Von Potenzpillen bis zu Herz- und Krebsmedikamenten werden Arzneimittel gefälscht und als echt verkauft. Noch bedrohlicher: Kriminelle schleusen gepanschte, kaum nachzuweisende Rohstoffe in das weltweite Produktionsnetz seriöser Hersteller ein - mit lebensgefährlichen Folgen. Wie Qualitätsmanager das Problem lösen wollen.
gefälschte Medikamente
© Pfizer (aus Ermittlungsakten)So gut wie jedes Medikament wird kopiert. So wurden von 60 Pfizer-Produkten Fälschungen in 104 Ländern sichergestellt, darunter Mittel zur Behandlung von Krebs, HIV, hohem Cholesterin, Alzheimer, Bluthochdruck, Depressionen, rheumatischer Arthritis und Antibiotika. Hier wird in Pakistan eine Fälschung des Hustensafts Corex abgefüllt. Das Original wird in Indien, Pakistan, Bangladesch und anderen südasiatischen Märkten vertrieben.
Medikamente sollen Kranke gesund machen - theoretisch jedenfalls. Für fast 400 Menschen in Panama, die meisten von ihnen Kinder, brachte ein Hustensaft jedoch den Tod. Denn der Saft, den Eltern ihren Kindern gaben, war statt mit dem süßen, sirupartigen Lebensmittelzusatzstoff Glycerin mit giftigem Diethylenglykol versetzt. Diese billige, ebenfalls süßliche Substanz kennen Autofahrer als Frostschutzmittel. In einem Hustensaft hat sie nichts verloren: Sie löst Nierenversagen und Lähmungen im Körper aus, sodass die Atmung stoppt.

Auch wenn die Tragödie mit Panama ein Schwellenland traf: Gepanschte und gefälschte Medikamente können jeden treffen. Sie sind längst zum Problem auch in hoch industrialisierten Staaten geworden.

Denn längst sind es nicht mehr nur Lifestyle-Medikamente wie das Potenzmittel Viagra, muskelaufbauende Anabolika oder Abnahmepillen, die illegal vertrieben wurden. Inzwischen hat sich der kriminelle Schattenmarkt auf sämtliche Bereiche der Pharmaka und die legalen Verkaufswege ausgedehnt. „Arzneimittelfälschungen stellen ein hohes Risiko für die Gesundheit der Patienten dar“, betont das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in einem aktuellen Bulletin. Mit einer neuen, im vorigen Sommer verabschiedeten Richtlinie gegen Arzneimittelfälschungen versucht die Europäische Union nun gegenzusteuern, bevor die Kontrolle über sichere Medikamente vollends entgleitet.

Kriminelle Energie, weltweit vernetzt

Was Behörden und Qualitätsmanager in den Pharmakonzernen gleichermaßen alarmiert: Die weltweiten Lieferketten der Pharmaproduktion sind inzwischen so verzweigt, komplex und unübersichtlich, dass selbst seriöse Hersteller nicht mehr sicherstellen können, dass in den Medikamenten immer genau das steckt, was hineingehört. Denn sie müssen sich auf ihre Zulieferer verlassen. Doch genau hier liegt das Problem, wie Martin VanTrieste, oberster Qualitätshüter des weltweit größten Biotechnikunternehmens Amgen aus Kalifornien sagt: „Kriminelle sind in unsere Versorgungsketten eingedrungen, sie nutzen deren Komplexität.“
Verschleierte Lieferpfade Pharma-Mafia
© RX-360
Er spricht nicht von Lieferanten, die hier und da versuchen Kosten zu sparen, indem sie suboptimale Ware liefern. VanTrieste warnt vor einer ganz neuen Qualität des Betrugs bei den Zulieferern von Medikamentenrohstoffen: „Kriminelle, die riesige Profite machen und denen es völlig egal ist, ob sie Menschen gefährden.“

Das tödliche Diethylenglykol im Hustensaft aus Panama ist ein Paradebeispiel dafür. Es zeigt, was für fatale Folgen die Kombination aus weltumspannenden Lieferketten, krimineller Energie, Schlamperei und Gutgläubigkeit haben kann. Und es ist einer der wenigen Fälle weltweit, der inzwischen lückenlos aufgeklärt ist.

Am Beginn der Lieferkette stand die inzwischen geschlossene chinesische Taixing Glycerin Factory in Hengxiang. Dort füllten Mitarbeiter giftiges Glykol in blaue Fässer und deklarierten es als ungiftiges Glycerin. Über mehrere Zwischenhändler und Verladeschritte gelangten die vielfach umetikettierten Fässer über Spanien nach Panama. Dort mischte die Gesundheitsbehörde das Gift in 260 000 Flaschen Hustensaft - unwissentlich, aber ohne Sicherheits-Check. Schließlich war der Rohstoff mit jeder Transportstufe seriöser geworden.

