Dass 1+1=2 ergibt, ist nicht so selbstverständlich, wie unsere heutige Schulweisheit uns glauben macht. Die Entwicklung von Zahlzeichen, Zahlsystemen und Rechensymbolen hat nicht nur Jahrtausende gebraucht und zwischendurch eklatante Rückschritte gemacht, sondern war auch das Feld eitler Streitereien und nationaler Eifersüchteleien.© Unbekannt
Wissen Sie, wie eine Fünf aussieht? - Nein, nicht ihr Symbol! Weder das Zeichen 5 noch V noch fünf Finger, fünf Striche oder fünf Euro. Einfach Fünf. Nur Fünf. - Keine Vorstellung?
Macht überhaupt nichts. Denn schauen wir uns die Fünf mal näher an, stellen wir fest: Es gibt sie gar nicht. Das Symbol, die Finger, die Striche, die Euro schon, aber nicht die Fünf an sich. Mögen wir sie auch jeden Tag tausendfach benutzen und vor den großen Ferien unzählige Schüler vor ihr zittern -
die wahre Fünf ist ein abstraktes Konstrukt. Eine virtuelle Errungenschaft, die unsere menschliche Kultur erst möglich machte. Die Gemeinsamkeit zwischen fünf Fingern und fünf Mammutschinken zu erkennen, war ohne Zweifel einer der größten Geniestreiche des
Homo sapiens. Denn obwohl damit das Zählen und Rechnen in seiner ganzen Komplexität seinen Anfang nahm, war alles, was nach Erfindung der Fünf (und der Eins, der Zwei, der Drei usw.) kam, im Vergleich zu diesem ersten Schritt naheliegend und einfach.
Steinzeitliche MerkhilfenLief damit beim Rechnen von Anfang an alles wie am Schnürchen? Lag uns die Mathematik womöglich gar in den Knochen? Jedenfalls hatten die frühen Mathematiker gewaltig etwas auf dem Kerbholz. Zumindest war das in der Steinzeit so.
Auf ein Alter von guten 30 000 Jahren werden die ältesten Funde von eingekerbten Knochen und Hölzern datiert - etwa die Zeit, als der Cro-Magnon-Mensch die ersten Felszeichnungen anfertigte. Welchen Zweck die Einschnitte erfüllten, ist nicht bekannt. Womöglich dienten sie als Zählhilfe: Machte man für jedes Objekt eine Kerbe, konnte man später auch ohne die Fähigkeit zu zählen leicht überprüfen, ob noch alle Schafe, Speere oder Familienmitglieder da waren. Eine Aufgabe, die ebenso gut Knoten in Schnüren aus Leder oder Pflanzenfasern übernehmen konnten. Die waren allerdings nicht dauerhaft genug, um es bis in unsere Zeit zu schaffen.
Weitaus anspruchsvoller als gewöhnliche Kerbhölzer gibt sich der Ishango-Knochen, dessen Name auf das afrikanische Fischerdorf im Grenzgebiet zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Uganda zurückgeht, wo das Relikt in den 1950er Jahren gefunden wurde. Das etwa zehn Zentimeter lange Stück Tierknochen ist wohl rund 20 000 Jahre alt und ebenfalls von Kerben überzogen. Diesmal sind die Markierungen aber zu Gruppen zusammengefasst. Der Länge nach lassen sich drei Spalten unterscheiden. Eine weist Gruppen von 11, 21, 19 und 9 Kerben auf. In der zweiten sind es 3, 6, 4, 8, 10, 5, 5 und 7 Einschnitte. In der dritten Spalte folgen 11, 13, 17 und 19 Kerben. Die Zahlen geben Anlass zu vielerlei Spekulationen. Diente der Knochen als Rechenstab? Immerhin verdoppeln sich in der mittleren Spalte die drei Kerben an einem Ende auf sechs, dann vier auf acht und anschließend werden zehn halbiert in fünf und noch einmal fünf. Für einen mathematischen Hintergrund spricht auch, dass in der dritten Spalte nur Primzahlen stehen. Ihre Summe beträgt, wie die Kerbenzahl in der ersten Spalte, genau 60. Keine Beweise, aber wenigstens Indizien dafür, dass hier die Mathematik ihre Hand mit am ritzenden Messer hatte.
