Der Mythos der vegetarischen Lebensweise besagt, dass der Verzicht auf Fleisch zu einer nachhaltigen Ernährungsweise führt. Allerdings wird der Verzehr von Pflanzen die Probleme dieses Planeten nicht lösen.
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Ich war fast 20 Jahre lang Veganerin.

Ich kenne die Beweggründe, die mich dazu veranlassten, eine extreme Ernährungsweise mit Begeisterung anzunehmen; und es sind ehrbare, ja sogar noble Gründe wie Gerechtigkeit, Mitgefühl und eine verzweifelte, allumfassende Sehnsucht, die Welt wieder heil zu machen. Um den Planeten zu retten - die letzten Bäume, Zeugen von Ewigkeit und die Überbleibsel der Wildnis, Nährboden für aussterbende Spezies, still in ihren Pelzen und Federn. Um die Verwundbaren zu beschützen, die keine Stimme haben. Um die Hungrigen zu ernähren. Zum Mindesten, um nicht länger an den Schrecken der Massentierhaltung teilzuhaben.

Diese politischen Leidenschaften speisen sich aus einem so tiefen Verlangen, dass es das Spirituelle berührt. Für mich gilt das nach wie vor. Ich möchte, dass mein Leben - mein Körper - ein Ort ist, an dem die Erde in Ehren gehalten und nicht verschlungen wird; wo Sadisten keinen Platz haben, wo die Gewalt ein Ende findet. Und ich möchte, dass Ernährung, das Sichernähren eine erste fürsorgliche Handlung ist, die viel eher bewahrt als dass sie tötet. Dies ist eine Bestrebung, die tiefgründigsten Sehnsüchte nach einer gerechten Welt zu ehren. Jetzt aber glaube ich, dass wir mit der Philosophie und Praxis des Vegetarismus diesem Verlangen nach Mitgefühl, Nachhaltigkeit und einer gerechten Verteilung der Resourcen, nicht gerecht werden. An diesen Mythos zu glauben hat uns in die Irre geführt.

Massentierhaltung ist nicht die einzige Alternative

Die vegetarischen Bauernfänger verfolgen die besten Absichten. Alles was sie über Massentierhaltung aussagen ist zweifellos zutreffend. Das kann ich vorbehaltlos bestätigen: Es ist grausam, verschwenderisch und destruktiv. Indem sie aber voraussetzen, dass Massentierhaltung - eine Praxis, die gerade mal 50 Jahre alt ist - der einzige Weg sei, Tiere zu halten, begehen sie ihren ersten Fehler. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ihre Berechnungen zum Energie- und Kalorienverbrauch sowie zum ungefütterten Menschen allesamt auf der Vorstellung fußen, dass Tiere Getreide verzehren. Man kann Getreide an Tiere verfüttern, jedoch ist das nicht die Ernährung, für die sie von Natur aus vorgesehen sind. Den größten Teil der Menschheitsgeschichte standen Laub- und Grasfresser nicht in Konkurrenz mit dem Menschen. Sie fraßen, was für uns ungenießbar war (Zellulose) und wandelten es in etwas Genießbares um (Proteine und Fett). Unsere industrielle Kultur stopft jedoch Getreide in so viele Tiere wie möglich hinein. Das Getreide steigert die Wachstumsrate der Fleischrinder sowie die Milchproduktion der Kühe dramatisch, doch sie gehen außerdem daran zugrunde. Die empfindliche, bakterielle Balance des Pansens kann sehr leicht sauer und dadurch septisch werden. Hühner erkranken an Leberverfettung, wenn sie ausschließlich mit Mais gefüttert werden. Schafe und Ziegen, die wie Rinder ebenfalls zu den Wiederkäuern zählen, sollten diesem Zeug ebenfalls fern bleiben.

Hinzu kommt, dass weite Teile der Erde zum Anbau riesiger Getreidefelder vollkommen ungeeignet sind. Und damit meine ich nicht die Bergspitzen des weit entfernten Nepals, sondern viel naheliegendere Gegenden wie beispielsweise Neu England. Kühe sind das, was dort wächst. Das gilt auch für Rotwild in seiner waldzerstörenden Überzahl. Die Logik des Landes sagt uns, dass wir uns von den Tieren ernähren sollen, welche die zähe Zellulose fressen können, die hier gedeiht.

Ich denke, dass dieses Missverständnis über Tiere und Getreide eine Ausgeburt der Ignoranz ist, welche den Vegetarischen Mythos in Länge und Breite durchmisst, von der Natur der Landwirtschaft bishin zu den Grundsätzen des Lebens. Die meisten von uns sind urbane Industrielle und haben keine Ahnung, wo unsere Nahrung herkommt. Das gilt auch für Vegetarier, auch wenn diese das Gegenteil behaupten. Das galt auch für mich, ganze zwanzig Jahre lang. Jeder, der Fleisch verzehrte verschloss seine Augen vor der Wahrheit, nur ich kannte die Fakten. Die meisten Menschen, die Fleisch aus Massentierhaltung konsumieren, haben sich niemals die Frage gestellt was und wie getötet worden ist. Aber ehrlich gesagt haben das die meisten Vegetarier genauso wenig.