Tödliche Zulieferungen

Im Spätsommer 2006 kam der Hustensaft in Umlauf. Ab September mehrten sich in Panama-Stadt lebensbedrohliche Fälle von Nierenversagen und Lähmungen, die zu keinem bekannten Krankheitsbild passten. Der Infektionsspezialist Néstor Sosa wurde zu Hilfe gerufen, denn zunächst vermuteten die Ärzte einen neuen Erreger. Sosa kam schließlich der Ursache auf die Spur: „Es ist kein Virus, das die Menschen umbringt, es ist unser Medikament.“

Auch in Europa ist die Gefahr, auf solche tödlichen Zulieferungen hereinzufallen, enorm gestiegen. Das belegen Analysen der EU-Kommission. Viele der rund 700 europäischen Pharmahersteller beziehen Vorprodukte und sogar die aktiven Arzneimittelwirkstoffe aus Drittländern. Vor allem die Generikahersteller lassen sich die Wirksubstanzen von außereuropäischen Herstellern liefern. Laut EU-Analyse haben Generikaunternehmen zwischen 200 und 1000 solcher Zulieferer. Insgesamt versorgen etwa 4500 Lieferanten mit 20 000 Produktionsstätten Europas Pharmaindustrie mit medizinischen Wirkstoffen. 90 Prozent der Produktion stammt aus Indien und China.

Weil auch die Medikamentenhersteller längst nicht mehr alle Lieferanten persönlich kennen, versuchen sie sich vor bösen Überraschungen zu schützen: Sie nehmen Stichproben der eingehenden Ware und analysieren sie, bevor sie sie weiterverarbeiten. Tatsächlich hätte ein solcher Check auch die Todesfälle in Panama verhindert. Das giftige Glykol wäre sofort aufgefallen.

Doch auch die Fälscher lernen dazu und werden immer professioneller. Sie umgehen gezielt die Qualitätstest und tricksen die Analytiker aus. Selbst seriöse Hersteller können so perfekt getäuscht werden, dass sie guten Gewissens ein tödliches Produkt über die ganz legalen Vertriebswege wie Apotheken und Kliniken verkaufen.

Neu und beunruhigend

Genau das passierte beim Blutgerinnungshemmer Heparin. Er wird Patienten in Kliniken standardmäßig nach Operationen gespritzt, damit sich keine Blutgerinnsel bilden, die eine Thrombose oder einen Infarkt auslösen könnten. Heparin wird aus dem Schweinedarm gewonnen. Weil im bevölkerungsstarken China auch viel Schweinefleisch gegessen wird, hat sich das Land zum weltweit wichtigsten Lieferanten von Heparin entwickelt.

Doch dann raffte eine Virusinfektion die chinesischen Schweinebestände dahin, das Heparin wurde knapp - und teuer. Anfang 2008 stieg der Marktpreis innerhalb weniger Wochen um 400 Prozent. Kriminelle erkannten ihre Chance und streckten das Produkt mit einer heparinähnlichen Substanz, dem sogenannten übersulfatierten Chondroitinsulfat (OSCS). Es ist etwa 200-mal billiger als Heparin.

Der Vorteil für die Fälscher: OSCS war praktisch nicht nachzuweisen. Denn auch OSCS hemmt die Blutgerinnung - zwar anders als Heparin, aber es reichte, um den Gerinnungstest der Qualitätsanalysen zu täuschen. So passierte die gepanschte Ware alle Sicherheitskontrollen, sowohl in China als auch in Europa und USA. Dass etwas nicht stimmte, fiel erst auf, als erste allergische Reaktionen mit Todesfolge gemeldet wurden. Sie summierten sich weltweit auf knapp 100 Fälle.

„Da klingelten bei uns und vielen anderen in der Branche die Alarmglocken“, sagt Amgen-Qualitätsmanager VanTrieste: „Es war offensichtlich, dass da etwas ganz Neues und sehr Beunruhigendes passierte.“

Wie kurz zuvor beim giftigen Melamin in chinesischem Milchpulver kamen Fälschungen in Umlauf, die biochemisch so perfekt waren, dass sie jede Kontrolle passierten. Eine neue Generation von Fälschern war am Werk, die genau wusste, was sie tat. Eine echte Molekül-Mafia.


