Ängstlich, traurig und aggressiv war der Mann früher nicht. Heute braust er schnell auf und fürchtet sich ständig. Die Ärzte versuchen es mit Antidepressiva und Antipsychotika, aber dadurch wird alles nur schlimmer. Denn die Ursache für die Veränderung des Patienten liegt ganz woanders.
© Sott.netEine Warnung vor Gluten
Wenn die Angst zu groß ist, wird der Mann aggressiv. Egal wer aus seiner Familie dem 38-Jährigen in die Quere kommt - er muss seine Spannung loswerden. Er verhält sich seltsam, ist nicht mehr der Alte, zieht sich zurück, ist depressiv und gleichzeitig aufbrausend. Ständig fürchtet er sich. Auch die Medikamente, die er vor einem Jahr bekommen hat und seither schluckt, helfen kaum. Weil er antriebslos und traurig war, verordneten ihm die Ärzte ein Antidepressivum und etwas später ein Neuroleptikum gegen die Angstattacken.
Doch jetzt traut sich die Familie nicht mehr, den Mann allein zu lassen. Er wird in die psychiatrische Abteilung der Universität Insubria im italienischen Varese eingeliefert. Dort geben ihm die Ärzte Risperdal, ein zusätzliches Neuroleptikum, das die Wirkung der Botenstoffe im Gehirn beeinflusst. Doch damit beginnt für den Patienten eine Odyssee, von der er sich nur schwer wieder erholt, wie die Psychiater im
Fachjournal Clinical Practice and Epidemiology in Mental Health berichten.
Zunächst versteifen seine Muskeln, die Krämpfe schmerzen ihn, er kann kaum noch laufen. Die Psychiater setzen das neue Medikament wieder ab. Auch das bringt keine Besserung. In der Computertomografie (CT) vom Kopf fallen ihnen Bereiche im vorderen und hinteren Bereich des Gehirns auf. Doch ob die Durchblutung dort gestört ist oder andere Ursachen für die Veränderungen verantwortlich sind, können sie nur mutmaßen.
Weinen und Lachen, Sprechen ohne SinnWeil der Mann wieder Angstattacken bekommt, geben die Ärzte ihm erneut Risperdal. Eine fatale Fehlentscheidung, wie sich Stunden später zeigt: Der Mann entwickelt hohes Fieber, er atmet flach, seine Muskulatur beginnt sich zu zersetzen. Malignes neuroleptisches Syndrom nennen Mediziner diesen gefürchteten, lebensbedrohlichen Zustand, der als seltene Nebenwirkung von Neuroleptika auftreten kann. Das Medikament setzen sie sofort ab, auf der Intensivstation werden Atmung, Herz und Kreislauf des Mannes unterstützt, trotzdem bekommt er eine Thrombose und eine schwere Blasenentzündung.
Obwohl sich der Patient langsam erholt, bleiben Störungen zurück: Seine Muskeln entspannen sich weiterhin nicht richtig, er spricht verwaschen und ist verlangsamt. Trotz intensiver Suche finden die Ärzte keine Erklärung für seine Probleme.
Kurze Zeit nachdem sie ihn entlassen haben, kehrt er zurück in die Klinik mit Anzeichen eines sogenannten Frontalhirnsyndroms: Mit Hilfe des Frontallappens kontrollieren Menschen ihre Affekte, bewerten sich und die Umwelt. Hier wird der Antrieb gesteuert. Bei dem Mann ist dieser vordere Bereich des Gehirns, auch Stirnlappen genannt, offenbar gestört. Er schwankt zwischen Weinen und Lachen, ist antriebsarm und spricht immer wieder dieselben Wörter und stereotypen Sätze, als würde er ihren Sinn selbst nicht verstehen. Hinzugekommen sind außerdem Schluckstörungen, die den Patienten so massiv beeinträchtigen, dass er innerhalb von zwei Monaten 20 Kilogramm abgenommen hat. Nur mit Infusionen können die Ärzte den Mann noch ernähren.
Antikörper führen auf die richtige SpurZur weiteren Abklärung lassen sie erneut Spezialaufnahmen vom Kopf des Kranken machen. Darin wird sichtbar, dass die Durchblutung von Teilen des Frontalhirns, aber auch von anderen Bereichen vermindert ist. Warum, ist weiterhin ein Rätsel.
Jetzt lassen die Ärzte im Blut nach allen möglichen Antikörpern fahnden - und werden endlich fündig: Drei Typen von Antikörpern sind bei dem Mann stark erhöht, die bei der
sogenannten Zöliakie typischerweise erhöht sind. Dabei handelt es sich um eine Unverträglichkeit des Eiweißes Gluten, das in Getreidesorten wie Weizen und Dinkel vorkommt. Die Betroffenen fallen oft schon im Kindesalter mit Durchfällen und Wachstums- und Entwicklungsstörungen auf, weil sich die Dünndarmschleimhaut entzündet und Nährstoffe vom Körper nur noch schlecht aufgenommen werden können. Ein zweiter Krankheitsgipfel tritt meist zwischen 30 und 40 auf.
Den Autoren zufolge
haben bis zu 15 Prozent der Betroffenen neurologische Probleme, denn die Antikörper spielen teilweise auch im Gehirn eine Rolle. Die Besonderheit bei ihrem Patienten: Er litt nie unter Durchfällen oder Bauchschmerzen. "In diesem Fall war es hochgradig schwierig, die Diagnose zu stellen", sagt die Wiener Neurologin Elisabeth Fertl, die einen
Fachartikel zu Diäten als Therapie bei bestimmten neurologischen Erkrankungen geschrieben hat.
Auch nach erfolgreicher Nahrungsumstellung bleiben ihr zufolge häufig Beschwerden zurück. "Grund sind Veränderungen wie Narbenbildung und chronische Entzündungen im zentralen Nervensystem", so Fertl.
So geht es auch dem 38-Jährigen. Zwar weichen durch die streng glutenfreie Diät die neurologischen Symptome, er spricht, isst und bewegt sich wieder normal, seine Antriebslosigkeit verschwindet. Auch in den Kontrollaufnahmen des Kopfes zeigen sich keine Auffälligkeiten mehr. Doch seine Ängstlichkeit bleibt in milder Form. In niedriger Dosis schluckt er deswegen ein Neuroleptikum, das er verträgt.
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