In Deutschland werden jedes Jahr Hunderte Kinder und Frauen von Menschenhändlern sexuell ausgebeutet. Die Opfer sind oft noch extrem jung. Die Regierung lässt sich Zeit, etwas dagegen zu tun.
Menschenhändler, Zwangsprostitution
© pa/abaca/Olivier Douliery Das Feilbieten von Kindern und jungen Frauen durch Menschenhändler ist ein zunehmendes Problem in Deutschland – das die Bundesregierung aber nicht entschlossen angeht.
Ein Sozialgericht in einer deutschen Großstadt, Mitte dieser Woche. Der Saal klein, muffig, fahles Neonlicht. Nach 25 Minuten verkündet der Richter "das Ende in dieser Sache". Man merkt, dass ihm das Urteil unangenehm ist. Er versucht, es zu erklären. Er habe keine andere Wahl, er müsse die Gesetze anwenden. Die junge Frau, die er dabei ansieht, nickt. Aber der Richter weiß, dass sie es trotzdem nicht versteht. Es wäre wohl auch zu viel verlangt.

Diese Sache. Eine junge Frau hat geklagt. Sie will eine Entschädigung dafür, dass sie - damals ein Kind, 14 Jahre alt - aus Nigeria nach Deutschland verschleppt wurde, um ihren Körper zu verkaufen, an Männer, die schnellen Sex wollen. Die Polizei fand Yamina* in einem Bordell namens "Erotic Tempel Crazy Sexy".

Der Termin an diesem Tag ist das Ende einer langen Kette. Yamina hat einen Strafgerichtsprozess überstanden, in dem ihre Zuhälterin und ein Helfer rechtskräftig verurteilt wurden, was selten ist. Sie hat ein neues Leben begonnen, es ist trotz der eigenen Wohnung und der Kochlehre in einem Szenerestaurant ein Leben, das sie gut abschottet. Der Prozess vor dem Sozialgericht ist ihr letztes Gefecht mit dem deutschen Staat.

Sie verliert. Sie wird keine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz bekommen.

"Ich habe - leider - keine andere Möglichkeit"

Der Richter und der Anwalt des Landschaftsverbands Rheinland, der diese Entschädigung zahlen müsste, glauben ihr. Niemand bestreitet, dass sie beispielsweise tagelang in den Kofferraum eines Autos gesperrt wurde, damit sie nicht aus dem Bordell fliehen konnte. Nur hilft ihr das alles nichts. Sie hätte zum Sex mit fremden Männern im Wortsinn geprügelt werden und das beweisen müssen, um zu bekommen, was der Staat eine Opferrente nennt.

Denn das Opferentschädigungsgesetz kennt nur körperliche Gewalt, psychische Gewalt ist ihm fremd. Nur körperliche Gewalt fällt juristisch gesehen unter den Begriff des tätlichen Angriffs. Das Bundessozialgericht hat das in einem anderen Fall kürzlich noch einmal höchstrichterlich klargestellt. Also sagt Yaminas Richter, bevor er den Prozess beendet: "Ich habe - leider - keine andere Möglichkeit."

Damit endet, offiziell, ein langwieriger Fall, einer unter vielen.

Öffentliches Interesse ändert nichts an Fakten

Die Welt am Sonntag hatte Ende November 2010 in einem fünfseitigen Report Yaminas Geschichte erzählt und das Phänomen des zunehmenden Menschenhandels und der Zwangsprostitution in der EU beschrieben: die hohen Fallzahlen, die Skrupellosigkeit der Menschenhändler, die Unfähigkeit von Rechtsstaaten, den Opfern gerecht zu werden.

Dieser Report war die Vorlage für einen "Tatort", eine Doppelfolge mit Maria Furtwängler, die kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres ausgestrahlt wurde. Günther Jauch ließ das Thema Zwangsprostitution in seiner Sendung diskutieren. In den vergangenen Tagen zeigte die ARD eine Dokumentation und den Spielfilm "Operation Zucker" zur besten Sendezeit.

