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Forscherin Rachel Grant ist sich sicher: Kröten können gefährliche Erdbeben einige Tage im Voraus erkennen. Damit hätten sie eine Fähigkeit, die etliche Geoforscher heftig bestreiten. Was ist dran an der Einfühlsamkeit der Tiere?

Irgendetwas war mit den Erdkröten passiert, wunderte sich Rachel Grant von der Open University im englischen Milton Keynes. Seit dem 27. März 2009 zählte die Zoologin jeden Tag, wie viele Männchen, Weibchen und Paare auf einem 2500 Meter langen Stück am San Ruffino-See in den italienischen Abruzzen in der Abenddämmerung unterwegs waren. Zunächst war alles ganz normal, mehr als achtzig Männchen hüpften dort Abend für Abend entlang. Schließlich hatte die Laichzeit gerade begonnen. Entweder die Tiere pflanzten sich jetzt fort, oder sie müssten ein langes Jahr auf die nächste Gelegenheit warten. „Weil der San Ruffino-See sehr gute Laichplätze hat, wimmelt es dort daher zwischen Ende März und Ende April ein paar Wochen lang vor Kröten“, erklärt die Forscherin.
Am 31. März 2009 aber waren die Kröten nahezu verschwunden, weniger als zehn Männchen hüpften Rachel Grant über den Weg. Am 1. April waren es noch weniger Kröten und auch in den nächsten Tagen blieben die Tiere aus. Am 6. April 2009 bekam die Zoologin dann um 3.32 Uhr am frühen Morgen die Antwort auf ihre Frage, welches Ereignis die Kröten denn von der mit Abstand wichtigsten Aktivität des Jahres vertrieben hatte. Ein Erdbeben der Stärke 6,3 zerstörte die Stadt Aquila, das Epizentrum lag genau 74 Kilometer vom San Ruffino-See entfernt.

Geoforscher misstrauen Tieren

In den nächsten Tagen tauchten ein paar mehr Kröten am See auf, schließlich war am 9. April Vollmond und damit der Höhepunkt der Paarungszeit erreicht. Danach aber hüpften wieder nur zwei oder drei Erdkröten durch die Abenddämmerung. Erst zwei Tage nach dem letzten starken Nachbeben tauchten dann am 16. April wieder mehr als dreißig Kröten auf, in den folgenden kam sogar die Zahl 50 in Reichweite.

Damit war Rachel Grant klar, dass die Tiere gefährliche Erdbeben einige Tage im Voraus erkennen können und damit eine Fähigkeit haben, die etliche Geoforscher heftig bestreiten. Am niedrig gelegenen See können die Amphibien bei einem Beben aber leicht von Felsbrocken oder Bäumen erschlagen werden, die von den Hängen in die Tiefe stürzen. Also fliehen sie in höhere Regionen. Für Tiere mit einem kleinen Aktionsradius und sehr wenigen Möglichkeiten zur Fortpflanzung - in der Kalklandschaft der Abruzzen sind offene Wasserflächen relativ selten - bedeutet dieses Verhalten leicht den Unterschied zwischen Überleben oder Verschwinden der Art. Arten mit großem Aktionsradius wie die ebenfalls in der Gegend lebenden Wölfe ist eine solche Vorwarnung dagegen weniger wichtig, weil nach einer Katastrophe aus nicht betroffenen Gebieten in ein paar hundert Kilometern Entfernung Artgenossen rasch nachrücken können.

Aber hatten die Kröten wirklich das Beben geahnt? Manchmal verschwinden die Kröten ja auch für einen Tag, weil schlechtes Wetter ist. Die Zoologin prüfte daher, ob das Verhalten der Tiere etwas mit Niederschlag, Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Wind zu tun haben könnte. Die Statistik aber zeigte keinerlei Zusammenhang. In der Zeitschrift „Journal of Zoology“ erschien ihre Untersuchung daher unter dem vielsagenden Titel „Vorhersage des Unvorhersehbaren“. Denn Erdbebenforscher in aller Welt waren bisher genau an einer solchen Vorhersage von Erdbeben gescheitert, die Krötenmännchen offensichtlich ohne wissenschaftliche Ausbildung beherrschen.

Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee erklärt diesen Vorsprung der Kröten vor den Erdbebenforschern: „Die Evolution hatte dafür viele Jahrmillionen Zeit.“ Tatsächlich gibt es dann auch jede Menge Berichte über Tiere, die sich vor einem Erdbeben auffallend verhalten. Meist handelt es sich dabei aber um Haustiere, die nur wenige Sekunden vor dem Erdbeben warnen. Das aber können Geowissenschaftler auch. Denn ein Erdbeben löst am Epizentrum zwei unterschiedliche Typen von Wellen aus: S-Wellen können Häuser und Brücken zerstören. Deutlich schneller sind dagegen P-Wellen, die Menschen nicht spüren und die auch keine Zerstörungen anrichten. