Die Meldungen der Forscher am Cern klangen spektakulär: Schneller als das Licht sollten die Neutrinos unterwegs gewesen sein. Einsteins Relativitätstheorie sollten die Messungen außer Kraft setzen. Doch nun müssen sich die Wissenschaftler die Frage gefallen lassen, ob tatsächlich die Physik in ihren Grundfesten - oder nur die Festigkeit einer Kabelverbindung erschüttert wurde.
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© AFPEs gibt viele Steckverbindungen an den Computern des Cern. Möglicherweise saß eine nicht richtig.

Albert Einsteins Relativitätstheorie schien außer Kraft gesetzt zu sein. Und mit ihr das Dogma der Physik, wonach sich nichts schneller als das Licht bewegen kann. Entsprechend groß war die Aufregung unter Fachleuten wie Laien, als Elementarteilchenphysiker im vergangenen Herbst von Partikeln berichteten, die überlichtschnell unterwegs sind. Die Physiker hatten Neutrinos - elektrisch neutrale Elementarteilchen, die nahezu ungehindert durch Materie fliegen - vom Europäischen Forschungszentrum Cern bei Genf quer durch die Erdkruste bis nach Italien geschossen.

Dort, unter dem fast 3000 Meter hohen Granitberg Gran Sasso, wurden einige der Partikel in einem empfindlichen Detektor aufgefangen. Als die Physiker die Flugzeit der Neutrinos während der 730 Kilometer langen Wegstrecke präzise vermaßen, stellten sie das Ungeheuerliche fest: Der vom Cern ausgesandte Partikelstrom erreichte den Gran Sasso schneller, als ein Lichtstrahl für diese Strecke bräuchte.

War tatsächlich die moderne Physik in ihren Grundfesten erschüttert? Oder spielte der komplizierte Versuchsaufbau des Experiments mit dem Namen "Opera" einen teuflischen Streich? Bis in kleinste Details diskutierten Experten seit der ersten Veröffentlichung der Opera-Daten im September 2011 mögliche Fehlerquellen, unter anderem die auf GPS-Signalen basierende Distanzmessung. Nun zeigt sich: Es gab mindestens einen Fehler, einen höchst trivialen - einen schlecht sitzenden Stecker.

Sollte das die Messungen verfälscht haben, wäre es für die Experimentalphysiker eine Peinlichkeit erster Klasse. Zwar haben die Opera-Forscher nie explizit die Entdeckung überlichtschneller Neutrinos verkündet, doch schon die Veröffentlichung der Messdaten und die damit einhergehenden Spekulationen haben ein enormes Echo in der Öffentlichkeit erzeugt. Zusätzlich verstärkt wird nun die Fallhöhe dieses Dramas, weil die Opera-Forscher nach der ersten Veröffentlichung im September 2011 ihre Versuche mit einem verfeinerten Neutrinostrahl wiederholten und im November die These von den überlichtschnellen Elementarteilchen erhärteten.

Die fehlerhafte Steckverbindung ist offenbar zwischen einem optischen Glasfaserkabel und einem mit einem Computer verbundenen GPS-Empfänger gefunden worden. Das ist eine neuralgische Stelle des Versuchsaufbaus, denn die gesamte Zeitmessung basierte auf Atomuhren in Genf und unter dem Gran Sasso, die mit GPS-Signalen synchronisiert wurden.

Verquaste Erklärung des Cern

Nachdem man die lockere Kabelverbindung befestigt hatte, seien Messsignale schneller durch die Elektronik des Versuchs geflossen, berichten Insider. Das könne den Vorsprung von 60 Milliardstel Sekunden mehr als wettmachen, um den die Neutrinos schneller als ein Lichtstrahl zwischen Genf und dem Gran Sasso unterwegs zu sein schienen.

"Die ganze Kollaboration tippt darauf, dass sich nach der Korrektur der Fehler der gemessene Effekt deutlich abschwächt", sagt die am Opera-Experiment beteiligte Hamburger Physikerin Caren Hagner. Im Herbst 2011 hatte sie ihre Unterschrift auf der ersten Veröffentlichung der merkwürdigen Neutrino-Messungen verweigert. Im November stimmte sie schließlich zu, sagt heute jedoch, die Veröffentlichung der Daten sei verfrüht gewesen. "Man hat den Aufbau zwar penibel überprüft, aber eben nicht zwei Mal oder drei Mal", bedauert Hagner.

Offenbar aufgeschreckt durch Berichte im Internet, sah sich die Leitung des Opera-Experiments am Donnerstag zu einer schriftlichen Stellungnahme veranlasst. Doch diese klingt ähnlich verquast wie die Ausflüchte eines Sportlers unter Dopingverdacht. Von zwei möglichen Fehlerquellen ist dort die Rede, wobei eine den gemessenen Effekt verstärken und die andere ihn dämpfen könne. Zwar nennt auch die Pressemitteilung die fehlerhafte Steckverbindung in der Elektronik, erklärt das jedoch nicht ausdrücklich zur Ursache der aller Wahrscheinlichkeit nach falschen Messdaten.

Man müsse nun weitere Versuchsreihen anstellen. Offenbar erwägt das Cern angesichts des allgemeinen Interesses an den Neutrino-Messungen, eine für Mai geplante Messreihe nun vorzuziehen und den Neutrino-Strahl schon bald wieder in Richtung des Gran-Sasso-Massivs zu lenken.