Mal ging es um Opfer, die im jugendlichen Alter sind, mal um Kinder. Mal ging es um Freier, die im Bordell Sex mit Kindern gekauft haben - womöglich ohne es zu wissen - , mal ging es um Pädophile, die wussten, dass sie in geheimen Etablissements etwas Illegales taten: Sie haben Sex mit Kindern gekauft.

Immer ging es darum, dass Menschen zu diesem Sex gezwungen wurden. Das hat viele Leser und Fernsehzuschauer interessiert, die Quoten waren ziemlich gut. Das öffentliche Interesse hat allerdings an den Fakten nichts geändert.

Menschenhandel blüht

Erstens: Der Menschenhandel blüht, er sichert der organisierten Kriminalität einträgliche Geschäfte. Mindestens 40.000 Opfer, Kinder, Jugendliche und Frauen, werden in Europa jedes Jahr von Menschenhändlerringen sexuell ausgebeutet. Viele von ihnen werden gezwungen, in Bordellen zu arbeiten. Deutschland ist für die Menschenhändler ein wichtiger Markt. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass mehr als jedes vierte Opfer jünger ist als 18 Jahre.

Der Befund deckt sich mit den Erfahrungen in Deutschland: Von den 650 Opfern, die deutsche Polizisten im Jahr 2011 bei Kontrollen entdeckten, war mehr als jedes zehnte zwischen 14 und 17 Jahren alt, 13 Opfer waren sogar jünger als 14. Nach Zahlen des Bundeskriminalamtes wurden im selben Jahr 482 Verfahren wegen "Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung" abgeschlossen.

Sexueller Missbrauch, Kinderpornografie oder Kinder, die zum Betteln gezwungen werden, sind nicht erfasst. Ohnehin sind das nur Fälle, die aktenkundig werden. Nach Ansicht fast aller Experten sind das die wenigsten. Die Dunkelziffer, so glauben sie, liege deutlich höher.

Regierung verschleppt Gesetze zur Bekämpfung

Zweitens: Das Problem wird zwar oft beklagt, auf allen Ebenen, von der EU über den Bund bis zu den Bundesländern. Von den Polizisten, die Täter dingfest machen sollen, aber kaum eine Handhabe dafür besitzen. Und von den Opferverbänden, die junge Mädchen aus ihrer Sklaverei befreien wollen. Passiert ist kaum etwas.

Vor fast zwei Jahren kündigte Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) ein Gesetzespaket an, das Menschenhandel und Zwangsprostitution erschweren und die Bekämpfung erleichtern sollte. Schröders Staatssekretär Josef Hecken sagte damals, es sei geradezu schizophren, wenn die Behörden in Deutschland jede noch so kleine Frittenbude schärfstens kontrollierten, während Prostitutionsstätten keiner Genehmigung oder Kontrolle unterworfen seien.

Das hat sich nicht geändert. Das angekündigte Gesetz gibt es noch nicht. Es scheitert am Widerstand in den eigenen Reihen: Die Ministerien für Familie, Inneres, Wirtschaft und Justiz sind uneins, weder die Union noch die FDP haben eine einheitliche Linie gefunden.

Opfer müssen die Abschiebung fürchten

Also können die Täter weiter sicher sein, dass sie weitgehend unbehelligt bleiben, wenn sie Kinder und Frauen als Sexsklaven verkaufen und sie misshandeln. Noch immer müssen viele Opfer, die bei der Polizei oder vor Gericht aussagen, fürchten, in ihr Herkunftsland abgeschoben zu werden.

Die Gefahr ist groß, dass sie dort wieder Menschenhändlern in die Hände fallen - womöglich denselben wie zuvor. Das erschwert es Polizei und Staatsanwälten, die Täter zu bestrafen. Die Aussagen der Opfer sind in diesen Fällen das wichtigste Beweismittel.

Die Bemühungen Deutschlands, Opfer von Menschenhandel zu schützen, haben seit 2010 sogar deutlich nachgelassen. So jedenfalls steht es in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom September 2012. Im internationalen Vergleich unter 185 Ländern: Platz 34, hinter Ländern wie Polen, Irland und Bulgarien.

