Vulkan
© DER STANDARD/(KEYSTONE/SCIENCE PHOTO LIBRARY1883: Die Explosion des Krakatau, hier in einer computergenerierten Grafik dargestellt.
Von Zeit zu Zeit versucht die Erde, die Menschen abzuschütteln: über den Umgang mit Katastrophen und die schicksalhafte Gemeinschaft, die die Bewohner dieses Planeten verbindet.

Der 20. Mai 1883 war ein Sonntag. Unter den vielen Ereignissen dieses Tages war auch ein bedeutsames, das aus Ostasien nach London telegrafiert wurde: "Krakatan auswirft Feuer, Rauch und Asche, begleitet von Explosion und fernen Donner." Der Absender dieser Nachricht an die englische Versicherungsbörse war ein Mann namens Schuit, der in der kleinen Hafenstadt Anyer mit Blick auf die Sunda-Meeresstraße eine Pension betrieb. Er war einer der Ersten, die davon Notiz nahmen, dass sich vor der Küste des heutigen Indonesien und Malaysia etwas zusammenbraute.

Am 27. August, an einem Montag drei Monate später, explodierte der Vulkan Krakatau und löste eine Katastrophe aus, die den Erdball erschütterte. Und dies ist sowohl buchstäblich zu nehmen als auch im übertragenen Sinn. Der Ausbruch des Krakatau, der zugleich den Untergang der entsprechenden Insel mit sich brachte, löste eine Druckwelle aus, die siebenmal die Erde umkreiste und in allen westlichen Großstädten gemessen wurde. Und zugleich war es durch die erst in den Jahren davor verlegten Unterseekabel möglich, dass schon einen Tag nach dem Unglück eine Notiz dazu in der Londoner Times erschien, die allerdings äußerst knapp war und nicht verriet, mit welch enormer Wucht die Erde aufgemuckt hatte.

Der britische Sachbuchautor Simon Winchester übertreibt nicht, wenn er in seiner exzellenten Darstellung des Krakatau-Desasters schreibt: "Millionen Menschen, die einander fremd gewesen waren, blickten zum ersten Mal über ihren eigenen beschränkten Horizont hinaus. Von diesem Augenblick lebten die Menschen in einer neuen, nach außen blickenden Welt - einer Welt, die durch diese Medien und das von ihnen dargestellte Ereignis indirekt mit hervorgebracht wurde."

Es ist die Welt, in der wir heute noch immer leben, und in der wir mit banger Spannung nach Japan blicken, so wie wir vor sieben Jahren nach Thailand und Indonesien blickten, wo es trotz der modernen Übertragungsmedien ebenfalls viele Tage dauerte, bis das ganze Ausmaß dieser Naturkatastrophe absehbar wurde.

Es sind Momente, in denen die menschliche Population dieses Planeten sich als Schicksalsgemeinschaft begreift, die sich danach differenziert, wie weit man von einem Epizentrum entfernt lebt, ob die gefährlichen Wellen das eigene Haus in Gefahr bringen können und in welche Richtung die Winde jene Wolken treiben, die das hartnäckigste Medium von Naturkatastrophen darstellen.

Eine Bemerkung, die gleich am ersten Tag des japanischen Unglücks aus Tokio berichtet wurde, bringt diesen Aspekt des Menschheitlichen fast unübertroffen auf den Punkt: "Es war, als wollte uns die Erde abschütteln", sagte ein Mann. Wenn man ein wenig in die Geschichte zurückblickt, so wird man feststellen, dass diese Erschütterungen der Selbstgewissheit, dass der Mensch auf diesem Planeten ein souveränes Lebensrecht hat, zu den wichtigsten Erfahrungen der Gattung gehören. In den Naturkatastrophen äußert sich etwas Erhabenes, das sich im aktuellen Falle Japans mit dem Zerstörungspotenzial der umstrittensten Technologie verbindet, an die sich die Menschen gewagt haben: die Indienstnahme atomarer Prozesse, mit denen ein Zeithorizont eröffnet wurde, vor dem die Geschichte der Zivilisationen sich wie eine Episode ausnimmt.

Seit die Forscher weitgehend durchschaut haben, was sich in den Zonen der tektonischen Verwerfungen so tut, lebt der Mensch nicht mehr als Krone der Schöpfung auf sicherem Grund einer gottgegebenen Ordnung, sondern in einem schwankenden Provisorium. "Der Mensch ist nicht geboren, um auf der irdischen Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu bauen", schrieb Immanuel Kant als Reaktion auf das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Dieses Ereignis, bei dem ein Seebeben von vermutlich ähnlicher Stärke, die vergangene Woche auch in Japan wirksam wurde, nur 200 Kilometer vor der portugiesischen Hauptstadt einen Tsunami mit verheerenden Folgen auslöste, gilt heute als die grundlegende "Erschütterung des aufgeklärten Europa".