Kommentar: Es stellt sich die Frage, ob und in wie weit bestimmte Ebenen der Pharmaindustrie selbst in der Panscherei involviert sind, oder dies wissentlich zulassen; gerade im Hinblick darauf, dass Experten am Werk zu sein scheinen.


Putzaktion für Lieferkette

VanTrieste und andere Verantwortliche großer Pharma- und Biotechunternehmen gründeten deshalb 2009 ein internationales Konsortium namens RX-360. RX steht dabei als lateinische Abkürzung für rezeptpflichtige Medikamente, 360 für den globalen Rundumblick. Anfangs war VanTrieste Vorsitzender des Bündnisses, heute ist er Kämmerer.

Gemeinsam wollen die Hersteller mit Informationen, Lehrgängen, Fachtagungen, einheitlichen Kontrollen und Standards dafür sorgen, dass ihre Versorgungskette - die Supply Chain - sauber bleibt. Das könnten selbst große Unternehmen unmöglich alleine bewältigen, ist VanTrieste überzeugt. Auch das habe das Heparin-Desaster klargemacht. Denn hier war nicht eine Behörde einer mittelamerikanischen Bananenrepublik geleimt worden, sondern ein multinationaler Pharmakonzern.

Maßgeblich betroffen von den Machenschaften der Molekül-Mafia war der US-Pharmakonzern und Heparin-Hersteller Baxter. Der bezog seinen Rohstoff von den Scientific Protein Laboratories aus Wisconsin. Die bekamen es von ihrer chinesischen Tochter Changzhou SPL Company.

Die Komplexität weltweiter Lieferketten bietet ideale Bedingungen für Fälscher und Raubkopierer. Sie haben die Pharmabranche als Tummelplatz entdeckt. Der CDU-Europa-Parlamentarier Peter Liese sagt: „Arzneimittelfälschungen haben die Dimensionen des Drogenhandels erreicht.“


Kommentar: Ein interessanter Vergleich. Wir wissen bereits, dass der 'Krieg gegen den Drogenhandel' eine Farce ist. Haben wir es hier mit etwas Ähnlichem zu tun?


Schattenwirtschaft der Medikamente

Tatsächlich lässt sich mit gefälschten Medikamenten sogar mehr verdienen als mit Drogen. Nach Angaben der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände liegt der Schwarzmarktpreis für ein Kilogramm des gefälschten Potenzmittels Viagra bei etwa 90 000 Euro. Ein Kilo Kokain ist für geschätzte 65 000 Euro zu haben.

Die Profite sind immens, verglichen mit anderen Fälschungen, rechnet RX-360-Aktivist VanTrieste vor: Während sich aus 1000 Dollar mit gefälschten DVDs oder Gucci-Handtaschen 10 000 Dollar ergaunern ließen, betrage der Gewinn bei Drogen 100 000 Dollar - und bei gefälschten pharmazeutischen Produkten eine Million Dollar.

Darüber hinaus ist das Pharmageschäft eine recht gefahrlose Sache. Jedenfalls im Vergleich zum illegalen Waffen- und Drogenhandel, wo weltweit hohe Strafen drohen und die Gefahr besteht, von einem Kunden oder Konkurrenten erschossen zu werden. Aus dieser Szene stammen die meisten der bisher gefassten und verurteilten Arzneimittelfälscher.

Einen ersten kometenhaften Anstieg erlebte die Schattenwirtschaft der Medikamente mit Lifestyle-Produkten wie der kleinen, blauen Potenzpille Viagra des weltweit umsatzstärksten Pharmakonzerns Pfizer. Sie wird illegal und rezeptfrei vor allem über das Internet vertrieben.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Von 60 weiteren Pfizer-Medikamenten wurden in 104 Ländern Kopien gefunden, darunter Mittel zur Behandlung von Krebs, HIV, hohen Cholesterinwerten, Alzheimer, Bluthochdruck, Depressionen, rheumatischer Arthritis oder auch Antibiotika.

Giftige Kapseln

Anderen Pharmaunternehmen ergeht es kaum besser: Auch das zeitweise sehr gefragte Grippemedikament Tamiflu von Roche wurde vielfach kopiert, außerdem Schmerzmittel, Diuretika, Krebsmittel. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind mindestens 50 Prozent der im Internet vertriebenen Medikamente und etwa zehn Prozent aller weltweit verkauften Arzneimittel Fälschungen.

Die hohe Kunst der Fälscher besteht dabei längst nicht mehr im Pillenpressen allein. Das ist der leichteste Teil der Übung. Perfektion erlangen die Fälscher vor allem darin, Lieferwege und Sicherheitsschranken so gut zu durchschauen, dass Prüfer auf gefälschte Sicherheits- und Analysezertifikate hereinfallen.