Man bedenke Ökosysteme in ihrer Gänze

Leben ohne den Tod ist nicht möglich, und egal was Du isst: etwas muss dafür sterben, damit Du Dich ernähren kannst. In Wahrheit ist die Agrarwirtschaft das verhehrenste Übel, das die Menscheit dem Planeten je zugefügt hat. Mehr davon wird uns sicher nicht helfen. Die heutige, industrielle Agrarwirtschaft setzt die Zerstörung ganzer Ökosysteme voraus.

Ich verlange vollständige Rechenschaft, und zwar eine, die über die Frage, was da tot auf meinem Teller liegt, weit hinausgeht. Mich interessiert alles, was im Gesamtprozess sterben musste, alles was zerstört werden musste, um diese Nahrung auf meinen Teller zu schaffen. Das ist die viel radikalere Frage und die einzige, welche die Wahrheit ans Licht bringt. Wie viele Flüsse wurden gedämmt und trocken gelegt, wie viele Grasebenen beackert und Wälder abgeholzt, wie viel Mutterboden in Staub verwandelt und in den Wind geblasen? Ich will wissen, was mit all den Tieren passiert ist - nicht nur einzelne, sondern ganze Spezies - der Königslachs, das Bison, der Heuschreckenammer und der Grauwolf. Und ich verlange mehr als die bloße Zahl der Opfer. Ich will sie wieder zurück haben.

Ganz abgesehen davon, was man uns weisgemacht hat und ungeachtet der Glaubwürdigkeit jener Vertreter, wird der Verzehr von Sojabohnen diese Pflanzen und Tiere nicht zurückbringen. 98 % der amerikanischen Prärie haben wir an die Monokultur jährlichen Getreides verloren. Die Pflugernte in Kanada hat 99 % des ursprünglichen Mutterbodens zerstört. Wenn der Regenwald den Rindern weichen muss, sind die Progressiven schnell und erzürnt zur Stelle und bereit zum Boykott. Unser Klammern an den vegetarischen Mythos macht uns jedoch unruhig, stillschweigend und vollkommen handlungsunfähig, wenn es darum geht, dass der Täter das Getreide und das Opfer die Prärie ist.

Die große Mehrheit der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten baut selbst keine Nahrungsmittel an, vom Jagen und Sammeln ganz zu schweigen. Wir können überhaupt nicht beurteilen wieviel Tod eine Portion Salat, eine Schale Obst oder ein Teller Rindfleisch bedeutet. Wir leben in einer urbanen Umwelt - im letzten Flüstern der Wälder - tausende Kilometer von den zerstörten Flüssen, Prärien und Auen entfernt, fern ab der unzähligen Kreaturen, die für unser Abendessen sterben mussten. Viele Bewohner der urban industriellen Kulturen haben keine Möglichkeit, mit Getreide, Hühnern, Kühen oder - wenn wir schon dabei sind - mit Mutterboden in Berührung zu kommen. Wir haben keine Ahnung was die Pflanzen, die Tiere oder der Boden braucht, so dass wir selbst gar nicht wissen, was wir da eigentlich genau essen.

Unbequeme Fragen zur Landwirtschaft

Es ist die Kritik an der Zivilisation selbst, die aus dem Dunkel unserer Ignoranz und Verleugnung emporsteigt. Mag sein, dass es zunächst (nur) um die Frage geht, was wir essen, doch am Ende geht es um eine ganze Lebensphilosophie, ein weltumspannendes Machtgefüge, von dem der Einzelne in hohem Maße abhängig ist. Ich erinnere mich noch an den Tag in der vierten Klasse, an dem Miss Fox zwei Worte an die Tafel geschrieben hatte: Zivilisation und Landwirtschaft. Ich kann mich deshalb so gut daran erinnern, weil sie mit gedämpfter Stimme und gewichtigen Worten die Erklärung so aussprach, dass es beinahe andächtig klang. Da wurde mir klar, dass alles Gute der menschlichen Zivilisation an diesem Punkt ihren Anfang nahm - die Ruhe, die Anmut und die Gerechtigkeit. Religion, Wissenschaft, die Medizin und die Künste waren geboren, so dass der ewige Kampf gegen Hungersnot, Krankheit und Gewalt einzig und allein dadurch entschieden werden konnte, dass die Menschen einen Weg gefunden hatten, ihre eigene Nahrung anzubauen.

