Schaukeln drückt die Realität weg: Das Wiegen bereitet ein Gefühl des Entrücktseins. Es lindert Schmerzen und Ängste.
Mann in Schaukelstuhl
© PA/DPASchaukeln macht auch Erwachsenen Spaß. Die Wiegebewegungen machen glücklich und lindern Schmerzen und Ängste.

Der Schaukelstuhl, Inbegriff des friedlichen, erfüllten Alters, kommt zu neuen Ehren. In vielen Alters- und Pflegeheimen gehört er wieder zur Standardausstattung. Das Schaukeln und Wiegen sind wichtige Elemente auch einer neuartigen Methode namens „Basale Stimulation“. Sie findet mittlerweile buchstäblich „von der Wiege bis zur Bahre“ Anwendung.

Grundlage des an der Universität Landau in der Pfalz entwickelten Pflegeverfahrens ist die Aktivierung der Sinneswahrnehmungen. Sonderpädagoge Professor Andreas D. Fröhlich hat das Konzept 1975 zunächst für die Förderung stark körperlich und geistig behinderter Kinder entwickelt und später in Zusammenarbeit mit Kinderkrankenschwestern für die Betreuung von Frühgeborenen erweitert.

Professor Christel Birnstein, Pflegewissenschaftlerin an den Universitäten Witten/Herdecke und Bremen, übertrug die Methodik schließlich auch in den Bereich der Pflege von Menschen, die in der Wahrnehmung ihres Umfeldes nach Verletzungen oder durch Demenz schwer beeinträchtigt sind.

Eine entscheidende Rolle spielt das Gleichgewichtsorgan („Vestibularsystem“), sagt Fröhlich: „Es informiert uns über unsere Lage im Raum, über Beschleunigung, Drehen, das Auf und Ab, es sichert unser Gleichgewicht und koordiniert vor allem auch unser Sehen.

Menschen mit sehr schweren Behinderungen sind oft massiv benachteiligt, denn sie können sich nicht aktiv aufrichten, nicht durch Kriechen, Krabbeln und Gehen den Raum erobern. Wir gehen davon aus, dass solche Erfahrungen mit Schwerkraft und Lage im Raum zu den Grundbedürfnissen der Entwicklung eines Menschen gehören.“

Offensichtlich sind leichte Anregungen, wie sanftes Schaukeln, nützlich, um die Haltung eines Menschen zu stabilisieren und seine Muskelspannung zu normalisieren. „Oft konnten wir feststellen, dass sich dabei ein allgemeines Wohlbefinden einstellte.“

Beruhigung und Schmerzlinderung

Die sanften Wiegebewegungen eines Schaukelstuhls haben nicht nur eine beruhigende Wirkung, sondern machen sogar Schmerzmedikamente überflüssig. Das ergab bereits vor einiger Zeit eine amerikanische Studie bei Bewohnern eines Altenpflegeheims. Schwesternschülerinnen der Universität in Rochester im US-Bundesstaat New York haben sechs Wochen lang die Patienten eines angeschlossenen Pflegeheims beobachtet. 25 Frauen und Männer verbrachten täglich eine halbe bis zweieinhalb Stunden im Schaukelstuhl.

Wie Studienleiterin Professor Nancy Watson berichtet, schienen ihre schaukelnden Patienten deutlich ausgeglichener zu sein als die Mitbewohner. Sie verlangten seltener nach Schmerzmedikamenten und waren sicherer auf den Beinen.

Die günstigen Auswirkungen des Schaukelns auf das Gleichgewichtsorgan sind im Grunde schon seit Langem bekannt. Das Vestibularsystem sitzt im Innenohr und enthält Rezeptoren, die Bewegung, Beschleunigung und Verlangsamung, Drehung und Vibrationen empfinden. Ob wir laufen, sitzen oder liegen, wach sind oder schlafen - das Gleichgewichtsorgan informiert das Gehirn über die Lage des Körpers im Raum, ohne dass die Tätigkeit dieses Organs in unser Bewusstsein dringen würde.

Reizung des Gleichgewichts

Dass es dennoch vorhanden ist, registrieren wir erst, wenn es irritiert wird und deshalb unangenehme Empfindungen vermittelt, etwa bei der Beschleunigung eines Lifts oder beim Übelwerden auf einem schwankenden Schiff. Forschungen weisen darauf hin, dass das Vestibularsystem auch bei der Koordination anderer Sinnesreize eine große Rolle spielt. Und das schon weit vor der Geburt, offenbar braucht das System die Reize von diesem Augenblick an.

Das ist wohl allen Menschen bewusst, ohne dass sie je darüber nachgedacht hätten. Alle Eltern nehmen ein weinendes Baby auf den Arm, um es sanft hin und her zu wiegen - und reizen damit sein Gleichgewichtsorgan. Alle Menschen wissen, dass man ein Kind durch sanfte Bewegungen beruhigen und durch Schütteln aufwecken kann.

Allen Kindern macht es Spaß, sich im Kreis zu drehen, bis ihnen schwindlig wird und sie umfallen, oder wenn sie Schreckensfahrten in einer Achterbahn jauchzend genießen. Das hat alles seinen Sinn: Das Drehen und Kippen, das steile Auf und Ab, das jähe Beschleunigen und Bremsen bringt das Gleichgewichtssystem in Aufruhr und trainiert es für seine lebenswichtigen Aufgaben.

Monotones Schaukeln

Die Lust spendende Wirkung des Vestibularorgans hört nicht am Ende des Kindesalters auf - nur die Strategien wandeln sich. Jugendliche hüpfen und wackeln mit fliegenden Haaren in der Disco oder vergnügen sich auf waghalsigen Achterbahnen. Erwachsene betreiben Sport zur Entspannung und Aufregung gleichermaßen: Skifahren, Reiten, Surfen, Segeln und Tennis sind Sportarten, bei denen das Gleichgewichtsorgan intensiv beansprucht wird.

Das andere Extrem ist der Schaukelmangel: Einsame, verlassene Kinder, Heiminsassen, denen es an Zuwendung mangelt, und geistig behinderte Kinder in Anstalten schaukeln oder wackeln stundenlang monoton hin und her und zeigen damit, dass ihnen keine andere Möglichkeit verblieben ist, sich wohlzufühlen.

Solche Erkenntnisse werden mittlerweile auch gezielt bei der Behandlung von Kindern genutzt, die in ihrer motorischen oder geistigen Entwicklung zurückgeblieben sind oder unter einer gestörten Wahrnehmung von Sinnesreizen leiden. Sogenannte vestibulär-propriozeptive Sinnesinformationen mithilfe von Schaukeln, Springseilen oder Bällen sind Bestandteil der von der amerikanischen Verhaltensforscherin Jean Ayres entwickelten „sensorischen Integrationstherapie“, die auch hierzulande von vielen Ergotherapeuten angeboten wird.