So etwa jüngst bei einer völlig unwirksamen Fälschung des Biotechkrebsmedikaments Avastin. Sie gelangte über mehrere Zwischenhändler von Europa über Ägypten nach Großbritannien und in die USA.

Eine zentrale Rolle spielt dabei Klaus-Rainer Tödter, Chef und Eigentümer des Handelshauses Hadicon aus dem schweizerischen Zug. Er verkauft Arzneimittel von einem Land ins nächste. Parallelimporte preiswerter Pillen aus Drittstaaten in Hochpreisländer bieten satte Gewinnmargen.

Doch Tödter ist, wie er der WirtschaftsWoche sagte, noch nie einem gefälschten Produkt aufgesessen - bis jetzt. Doch die Verpackungen der inhaltstofffreien Glasfläschchen, die Tödter vom ägyptischen Zwischenhändler Sawa bezog, sahen täuschend echt aus. Sie waren so gut, dass selbst der Hersteller des Originalpräparats, das Schweizer Unternehmen Roche, Mühe hatte, die Fälschungen zu erkennen.

Perfekt nachgemacht

Tödter hatte schon mehrfach von Sawa gekauft, ohne getäuscht worden zu sein. Doch diesmal hatten die Ägypter über einen syrischen Mittelsmann 167 Packungen des teuren Krebsmedikaments aus der Türkei bezogen. Tödters Hadicon verkaufte sie an den dänischen Zwischenhändler Caremed, der sie wiederum nach Großbritannien lieferte. Dort fiel der Schwindel auf, die britische Gesundheitsbehörde zog im November vorigen Jahres 126 Packungen ein. Drei Monate später tauchten fünf der noch 41 vermissten Packungen in den USA auf.

Tödter hat nach dem GAU alle seine Sicherheitssysteme und behördlich geprüften Prozesse überprüft. Doch die Schwierigkeit, eine solche Fälschung zu erkennen, bleibt. Denn bei Produkten wie Avastin versiegelt der Hersteller jede Verkaufsverpackung. Nur der Arzt darf sie öffnen - und geöffnet darf sie nicht weiterverkauft werden, so Tödter: „Das heißt, wir können weder den Flascheninhalt noch die Flasche sehen, sondern nur die Umverpackung.“

Auch in diesem Fall hatten sich Fälscher ihr Wissen über Sicherheitsstandards zu eigen gemacht. Besonders perfide: Das Versiegeln soll an sich dem Schutz der Patienten dienen und verhindern, dass der Flascheninhalt manipuliert wird. Die Fälscher brauchten sich deshalb nicht die Mühe zu machen, die Substanz selbst nachzuahmen, sie kopierten nur die Packungen.

Um das kriminelle Treiben einzudämmen, hat die EU im vorigen Sommer eine Richtlinie verabschiedet, die auf neue und fälschungssichere Kennzeichnungsformen wie Hologramme oder zweidimensionale Barcodes setzt. Diese werden auf digitalen Tickets schon heute eingesetzt. Damit soll sich jede einzelne Pillenpackung jederzeit identifizieren lassen.

In Deutschland haben sich Arzneimittelhersteller, Pharmagroßhändler und Apotheken inzwischen zur Initiative Securpharm zusammengetan, um das System des 2-D-Datamatrixcodes zu testen. Einige Hersteller werden in einem 2013 beginnenden Pilotprojekt erste rezeptpflichtige Präparate damit kennzeichnen. Die am Projekt beteiligten Apotheken werden mit Scannern ausgestattet. Der Vorteil der neuen Technik liegt laut designiertem Securpharm-Geschäftsführer Reinhard Hoferichter darin, dass jede Medikamentenpackung zweimal kontrolliert wird: beim Eintritt in die Vertriebskette und beim Austritt.

Für Waren, die wie beim Heparin die Vorlieferanten der Pharmaunternehmen betreffen, sind solche Kennzeichnungen noch nicht geplant. Hier investieren die Firmen vermehrt in lückenlose Kontrollen der komplexen Kette - im Zweifelsfall vom Schwein bis zur Spritze. Nicht ohne Grund gebe Amgen bis 2015 allein 300 Millionen Dollar für solche präventiven Schutzmaßnahmen aus, sagt VanTrieste.

Weitere Bausteine im Schutzwall vor der Molekül-Mafia sind globale Netzwerke wie RX-360. Tatsächlich gehen dort nun laufend Meldungen über Auffälligkeiten im Pharmageschäft aus aller Welt ein.