Zwei Nasa-Raumsonden flogen viel langsamer, als sie sollten. Wissenschaftler versuchten vergeblich, das Phänomen zu klären, stellten sogar Newtons Gravitationstheorie in Frage. Jetzt ist das Rätsel entschlüsselt.
Raumsonde
© NASANach Jahren wissenschaftlicher Detektivarbeit können Nasa-Forscher das Phänomen nun erklären
Zunächst verlief der Flug der beiden Pioneer-Raumsonden der US- Raumfahrtbehörde Nasa, die in den Jahren 1972 und 1973 gestartet waren, völlig normal. Um 1980 entdeckten Forscher in den Signalen von Pioneer 10 jedoch einen rätselhaften Effekt. Die Sonde war damals etwa 20 Astronomische Einheiten von der Erde entfernt und flog damit ungefähr auf der Höhe des Planeten Uranus (1 AE entspricht dem Abstand der Erde zur Sonne von knapp 150 Millionen Kilometern). Frequenzverschiebungen in ihren Radiosignalen ließen erkennen, dass eine unbekannte Kraft sie zur Sonne hin lenkte.

Im Januar 2003 riss die Kommunikation mit dem Späher ab. Zu diesem Zeitpunkt lag er 400 000 Kilometer hinter der berechneten Position zurück. Das Phänomen machte sich auch bei Pioneer 11 bemerkbar, ebenso bei dem Sonnensatelliten Ulysses. Als so genannte Pioneer-Anomalie geriet es in der Folge weltweit in die Schlagzeilen.

Unbekannte Gravitationskräfte vermutet

Unverzüglich begannen Nasa-Physiker mit der Suche nach möglichen Erklärungen. Zunächst fiel ihr Verdacht auf den Rückstoß von aus den Treibstofftanks austretendem Gas oder elektromagnetischen Kräften aufgrund statischer Aufladung der Sonden. Doch nichts davon ließ sich erhärten. Deshalb vermuteten einige Forscher, dass unbekannte Gravitationskräfte an den Flugkörpern zerren. Damit geriet eine Theorie ins Blickfeld, die der israelische Physiker Mordehai Milgrom 1983 entworfen hatte, um das Rotationsverhalten von Galaxien auch ohne die sogenannte Dunkle Materie zu erklären. „Modifizierte Newton´sche Dynamik“ nannte er sie, kurz MOND. Ihr zufolge wirkt die Anziehungskraft der Sonne auf langsam fliegende Körper mit steigendem Abstand erst schwächer, dann aber wieder etwas stärker ein.

Damit wäre das klassische Gravitationsgesetz des britischen Physikers Isaac Newton im äußeren Sonnensystem außer Kraft gesetzt. Es besagt, dass sich die Schwerkraft zwischen zwei Körpern linear mit dem Quadrat ihres Abstands abschwächt. Die MOND-Hypothese steht auch in Widerspruch zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, die bislang noch jeden Test bestand. Sie beschreibt die Schwerkraft als geometrisches Phänomen: Massen krümmen den Raum, daher rollen zwei Körper wie auf einer aufgespannten Gummimembran, die sie mit ihrem Gewicht eindellen, sozusagen aufeinander zu. Dennoch wollte Milgrom mit seiner MOND-Theorie auch die Pioneer-Anomalie erklären.

Jetzt aber verlautbarten Nasa-Ingenieure, sie hätten die wahre Ursache der befremdlichen Anomalie gefunden. Ihren Berechnungen zufolge bremste die Wärme, die durch elektrische Ströme in den Leitungen der Bordinstrumente und der thermoelektrischen Energieversorgung entsteht - Stromquelle ist eine Plutonium-Batterie - , die Raumsonden ab. Der Effekt sei schwach, aber messbar.

„Rückstoß“ wirkt als Bremse

„Es ist, als ob man ein Auto fährt und die Photonen der Scheinwerfer dabei leicht nach hinten drücken. Das ist sehr subtil“, erklärt der Astrophysiker Slawa Turischew vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) der Nasa im kalifornischen Pasadena. Er ist Hauptautor der zugehörigen Studie, die im Fachjournal Physical Review Letters erscheint. Anders gesagt: Die Scheinwerferbirnen strahlen die Lichtteilchen in Fahrtrichtung ab. Dabei entsteht ein leichter Rückstoß, der den Wagen abbremst. Auf der Erde ist der Effekt nahezu unmessbar klein, in der Schwerelosigkeit des Alls dagegen kann er durchaus eine Rolle spielen.