Die Schilderung, die Goethe in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit gab, ist nicht die eines unmittelbar betroffenen Augenzeugen, sondern eines, der sich aufgrund von Berichten eine Vorstellung von diesem "Weltereignis" macht und die Erfahrung schon intellektuell verarbeitet. "Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. (...) Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: Denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde (...); und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür."

Das religionskritische Momentum, das als Folge der Katastrophe die geistige Welt des späteren 18. Jahrhunderts bestimmte, wird gemeinhin als eine Krise der Theodizee verstanden, also des Versuchs, Gott angesichts der Übel der Welt zu rechtfertigen. Gerade erst hatte der Philosoph Leibniz dies 1710 in einem Buch versucht, das die Intellektuellen des 18. Jh.s nachhaltig beschäftige.

Der Aufklärer Voltaire schrieb ein Gedicht über das Erdbeben, in dem er die Sterblichen als "Unglückliche" ansprach und den Gedanken an eine gute Welt verwarf. Auch Goethe zog religionskritische Konsequenzen aus dem Ereignis: "Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten."

Es dauerte dann zweihundert Jahre, bis die von Menschen verursachten Übel so in den Vordergrund rückten, dass Adorno 1966 das große Naturunglück barsch zurück in den unaufgeklärten Winkel wies: "Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz'schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlichen Bösen bereitete." Der kritische Theoretiker und forsche Entmythologisierer wollte sich mit der Natur im "ersten" Sinn nicht lange aufhalten, ihm galt alles überformt von der zweiten Natur eines Gesellschaftssystems, das so tut, als wäre es genauso Schicksal wie die den Menschen umgebende erste Natur. Nur angesichts des Schicksals der europäischen Juden (und anderer Gräuel, die Menschen an Menschen verübten) konnten Adorno die Schrecknisse von Lissabon als "unbeträchtlich" erscheinen.

Detonation weit im Süden

Goethes Frage, "wie man ein solches Phänomen anzusehen habe", ist in den Zeiten der Direktübertragung eher noch komplizierter geworden. Die Erde ist nicht nur tektonisch ein sensibler Resonanzkörper geworden, auf dem sich Ereignisse und Nachrichten auf ebenso unberechenbare Weise fortsetzen, wie die auslösenden Momente unerwartet eingetreten waren. Simon Winchester beschreibt in seinem Buch über die Krakatau-Katastrophe anschaulich, wie in vormoderner Zeit ein früher Ausbruch des asiatischen Vulkans Spuren bis weit über die Region hinaus hinterließ.

Eine frühmittelalterliche chinesische Chronik, die von einer Detonation "weit im Süden" zu berichten weiß, klingt nach dem Ausbruch von 1883 nicht mehr vollständig zusammenhanglos, denn tatsächlich war die Explosion des Krakatau in einem Umkreis von mehreren tausend Kilometern zu hören, und das galt anscheinend auch für die Katastrophe im 6. Jahrhundert. In Bäumen, die ein entsprechendes Alter haben, lässt sich aufgrund der Jahresringe nachweisen, dass im Jahr 535 ein Ereignis das Wachstum auffällig verlangsamt hat - vermutlich handelte es sich um eine riesige Aschewolke, wie sie auch 1883 entstand und den Landschaftsmalern rund um den Erdball tolle Sonnenuntergänge bescherte (dies nur en passant zum Thema globaler Nebenwirkungen).

Wenn Populärforscher sogar so weit gehen, den Untergang des Weströmischen Reiches mit einer Naturkatastrophe in Asien in Zusammenhang zu bringen, dann ist das zwar reichlich spekulativ (und stößt auch auf einige Datierungsprobleme), aber es zeugt von einem Motiv, das auch in den mitteleuropäischen Reaktionen auf die Atomgefahr in Japan noch erkennbar ist: Es gibt eine untergründige Angstlust, mit der nicht wenige Medien operieren und in der es um das globale Betroffensein von einem trotz aller Gefahr doch lokalen Ereignis geht. Eine radioaktive Wolke aus Fukushima wird in Mitteleuropa niemanden gefährden - dieses Wissen stößt auf eine tiefsitzende Skepsis, die sich daraus speist, dass die Welt auf eine Weise vernetzt und integriert ist wie nie zuvor.

Was man am Ausgang der Antike in den Jahresringen der Bäume dokumentiert findet, wird heute in den Kursen der Weltbörsen aufgezeichnet: Ausschläge nach unten, von denen vielleicht längerfristige Kurskorrekturen ausgehen. Aber das ist dann eben schon die Übertragung von Katastrophenfolgen auf eine andere systemische Ebene, auf der - wie auch auf der unmittelbaren der Nothilfemaßnahmen und Prozesseindämmung - die Verarbeitung von "impact" zu leisten ist.