"Ich weiß nicht, worauf die Regierung noch wartet"

Die Opfer von Menschenhandel würden oft nicht als solche anerkannt, schreiben die Autoren. Deshalb würden sie auch nicht geschützt, etwa durch Straffreiheit, wie es die UN-Vereinbarung vorsieht. Ranghohe Sicherheitsbeamte überrascht dieser Befund nicht. Im Gegenteil. "Ich weiß wirklich nicht, auf was die Bundesregierung noch wartet", sagt jemand, der in der Hierarchie des deutschen Sicherheitsapparats weit oben steht.

"Die Probleme sind seit Jahren bekannt und über die verschiedenen Lager hinweg unstrittig. Es gibt seit vielen Monaten einen Entschluss der Innenministerkonferenz, der zusammenfasst, wo der Handlungsbedarf liegt." Man hört Sätze wie diese von so ziemlich allen Fachleuten, die sich mit dem Thema befassen, auch in den Reihen von Union und FDP.

Die Regierung versucht nun, wenigstens eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2011 noch rechtzeitig umzusetzen. Auch die soll helfen, dass Menschenhandel besser bekämpft und die Opfer besser geschützt werden. Am 6. April dieses Jahres, so hat es die EU verfügt, muss sie in den Mitgliedstaaten umgesetzt sein. Deutschland hat nicht mehr lange Zeit.

Menschenrechtspolitik ist harte Arbeit

Das Bundesjustizministerium hat einen Referentenentwurf erarbeitet. Das Papier liegt der Welt vor. Bisher kennen es nicht einmal alle wichtigen Fachleute der Bundesregierung. Der acht Seiten umfassende Entwurf sieht vor allem zwei Änderungen der Strafprozessordnung vor: dass künftig auch solcher Menschenhandel strafbar ist, der im Zusammenhang mit Bettelei, Organhandel und anderen Straftaten wie Drogenhandel oder Diebstahl steht.

Und dass künftig Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren nach dem Paragrafen 233 des Strafgesetzbuches als besonders schutzbedürftig gelten. Bisher lag das Alter bei 16 Jahren.

Opposition und Opferverbände halten den Entwurf für völlig unzureichend. "Die Bundesregierung glaubt offensichtlich, dass Menschenrechtspolitik sich darin erschöpft, Konventionen zu unterzeichnen und warme Worte zu sprechen", sagt etwa Volker Beck, menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen. "Das Gegenteil ist aber der Fall. Es ist harte Arbeit."

Nur wer den Opferschutz verbessere, könne das Dunkelfeld aufhellen und die Strafverfolgung verbessern. Außerdem hält Beck eine bessere medizinische Versorgung und psychosoziale Betreuung für nötig.

Experten beklagen "minimale Strafrechtsänderung"

Die Arbeitsgemeinschaft Ecpat mit Sitz in Freiburg, die Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen will, kritisiert, der Entwurf des Justizministeriums sei "eine minimale Strafrechtsänderung". Er setze vieles Wichtige von dem nicht um, was Brüssel in seiner Richtlinie fordere. So steht es in einer Stellungnahme, die der Welt vorliegt.

Stichwort Strafverfolgung: Im Fall sexueller Ausbeutung von Kindern wendeten die Strafverfolgungsbehörden in der Regel Paragraf 180 des Strafgesetzbuchs an - mit dem Nachteil, dass die Mindeststrafe bei unter einem Jahr liege und die Polizei wichtige Ermittlungsinstrumente nicht anwenden dürfen.

Stichwort: Schutz von Kindern. Deutschland erfülle grundlegende Voraussetzungen nicht, um Kinder besser zu betreuen, die Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Es fehlten Unterbringungsmöglichkeiten.

Keine Antwort auf grundsätzliche Fragen

Wer von dem Papier Antworten auf drängenden Probleme erwartet hat, muss enttäuscht sein. Es schlägt die Änderungen von ein paar Gesetzesparagrafen vor, auf die grundsätzlichen Fragen gibt es keine Antworten. Wie sollen Jugendliche und Frauen besser geschützt werden, die von Menschenhändlern nach Deutschland gebracht und zur Arbeit in Bordellen gezwungen werden?