Zunächst hatte sich der JPL-Physiker John Anderson mit der Pioneer-Anomalie befasst. Er vermutete eine profane Ursache für die Entschleunigung, ein Hitzeleck in den Plutoniumbatterien etwa oder eine undichte Treibstoffleitung. Doch war nur schwer vorstellbar, dass solche Defekte bei den Sonden in exakt gleicher Weise auftraten. Dann nahm Anderson gemeinsam mit anderen Experten alle technischen Details der Mission unter die Lupe, vom Design der Sonden bis zu den Antennen des Bahnverfolgungssystems. Ihre Befunde veröffentlichten die Weltraum-Detektive im September 2002 in einer umfangreichen Studie. Eine Erklärung für die Abbremsung hatten sie nicht gefunden. „Erweist sich der Effekt weiterhin als real“, schrieben sie ratlos, „könnte er mit kosmologischen Größen zusammenhängen.“ So könne im Sonnensystem vorhandene Dunkle Materie durch ihre Gravitation die Sonden bremsen, oder tief im All ändere sich, wie von der MOND-Theorie postuliert, einfach die Schwerkraft.

Im Jahr 2004 schaltete sich dann Turischew ein. Er besorgte sich alle von den Sonden zur Erde gesandten Daten, die in verschiedenen Forschungszentren aufbewahrt wurden, und begann, sie zu analysieren. Dabei schlug er auch vor, eine spezielle Raumsonde ins All zu entsenden, um den Effekt zu erforschen. Die Analyse erwies sich als wahre Sisyphus-Arbeit. Die Aufzeichnungen umfassten die gesamte Kommunikation zwischen den Sonden und den irdischen Empfangsstationen. Sie enthielt die Signale der Messinstrumente ebenso wie die Telemetriedaten, die Auskunft über den Zustand der Instrumente und der Energieversorgung gaben. Zum Teil waren sie noch auf Lochkarten gespeichert, die das JPL-Forscherteam erst mühsam digitalisieren musste. Es untersuchte auch die Aufzeichnungen der Navigatoren, die halfen, die Sonden durch das Sonnensystem zu steuern.

Schlüssel lag in Konstruktion der Sonde

Später entdeckten Turischew und seine Kollegen in einem Treppenhaus des JPL noch über ein Dutzend Magnetbänder. Insgesamt fielen über 43 Gigabytes an Daten an, was nach heutigen Verhältnissen wenig erscheint, für die 1970er- und 1980er-Jahre aber eine riesige Menge ist. Zum Glück trieb die Gruppe noch ein Abspielgerät für die Magnetbänder auf, das bereits zum Verschrotten vorgesehen war. Schließlich kann ein kanadischer Programmierer, der von dem Forschungsvorhaben des JPL gehört hatte, der Arbeitsgruppe zu Hilfe. Er schrieb ein Programm, das die auf den Magnetbändern enthaltenen Daten lesen und in aktuelle Computersprachen umschreiben konnte.

Schließlich hatten alle Anstrengungen Erfolg, und Turischew und seine Kollegen konnten die Effekte rekonstruieren, die zur Abbremsung der Sonden führten. Der Schlüssel liegt in ihrer Konstruktion: Allgemein sind ihre Funkantennen auf die Erde ausgerichtet, und damit entgegen der Flugrichtung. In ihnen sammelt sich die von der Batterie und den Instrumenten abgegebene Wärme. Sie wird in Form von Infrarot-Photonen allerdings von der Antennen-Rückseite abgestrahlt, die in Flugrichtung weist. Dadurch erfolgt ein leichter Gegendruck, der den Späher langsam abbremst. Bei den Pioneer-Sonden kommt eine Besonderheit hinzu: Ihre Lageregelung erfolgt nur durch Rotation. Andere Flugkörper, etwa die 1977 gestarteten Voyager-Sonden, werden mit in allen drei Achsen angeordneten Steuerdüsen auf Kurs gehalten. Sie üben zahlreiche zusätzliche Einflüsse auf die Bewegung der Späher aus, so dass der Bremseffekt kaum messbar ist.

Turischew ist zuversichtlich, die Pioneer-Anomalie nun endgültig entschlüsselt zu haben. „Die Geschichte findet ihren Abschluss, dabei stellt sich heraus, dass die konventionelle Physik erhalten bleibt“, resümiert er. „Natürlich wäre es aufregend gewesen, eine neue Art von Physik zu entdecken, doch wir haben immerhin ein Rätsel gelöst.“