forest lake in summer
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Neuentdeckter Atmosphärenbestandteil könnte Abkühlungseffekt über Wäldern erklären

Atmosphärenchemie. - Die Erdatmosphäre verfügt über eine Reihe von Reinigungsmitteln, mit denen sie Schadstoffe wie zum Beispiel Schwefeldioxid neutralisiert. Bisher dachte man, drei gasförmige Oxidationsmittel erledigen diesen Job, doch jetzt stellt sich heraus: Die atmosphärische Putzkolonne ist kein Trio, sondern offenbar ein Quartett. Atmosphärenforscher berichten in der heutigen Ausgabe der Fachzeitschrift "Nature" von der Entdeckung eines vierten Waschmittels.

Einfach nur X - so heißt die neuentdeckte Substanz vorläufig. Weil im Moment noch niemand weiß, um welche chemische Verbindung es sich genau handelt. Klar scheint aber: Ein neues Waschmittel der Atmosphäre ist gefunden! Eines, das in der Lage ist, die Luft von Schwefeldioxid zu säubern - einem prominenten Schadstoff, den zum Beispiel Kohlekraftwerke freisetzen, wenn sie über keine Entschwefelung verfügen. X entsteht aus flüchtigen organischen Verbindungen, die die Vegetation ausdünstet. Der US-Atmosphärenchemiker Lee Mouldin:
"Bäume und Sträucher geben Substanzen an die Luft ab, die man Terpene nennt. Aus diesen Gasen muss die Substanz entstehen, die wir X nennen und die mit Schwefeldioxid reagiert."
Bisher war stets von einem Trio die Rede, wenn es um Stoffe ging, die die Luft säubern: von Ozon und von zwei sogenannten Radikalen. Das sind Moleküle mit freien Elektronen und deshalb sehr reaktionsfreudige Oxidationsmittel. Als wichtigstes von ihnen gilt das Hydroxyl-Radikal. Es besteht lediglich aus einem Sauerstoff- und einem Wasserstoff-Atom. Genau so wie die neuentdeckte Substanz X oxidiert auch dieses Radikal den Schadstoff Schwefeldioxid. Dabei entsteht gasförmige Schwefelsäure. Und aus dieser am Ende Sulfatpartikel, die die Bildung von Wolken initiieren. Allerdings entsteht die Schwefelsäure nur tagsüber. Das brachte Lee Mouldin auf die Spur des vierten Waschmittels in der Atmosphäre:
"Wir sind über Beobachtungen gestolpert, die uns zeigten, daß Schwefelsäure auch nachts gebildet wird. Theoretisch war das eigentlich nicht möglich, da zu der Zeit ja keine Hydroxyl-Radikale in der Luft vorhanden sind. Wir fragten uns: Wie kann das bloß sein?"
Das war der Moment, in dem auch andere Forschergruppen aktiv wurden. An der Universität Helsinki. Und auch am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig. Gemeinsam versuchte man das Rätsel nun zu lösen. Und die Experten aus Finnland, Deutschland und den USA hatten Erfolg. Am Ende wiesen sie das neue atmosphärische Waschmittel gleich dreimal nach, und das unabhängig voneinander: bei Laborversuchen wie auch bei Freilandmessungen in einem Nadelwald. Wobei man sich schon wundern darf, warum die ominöse Substanz X nicht schon früher aufgespürt wurde. Lee Mouldins Erklärung:
"Ein Grund ist, daß die Substanz in sehr geringen Konzentrationen in der Luft vorkommt. Außerdem ist es erst seit einigen Jahren möglich, gasförmige Schwefelsäure zuverlässig zu bestimmen. Und es gibt nicht viele Forschergruppen in der Welt, die diese Messungen beherrschen."
Interessant an dem neuen Oxidationsmittel ist vor allem seine Verbindung zum Klima. Aus der Schwefelsäure, die bei der Waschreaktion anfällt, werden jene Sulfat-Partikel, an denen sich Wassertropfen anlagern. Die Wolken, die am Ende entstehen, reflektieren einfallendes Sonnenlicht und kühlen so die unteren Atmosphärenschichten. Insofern hat die Substanz X auch einen Klimaeffekt und könnte sogar manche noch offene Frage beantworten, wie Lee Mouldin glaubt:
"Große Teile der USA haben sich im 21. Jahrhundert erwärmt. Der Südosten dagegen kühlt sich ab. In dieser waldreichen Gegend gibt es auffällig hohe Konzentrationen von Terpenen."
Soll heißen: Dort entstehen vermutlich auch große Mengen der Substanz X. Und womöglich ist sie für die regionale Abkühlung im Südosten der USA verantwortlich. Im Moment ist das aber nur eine Vermutung. Die Forscher wissen selbst: Sie müssen noch viel mehr über das geheimnisvolle Luftmolekül herausfinden.