Wie können Bordelle und ähnliche Betriebe besser kontrolliert werden - und nutzt das etwas? Und welche aufenthaltrechtlichen Regelungen helfen den Opfern, weil sie sie vor Menschenhändlern schützen, und den Ermittlern, weil sie ihre Chancen verbessern, Straftaten gerichtsfest zu belegen?

Zu den offenen Fragen gehört auch, wie solche Kinder geschützt werden können, die nicht mit gefälschten Papieren in Bordells oder Sexclubs - also vermeintlich legal - Sex gegen Geld erdulden müssen, sondern in einer illegalen Schattenwelt, zu der nur Eingeweihte Zutritt haben.

Opfer sind auffallend oft Jungen

Beispiel Berlin. Berlin ist das einzige Bundesland mit einem Landeskriminalamt, das sich schwerpunktmäßig mit Kinderprostitution beschäftigt. Die Erfahrungen dort besagen, dass die Opfer auffallend oft Jungen sind. Die Täter spähen sie aus, wenn sie irgendwo allein unterwegs sind, während andere Kinder in der Schule sitzen. Sie sprechen sie an und locken sie in ihre Wohnungen.

Es soll in Berlin ein paar Dutzend solcher Wohnungen geben, ausgestattet mit allem, wovon Kinder so träumen: Spielzeug, Computer, Erwachsene, die ihnen zuhören. Vielleicht schon mal ein Bier. Sie fühlen sich wohler als zu Hause, wo sie oft vernachlässigt oder geschlagen werden.

Der Rest geht oft schnell: Aus einem Vertrauensverhältnis wird Abhängigkeit. Irgendwann sind Fotos der Kinder, vermeintliche Schnappschüsse, in Katalogen gedruckt, die an Kunden geschickt werden. Im Bezirk Schöneberg gibt es mehrere Lokale, die dafür berüchtigt sind.

Kinderhandel wird als Adoption getarnt

Seriöse Zahlen, die auch das Ausmaß dieser Art des Missbrauchs beziffern, gibt es nicht. Zwar spricht das Bundeskriminalamt von bis zu 20.000 Minderjährigen, die "in der Prostitution arbeiten müssen oder von Pornoproduzenten kommerziell ausgebeutet werden". Doch oft ist Kinderhandel als Adoption getarnt. Und auch die Opferberatungsstellen haben meist nur Daten aus ihrer eigenen Praxis.

Der Verein "Hilfe für Jungs" in Schöneberg etwa berät seit 18 Jahren Jungen, die von sexueller Gewalt betroffen oder bedroht sind. Ralf Rötten, Sozialarbeiter und Geschäftsführer des Vereins, sagt, die Einrichtung betreue und berate etwa 1000 Jungen. Dass heißt allerdings nicht, dass alle diese Kinder automatisch auch Opfer wären.

Durch Ermittlungen bessert sich für Kinder kaum etwas

Die 22 Mitarbeiter des Vereins gehen in Schulen, auf die Straße, zu ihnen kommen Kinder, die Polizei oder Jugendämter schicken. Ein grundlegendes Problem aber kennt Rötten nur allzu gut. "Wir haben nur ganz selten Beweise, die vor Gericht standhalten", sagt er. Zudem bessere sich für die Kinder nichts mehr, wenn die Polizei ermittle. "Sie haben diese schlimme Erfahrung gemacht, die wird durch ihre Aussage nicht aufgehoben, im Gegenteil: Das wird permanent wieder aufgewühlt durch all die kritischen Fragen."

Rötten glaubt, dass andere Länder in Europa besser mit dem Problem umgehen. Die Täter effektiver verfolgen und die Opfer besser schützen. "Unsere Justiz ist täterorientiert, nicht opferorientiert." In Schweden befragten Psychologen die Kinder, diese Befragungen würden mit Videokameras ins Polizeibüro oder in den Gerichtssaal übertragen. Das ist in Deutschland nicht möglich.

Auch deshalb enden viele Prozesse wie der Yaminas in dieser Woche. Mit Urteilen, die juristisch begründet sind, aber für die Opfer schwer zu akzeptieren.

* Name geändert