersuchungen zum Orientierungssystem des Menschen durchzuführen.

Wo ist der Bahnhof?

Für die aktuelle Studie saßen die Probanden auf einem Stuhl im Labor und wurden durch den „Cyber-Helm“ an einen bekannten Ort in Tübingen versetzt, beispielsweise den Burghof. Sie hatten bei dieser virtuellen Ansicht jeweils unterschiedliche Blickrichtungen vor Augen - mal schauten sie vom Burghof genau nach Norden, in anderen Fällen umfasste ihr Gesichtsfeld den Blick in eine andere Richtung.

Sobald die Probanden festgestellt hatten, wo sie sich in der virtuellen Umgebung befanden, fragten die Forscher sie nach der Richtung, in der bekannte Ortsmarken der Stadt liegen: Die Teilnehmer sollten mit dem ausgestreckten Arm beispielsweise vom virtuellen Burghof aus in Richtung Bahnhof zeigen. Abhängig von der Ausrichtung des Blickfeldes der Probanden dokumentierten die Forscher dann, wie genau die Richtungsangaben waren und wie lange die Probanden dafür nachdenken mussten.

Nordwärts geht's am schnellsten

Den Auswertungen zufolge war die Richtungszuweisung durch den ausgestreckten Arm immer dann besonders akkurat, wenn die Probanden in der virtuellen Umwelt ein Blickfeld nach Norden zu sehen bekamen. Je mehr dieser Blickwinkel von der Nordausrichtung abwich, desto ungenauer wurden die Richtungsangaben, und die Probanden brauchten auch länger für die Zuweisung.

Daraus schließen die Wissenschaftler, dass die imaginäre Karte, die Menschen bei ihrer Orientierung vor Augen haben, nach Norden ausgerichtet ist. War das Blickfeld der Probanden in diese Richtung voreingestellt, fiel es ihnen deshalb leichter, mit dem Arm in die richtige Richtung der nachgefragten Ortsmarke zu deuten. Den Forschern zufolge hängt dieses Orientierungskonzept vermutlich mit dem Gebrauch von Landkarten in unserer Kultur zusammen.

Julia Frankenstein (Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, Tübingen) et al.: Psychological Science, DOI:10.1177/0956797611429467
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