Schädel unbekannter Menschenart
© Fred SpoorDer schon 1972 entdeckte Schädel "KNM-ER 1470" nun mit dem rekonstruierten Unterkiefer "KNM-ER 600000 kombiniert" (Illu.).
Nairobi (Kenia) - Im nördlichen Kenia, im Osten des Turkana-Sees, haben Wissenschaftler die versteinerten Überreste einer bislang unbekannten Frühmenschenart entdeckt. Der Fund beweist, dass vor rund zwei Millionen Jahren der afrikanische Kontinent zeitgleich von mindestens drei frühen Menschenarten bewohnt wurde. Zugleich widerspricht die Entdeckung der bislang gehegten Vorstellung einer sanften linearen Evolution vom Affen über den Menschenaffen bis zum modernen Menschen.

Wie die Wissenschaftler um Meave und Louise Leakey vom Turkana Basin Institute aktuell im Fachmagazin Nature berichten, sind die Fossilien - ein Gesichtsschädel, ein bemerkenswert vollständiger Unterkiefer und der Teil eines zweiten Unterkiefers - zwischen 1,78 und 1,95 Millionen Jahre alt.

Die Funde stützen vorige Theorien zu einem Fund aus dem Jahre 1972. Damals entfachte ein Schädel mit der Bezeichnung "Fossil KNM-ER 1470" (kurz: "1470"), der sich durch ein großes Gehirn und ein langes flaches Gesicht auszeichnet, eine langjährige Debatte darüber, wie viele verschiedene Arten des frühen Homo es neben Homo erectus während des Pleistozäns außerdem noch gegeben hatte. Einige Kritiker der Theorie mehrerer Vormenschenarten, führten die ungewöhnlichen morphologischen Eigenschaften des Fossils auf sexuelle Unterschiede und die natürliche Variation innerhalb ein und derselben Art zurück. Andere Forscher hingegen sahen in diesem Fossil schon damals Hinweise auf eine andere Spezies.

"Dieses Jahrzehnte andauernde Dilemma blieb aus zwei Gründen bestehen", erläutert die Pressemitteilung des Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (eva.mpg.de), das die Auswertung der Funde im Rahmen des Koobi Fora Forschungsprojekts (Koobi Fora Research Project, KFRP) mit wissenschaftlichen Analyse der Fossilien unterstützte. "Zum einen waren Vergleiche mit anderen Fossilien nur bedingt möglich, da das Fossil 1470 keine Zähne und keinen Unterkiefer enthielt. Zum anderen fand man keine weiteren fossilen Schädel mit ähnlich flachen und langen Gesichtern wie beim Fossil 1470, sodass angezweifelt wurde, wie repräsentativ diese Eigenschaften tatsächlich sind. Die neu entdeckten Fossilien helfen nun bei der Auflösung dieses Dilemmas."

Die Funde vom Turkana-See in 3D:

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"In den vergangenen 40 Jahren haben wir in den gewaltigen Sedimentflächen rund um den Turkana-See angestrengt nach Fossilien gesucht, die die einzigartigen Merkmale des Gesichts von Fossil 1470 teilen und uns zeigen, wie seine Zähne und sein Unterkiefer ausgesehen hätten”, erläutert Meave Leakey. "Endlich haben wir nun einige Antworten gefunden". "Zusammengenommen geben uns die drei neuen Fossilien Aufschluss darüber, wie das Fossil "1470" tatsächlich ausgesehen hat", sagt Fred Spoor, Leiter der wissenschaftlichen Analysen und Wissenschaftler in der Abteilung Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. "Jetzt ist klar, dass zwei weitere frühe Vertreter der Gattung Homo neben Homo erectus lebten. Die neuen Fossilien werden uns dabei helfen aufzudecken, wie unser Zweig der menschlichen Evolution vor fast zwei Millionen Jahren entstand und zu blühen begann."

Die drei neuen Fossilien wurden in einem Radius von etwa zehn Kilometer von der Fundstelle des Fossils 1470 gefunden. Das Gesicht "KNM-ER 62000", das 2008 von entdeckt wurde, ist dem von "1470" sehr ähnlich und zeigt, dass Letzteres nicht lediglich ein Individuum war, das hinsichtlich seiner morphologischen Eigenschaften sozusagen "aus der Reihe tanzte". Darüber hinaus enthält der gut erhaltene Oberkiefer des Gesichtsschädels noch fast alle Backenzähne. Dies ermöglicht den Forschern nun erstmals zu schlussfolgern, wie der Unterkiefer von "1470" beschaffen gewesen sein könnte. Eine besonders gute Entsprechung findet sich auch bei den anderen beiden neuen Fossilien, dem Unterkiefer "KNM-ER 60000", der 2009 gefunden wurde und dem Teil eines weiteren Unterkiefers ("KNM-ER 62003") von 2007. "KNM-ER 60000" ist der am vollständigsten erhaltene Unterkiefer eines frühen Vertreters der Gattung Homo, der jemals entdeckt wurde.

Statt also einem sanften evolutionären Übergang vom Affen über den Menschenaffen bis hin zum modernen Menschen, belegen die Funde nun schon sehr früh eine deutliche Diversität innerhalb unserer Art: "Unsere Art entwickelte sich in der gleichen Art und Weise, wie andere Tierarten auch", so Leakey gegenüber der BBC. "Bis zu jenem Zeitpunkt, an dem wir damit begannen, komplexe Steinwerkzeuge herzustellen, gab es keine Einzigartigkeit. So funktioniert Evolution nun einmal."


Quellen: turkanabasin.org, mpg.de, eva.mpg.de