Der Aufruf Cam Over beruht auf dem Konzept des autonomen Subjekts


Um die Autobrände in Berlin ist es in letzter Zeit ruhiger geworden. Dabei gibt es noch immer brennende Fahrzeuge, wobei die Frage, ob politische Motive der Hintergrund sind, oft nicht klar ist. Es gab immer wieder massive Kritik auch in linken Kreisen, ausgerechnet das Auto zum Symbol aller Übel in der Welt aufzubauen und zu meinen, ein brennendes Auto wäre nicht eher ein Problem des Besitzers und keine Schlacht gegen den Kapitalismus. Zumal die Autos, die am wenigsten bewacht und gesichert sind, bestimmt nicht den wohlhabendsten Zeitgenossen gehören. Nun scheinen sich einige Aktivisten der linken Szene ein anderes Objekt ausgesucht zu haben: die Kameras, die in den letzten Jahren im Alltag massiv zugenommen haben.

Unter dem Slogan "Cam Over 2013" haben Unbekannte zur Zerstörung von Überwachungskameras aufgerufen. Das Motto erinnert nicht zufällig an das englische »Game over. Im Aktionsaufruf heißt es: "Ziel des Spiels ist es möglichst viele Überwachungskameras zu entwerten." Die Sicherheitsbehörden nahmen diese Aufrufe sehr ernst. Webseiten, die das Aktionskonzept dokumentierten oder per Video die Unbrauchbarmachung einer Kamera exemplarisch vorführten, wurden umgehend gesperrt (http://camover.blogsport.de/spielidee/), aber sind wenig später wieder online.

Sowohl auf der aktivistischen Plattform Indymedia als auch auf anderen Webseiten wurden Schreiben veröffentlicht, in denen sich Gruppen mit Fantasienamen zu vollzogenen Kameraentwertungen bekennen. Sie ziehen dort auch eine Parallel zum 16. Europäischen Polizeikongress, der vom 16. bis 20 Februar in Berlin tagt. Das zentrale Thema soll dort "Schutz und Sicherheit im digitalen Raum" sein. Wie in den vergangenen Jahren hat sich auch 2013 ein Bündnis zusammen gefunden, das gegen diesen Polizeikongress aktiv wird.

Militante Liberale?

Der Wechsel vom Auto zur Kamera scheint für die anonymen Aktivisten zunächst nicht unlogisch. Anders als ein Auto ist eine Überwachungskamera auch gesellschaftlich viel umstrittener. Das Recht, nicht beobachtet zu werden, wird gerade in der bürgerlichen Öffentlichkeit mit Nachdruck vertreten. Anders als ein Auto kann auch kaum jemand behaupten, eine Kamera wäre eben ein persönliches Hobby. Allerdings fällt auf, dass sich die anonymen Cam-Overisten nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, ihren Aktivismus mit einer linken Gesellschaftskritik erklären zu wollen. So heißt es in dem Cam-Over-Aufruf verbalradikal, aber ohne jegliche Argumente:
Wir hassen Überwachungskameras. Sie waren schon seit ihrer Erfindung scheisse. In unseren Städten verfolgen sie uns mittlerweile auf Schritt und Tritt. Auf der Straße, in Läden, in Wohnhäusern und in Bus und Bahn. Permanent werden wir beäugt, überwacht, ausspioniert. Menschen und Institutionen, die es am besten überhaupt nicht geben sollte, speichern Bilder unseres Lebens und vermitteln uns den Eindruck, ständiger Kontrolle zu unterliegen. Weil wir dieser Vision schon viel zu nahe sind, jeder Moment aber der letzte sein könnte, sie zu zerstören, rufen wir zu einem Spiel auf. Ein freudiges Spiel mit einem ernsten Ziel.
Hier wird deutlich, dass die anonymen Verfasser in der Ideologie eigentlich militante Liberale sind. So mögen ihre Aktionsformen radikal sein, die Begründung aber könnten Liberale jeglicher Couleur unterschreiben, die schließlich alle die Autonomie des bürgerlichen Subjekts hochhalten und die Überwachung als grobe Verletzung dieser Autonomie verstehen. Selten wird deutlich, dass viele, die sich als Autonome verstehen, tatsächlich die letzten Verfechter dieser bürgerlichen Autonomie sind. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass es oft gerade Menschen mit wenig Geld sind, die an bestimmten Orten Überwachungskameras fordern. Der Grund liegt nicht darin, dass es sich hier um große Sicherheitsfanatiker halten.

Die Ängste der Subalternen werden ignoriert

Vielmehr haben sie einfach Angst, zu bestimmten Zeiten bestimmte Plätze aufzusuchen. Die Kameras suggerieren ihnen Sicherheit. Die Kritik, dass es dabei nur um ein Sicherheits-Placebo handelt, ist berechtigt. Aber auch in der Medizin sind Placebos nicht ganz wirkungslos. Daher ist der Kampf gegen die Kameras nicht falsch, wenn aber die konkreten Ängste von sich als schwach empfindenden Teilen der Bevölkerung ausgeblendet wird, ist es eine Angelegenheit des autonomen Bürgers, der nicht überwacht wenden und auf seine Autonomie wert legt.

Wenn dann Rentner, Frauen oder Menschen mit Handicaps nicht mehr aus dem Haus gehen, weil sie, ob begründet oder nicht, Angst vor Überfällen, Vergewaltigungen und anderen Angriffen haben, ist ein solcher Aktivismus sicher kein Beitrag dazu, dafür zu sorgen, dass die Straßen und Plätze wieder von allen genutzt werden können.