Ich glaube, dass die Landwirtschaft in Sachen Menschrechte und Kultur einen Nettoverlust angerichtet hat: Sklaverei, Imperialismus, Militarismus, Klassenteilung, chronisches Hungern und Krankheit. “In Wahrheit geht es also nicht um die Frage, warum einige Völker sich mit der Einführung der Landwirtschaft schwer getan haben, sondern warum sie überhaupt irgend jemand übernommen hat, wenn sie so offensichtlich abscheulich ist,” wie der Biologe und Author Colin Tudge schreibt. Die Landwirtschaft hat auch verheerende Auswirkungen für alle anderen Kreaturen, mit denen wir diese Erde teilen, und nicht zuletzt für die Lebenserhaltungssysteme des Planeten selbst. Alles steht auf dem Spiel. Wenn wir eine nachhaltige Welt haben wollen, müssen wir gewillt sein, die Machtstrukturen hinter dem Gründungsmythos unserer Kultur genau zu untersuchen oder wir werden scheitern.

Ein Hinterfragen dieser Art ist für die meisten Leute schwierig. In diesem Fall ist die emotionale Auseinandersetzung, die mit dem Widerstand gegen jegliche Vorherrschaft einhergeht, mit unserer Abhängikeit von der Zivilisation verknüpft, und mit unserer persönlichen Hilflosigkeit, diesen Zustand zu beenden. Die meisten von uns würden einen plötzlichen Zusammenbruch der industriellen Infrastruktur nicht überleben. Unser Bewusstsein wird gleichermaßen durch diese Ohnmacht behindert.

Ich habe keinen einfachen Zehn-Punkte-Plan zur Hand, weil es ehrlich gesagt keine einfachen zehn Punkte gibt, mit denen wir die Welt retten können. Die Lösung liegt auch nicht im Bereich des Einzelnen. Wir haben es mit einem in sich verquickten Netz hierarchischer Regelungen zu tun - weitreichende Machtsysteme, die konfrontiert und demontiert werden müssen. Wir können uns darüber streiten, wie wir das am besten anstellen, nur tuen müssen wir es, wenn das Leben auf der Erde fortbestehen soll.

Gegenseitige Verpflichtung

Ich habe aufgehört, mich gegen die grundsätzliche Algebra des körperlichen Daseins aufzulehnen: Damit etwas leben kann, muss etwas anderes dafür sterben. In dieser Akzeptanz, mit allem Kummer und Leid, liegt die Fähigkeit, einen anderen Weg einzuschlagen - einen besseren Weg.

Stellen Sie sich einmal die Kuh vor, ein Beutetier, das sich dahingehend entwickelt hat, eine ganz bestimmte Sache hervorragend zu meistern, nämlich das allgegewärtige Gras, sprich Zellulose, in Masse und Bewegung umzuwandeln. So wie jedes andere Mitglied einer gesunden, biotischen Gemeinschaft produziert die Kuh Nahrung für jemand anderen. Ihr Dünger ernährt Boden, Pflanzen und Insekten. Die mechanische Bewegung ihrer Hufe und Zähne trägt dazu bei, das Weideland vielfältig zu erhalten. Durch ihren Verdauungsprozess werden Nährstoffe freigesetzt, und zwar nich nur für sie allein, sondern für die ganze Gemeinschaft. Ihr Körper selbst wird zu einer Malzeit für Jäger, Aasfresser und Abbauer in all ihren Erscheinungsformen. Das Leben ist in letzter Konsequenz eine Vielzahl kooperativer Prozesse, die allesamt ein Ziel vereint: Mehr Leben zu schaffen.

So wie die Grasfresser ihre tägliche Zellulose benötigen, ist auch das Gras auf die Tiere angewiesen. Es benötigt den stickstoff- und mineralreichen Dünger mit seinen Bakterien, aber auch die mechanische Ausgleichswirkung des Grasens und nicht zuletzt die Resourcen, die in den Tierkadavern gespeichert sind, die beim Sterben durch Abbauer frei werden. Gras und Grasfresser brauchen einander im selben Maße wie Jäger ihrer Beute bedürfen. Das sind keine einseitigen Vereinbarungen, keine Frage von Dominanz und Unterlegenheit.

In seinem Buch Long Life, Honey in the Heart spricht Martin Prechtel von dem Volk der Maya und ihrer Anschauung des Kas-Limaal, was so viel heißt wie “gegenseitige Verpflichtung, gegenseitiges Entflammen”. Prechtel schreibt, dass “die Kenntnis darüber, dass jedes Tier, jede Pflanze, jede Person, der Wind und die Jahreszeiten alle der Frucht von allem anderen verpflichtet sind, ein erwachsenes Wissen ist.”

Genau diese Anschaung brauchen wir, inbesondere diejenigen unter uns, die über Ungerechtigkeit empört sind. Den einzigen Ausweg aus dem vegetarischen Mythos stellt Kas-Limaal dar - das erwachsene Wissen. Wenn wir uns dazu entscheiden, im Einklang mit der Natur zu leben, werden wir uns nicht gegenseitig ausbeuten, wenn wir uns ernähren. Statt dessen werden wir uns einfach abwechseln.