Die 18-​jährige Kett­lyne lebt in Croix Deprez, einem der zahl­rei­chen Lager für Erd­be­ben­opfer in Haiti. Die junge Frau, die keine Eltern mehr hat, kann sich und ihre drei­jäh­rige Tochter nur mit Hilfe von Essen­resten ernähren, die sie sich durch Pro­sti­tu­tion ‘erar­beitet’. Kett­lyne ist eine von meh­reren Hun­dert Frauen, die im Rahmen einer inter­na­tio­nalen Studie zu ihren Lebens­um­ständen seit dem Beben 2010 befragt worden sind.

Die gemein­same Unter­su­chung, an der unter anderem die Orga­ni­sa­tionen ‘Madre’, ‘Inter­na­tional Women’s Human Rights’ (IWHR), ‘Global Justice Clinic’ (GJC) und ‘Center for Gender and Refugee Stu­dies (GGRS) betei­ligt waren, wurde am 12. Januar ver­öf­fent­licht. Genau zwei Jahre nach der Kata­strophe doku­men­tiert der Bericht, dass die Krise vor allem für hai­tia­ni­sche Frauen und Mäd­chen noch längst nicht über­wunden ist. Mehr als eine Mil­lion Men­schen in dem Kari­bik­staat wurden durch das Beben obdachlos. Die meisten von ihnen cam­pieren seitdem in behelfs­mä­ßigen Unter­künften. Die große Not hat das Klima der Gesetz­lo­sig­keit weiter verschärft.

Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gungen in Flüchtlingslagern

Zahl­reiche Frauen wurden nach dem Erd­beben in den Lagern ver­ge­wal­tigt. Wie Men­schen­rechts­ak­ti­visten berichten, war das Mar­ty­rium damit noch längst nicht beendet. »Ver­trie­bene Frauen und Mäd­chen sehen sich durch die Umstände zur Pro­sti­tu­tion gezwungen«, sagte Marie Era­mithe Delva, die Mit­be­grün­derin der Kom­mis­sion weib­li­cher Opfer für Frauen (KOFAVIV).

»Diese Epi­demie wird von der hai­tia­ni­schen Regie­rung und der Staa­ten­ge­mein­schaft bisher kaum beachtet.« Allein in der Haupt­stadt Port-​au-​Prince und ihrer Umge­bung hausen etwa 300.000 Frauen und Mäd­chen nach wie vor in Zelten. Dort, wo alle sozialen Struk­turen zusam­men­ge­bro­chen sind - Fami­lien, Woh­nungen, Schulen und medi­zi­ni­sche Ein­rich­tungen -, herr­schen extreme Armut, Hoff­nungs­lo­sig­keit und Hunger.

»Wenn sich inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tionen zurück­ziehen, ver­schwinden mit ihnen auch die Dienst­leis­tungen, die nach dem Beben vor­über­ge­hend zur Ver­fü­gung standen«, sagte Lisa Davis von der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion ‘Madre’. »Bereits 13-​Jährige pro­sti­tu­ieren sich für den Gegen­wert eines halben Sandwiches.«

Von diesen Frauen sehe sich nie­mand als pro­fes­sio­nelle Hure, stellten die Auto­rinnen des Reports fest. Sie hatten Frauen zwi­schen 18 und 32 Jahren in dem Flücht­lings­la­gern Champ de Mars, Christ Roi und Croix Deprez sowie in dem Viertel Car­re­four inter­viewt. Die Hai­tia­ne­rinnen ver­suchten nur, unter extremen Bedin­gungen mit ihrem Leben zurechtzukommen.

In meisten Fällen lassen sich die Frauen mit Män­nern ein, die in den Camps Macht­po­si­tionen inne­haben. Sie ver­walten die Gelder, die für Arbeits­pro­gramme bereit­ge­stellt wurden, oder kon­trol­lieren die Essens­aus­gabe und die Bildungsprogramme.