Was Lissabon, Krakatau, Fuku-shima bei aller globaler Ereignishaftigkeit nämlich auch deutlich machen, ist dies: Die Erde hat sich zumindest während des Menschheitsgedenkens als zu groß erwiesen, als dass eine einzelne Katastrophe sich nachhaltig auf die Lebensprozesse hätte auswirken können (die Dinosaurier-Frage lassen wir hier einmal beiseite). Ein Desaster, das alle Kontinente gleichermaßen betreffen würde, ist absehbarerweise nicht ohne kosmische Ursache möglich.

Der New Yorker brachte vor einer Weile eine Geschichte über eine Gruppe von amerikanischen Wissenschaftern, die sich mit der Gefahr eines Asteroideneinschlags beschäftigen. Der ehemalige Astronaut Rusty Schweickhardt hat 2001 eine Vereinigung begründet, die bei staatlichen Stellen dafür wirbt, dass die Erdbevölkerung ihre Sicherheitsanstrengungen gegen NEOs ("Near Earth Objects") verstärkt - eine Anstrengung, die zum Beispiel die chronisch unterfinanzierte Nasa eher als nachrangig ansieht.

Die Gruppe um Schweickhardt gab sich den Namen B612, nach dem Asteroiden aus Antoine des Saint-Exupérys Geschichte Der kleine Prinz. Drastischere Namen wie "Armageddon" waren schon durch einschlägige Science-Fiction-Filme besetzt. Ziel der Initiative ist es, bis 2015 ein Verfahren entwickelt zu haben, mit dem Asteroiden auf Kollisionskurs rechtzeitig entdeckt werden können (das hieße in diesem Fall: 20 oder 30 Jahre vor dem berechneten Einschlag), um dann entsprechende Maßnahmen einleiten zu können. Tad Friend, der Reporter des New Yorker, schrieb diese Geschichte in einer Haltung sympathisierender Ironie ("das Sonnensystem ist ein gigantisches Pachinko-Spiel"), aber haben wir es hier nicht mit einer ähnlichen Risikoabwägung wie im Falle der Atomkraftwerke zu tun?

Der Eintritt eines Ernstfalls mag sehr unwahrscheinlich erscheinen, dafür wäre das Ausmaß des Unglücks dann gegebenenfalls verheerend in einem ungeahnten Ausmaß. In diesem Zusammenhang spielt eine gewichtige Rolle, dass die vermutlich spektakulärste Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts sich in einer Region ereignete, die kaum besiedelt ist: Das bis heute nicht restlos geklärte Tunguska-Ereignis führen die meisten Wissenschafter der jüngeren Zeit auf einen "Impaktor" oder "Boliden" zurück, der aus dem Weltall kam und von der atmosphärischen Schutzschicht nicht vollständig absorbiert werden konnte. Die Explosion, die konkurrierenden Meinungen zufolge ein Vulkanausbruch war, ereignete sich über einem sibirischen Waldgebiet, in dem kaum Menschen lebten.


Kommentar: Zum Thema Tunguska-Einschlag möchten wir die Leser auf den Artikel Tunguska, Psychopathie, und das sechste Aussterben verweisen.


Knapp an der Katastrophe

Inzwischen gibt es seriöse Berechnungen der Stärke dieses Ereignisses: Experten gehen von drei bis fünf Megatonnen TNT, das ist geringer als die Zahlen, die davor kursiert waren, hätte aber immer noch gereicht, eine Stadt wie St. Petersburg auszulöschen.

Die Erde ist also 1908 tatsächlich nur knapp einer Katastrophe entgangen, die mit ihren intellektuellen Erschütterungen das Erdbeben von Lissabon wohl noch deutlich übertroffen hätte. Bei den denkbaren kosmischen Katastrophen verschiebt sich aber das Gefahrenszenario: Denn wenn eines Tages tatsächlich "der Komet" käme, dann wüsste das die Menschheit schon viele Jahre im Voraus - eine Situation, die man sich nicht ausmalen möchte. Bei den Erdbewegungen, von denen man als Laie meinen könnte, dass es in den letzten Jahren eine auffällige Häufung gibt, aber gilt bei allen Anstrengungen der Wissenschaft, die Berechnungs- und Antizipationsmodelle zu verbessern, bis auf weiteres das alte Katastrophenprinzip der Plötzlichkeit und der Unausweichlichkeit.

Die Menschheit ist angesichts dieser Unglücksfälle vor allem auch eine Verarbeitungsgemeinschaft: Sie leistet Aufräumarbeit, Trauerarbeit, Aufklärungsarbeit und versucht sich bei all dem so gut wie möglich gegen die Gefahren zu schützen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass es im Inneren der Erde nun einmal ständig gefährlich brodelt. Irgendwann wird sie auskühlen, aber davor explodiert wohl die Sonne. Das ist dann ziemlich sicher kein Menschheitsereignis mehr.

Zur Person

Bert Rebhandl schreibt seit 1993 regelmäßig für den Standard. Seit 2000 freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin. Filmkritiker u. a. für die "FAZ" und Mitherausgeber der Zeitschrift "CARGO - Film/Medien/Kultur" (www.cargo-film.de)