Göttliche Brüche am NilFünfeinhalb Meter lang und 32 Zentimeter hoch - so sieht das vermutlich älteste bekannte Mathe"buch" der Welt aus. Und es ist eine Kopie. Angefertigt hat die Papyrusschrift mit ihren 87 Musteraufgaben und Lösungen der ägyptische Schreiber Ahmose (oder Ahmes) um das Jahr 1650 v. Chr., doch weist er am Anfang vorbildlich darauf hin, dass er nur den Inhalt eines 200 Jahre älteren Werkes wiedergibt. Zum Glück, denn dieses Original ist verloren gegangen. Die Kopie aber kaufte 1858 der schottische Ägyptologe Alexander Rhind in Luxor und brachte sie in das Britische Museum in London.
Der Ahmes-Papyrus beziehungsweise Rhind-Papyrus - zu Ehren des Schreibers oder Käufers - behandelt einmal querbeet die Mathematik des altägyptischen Alltags: dem Vorwort zufolge "genaues Rechnen, die Kenntnis aller existierenden Gegenstände und aller dunklen Geheimnisse". Die Verteilung von Brot auf unterschiedlich große Menschengruppen wird ebenso vorgeführt wie das Teilen von Getreide und die Berechnung von Grundstücksflächen. Von Pyramiden steht hier nichts, denn deren Bau lag damals bereits 500 bis 1000 Jahre zurück. Kalkulieren hatte offenbar am Nil eine lange Tradition, auch wenn uns nur wenig schriftliche Zeugnisse geblieben sind.
© Olaf Fritsche (Ausschnitt)Altägyptische Zahlhieroglyphen
In Stein meißelten die Äypter eindrucksvolle bildliche Hieroglyphen, deren Aussehen sich in einem Zehnersystem änderte.
Die seltsame Vorliebe für Stammbrüche könnte ihre Ursache in der Schreibweise altägyptischer Zahlen haben. Zwei Varianten waren damals gebräuchlich: Im alltäglichen Schriftverkehr, der auf Papyrus als Untergrund geführt wurde, dominierten hieratische Zahlzeichen, die aus einfachen Strichen und Schnörkeln bestanden. Steinerne Zeugen der Ewigkeit zierte man hingegen mit kunstvolleren Zahl-Hieroglyphen. Diese wiesen sogar schon ein Zehner-System auf, allerdings keine Anordnung mit Stellenwert. Die einzelnen Komponenten einer Zahl wurden eher nach ästhetischen Aspekten angeordnet und mussten im Kopf addiert werden. Handelte es sich um einen Bruch, schrieb man über die Zahl die Hieroglyphe für "Mund". Damit war klar, dass es sich um 1/
n handelte. Wollte man beliebige Brüche so ausdrücken, wäre die Anzahl der "Bruch-Hieroglyphen" zu sehr angewachsen und das Notieren noch komplizierter geworden als die Zerlegung in Stammbrüche.
© Olaf Fritsche (Ausschnitt)Pyramidenstumpf-Aufgabe
Sogar schwierige Berechnungen meisterten die Ägypter, wie in diesem Beispiel aus dem Moskau-Papyrus
Ganz der Bruchrechnung widmen sich die 26 Aufgaben der mathematischen Lederrolle, die Henry Rhind etwa zur selben Zeit wie den nach ihm benannten Papyrus erworben hat. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Dokument um die Prüfungsarbeit eines Schülers. Ebenso wie der Moskau-Papyrus, den der russische Ägyptologe Wladimir Semkonowitsch Golenitschew 1893 gekauft und dem Moskauer Museum der Schönen Künste geschenkt hat. Anmerkungen wie "Du hast es richtig herausgefunden" zeugen von den Fähigkeiten des fleißigen Mathematik-Studenten. Immerhin konnte er bereits das Volumen eines Pyramidenstumpfes berechnen - eine Leistung, zu der das mathematische Allzeit-Genie Euklid mehr als tausend Jahre später nicht in der Lage war.
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