Die ver­brei­tete Pro­sti­tu­tion birgt auch hohe gesund­heit­liche Risiken. Davis geht davon aus, dass sich viele Frauen mit dem HI-​Virus oder mit Geschlechts­krank­heiten anste­cken. Haiti weist bereits eine der höchsten AIDS-​Raten auf.

Laut dem Bericht des UN-​Kinderhilfswerks UNICEF für 2012 lag das Bil­dungs­wesen in Haiti schon vor dem Beben in Trüm­mern. Die Erd­stöße zer­störten aber zudem rund 4.000 Schulen. Etwa 2,5 Mil­lionen Kinder und Jugend­liche - mehr als die Hälfte der vier Mil­lionen Hai­tianer unter 18 Jahren - haben seitdem keine Chance mehr, etwas zu lernen.

Schwan­gere werden nicht aus­rei­chend betreut

Die unzu­rei­chende ärzt­liche Ver­sor­gung hat zu einer wei­teren Ver­schlim­me­rung der Situa­tion geführt. Im ver­gan­genen Jahr ver­öf­fent­lichte die Orga­ni­sa­tion ‘Human Rights Watch’ die Ergeb­nisse von Befra­gungen, denen zufolge nur wenige Schwan­gere medi­zi­nisch ver­sorgt werden. Alle 128 befragten Frauen gaben an, dass sie ihre Kinder im Kran­ken­haus zur Welt bringen wollten. Mehr als die Hälfte musste aber ohne ärzt­liche Betreuung ent­binden. Viele Säug­linge wurden auf Lehm­böden in Zelten oder auf der Straße geboren.

Ohne medi­zi­ni­sche Auf­sicht werden auch zahl­reiche ille­gale Abtrei­bungen vor­ge­nommen. Die Mütter - und Kin­der­sterb­lich­keit ist rapide gestiegen. Etwa 3.000 Frauen sterben jähr­lich an Kom­pli­ka­tionen im Zusam­men­hang mit Schwan­ger­schaft und Geburt. Experten befürchten, dass sich die Lage weiter verschlechtert.

Beob­achter halten nicht die unmit­tel­baren Folgen der Krise, son­dern die län­ger­fris­tigen Ent­wick­lungen für das haupt­säch­liche Pro­blem. Sie machen die viel­fach von west­li­chen Staaten auf­er­legten Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramme und fehl­ge­lei­tete aus­län­di­sche Hilfs­zah­lungen für die wirt­schaft­liche Rück­stän­dig­keit des Landes ver­ant­wort­lich. An der Ver­fas­sung wird kri­ti­siert, dass sie Frauen gegen­über Män­nern benachteiligt.

Frauen in Haiti recht­lich diskriminiert

»Wir werden nur selten an Ent­schei­dungs­pro­zessen betei­ligt«, klagte Malya Villard-​Appolon, eine der Grün­de­rinnen von KOFAVIC. Die Behörden, denen Res­sourcen zur Ver­fü­gung stünden, erführen nicht auf direktem Weg von den Frauen, die sexu­elle Gewalt erlitten und sich pro­sti­tu­ieren müssten. In der Regie­rung seien zudem nur drei von 17 Minis­tern weib­lich. Villard-​Appolon for­derte eine umfas­sen­dere Aus­bil­dung von Mäd­chen, die oft zu Hause bleiben müssten, wäh­rend ihre Brüder zur Schule gingen.

»Mit Sex, der nur dem Über­leben dient, wird es erst dann vorbei sein, wenn Frauen und Mäd­chen alles Nötige zum Leben haben«, sagte die Juristin Mar­garet Sat­terthwaite , die für GJC tätig ist. »Die inter­na­tio­nale Gemein­schaft sollte eng mit der hai­tia­ni­schen Regie­rung zusam­men­ar­beiten, um Jobs zu schaffen, Frauen Mikro­kre­dite zu geben und für kos­ten­lose Bil­dung für alle zu sorgen.«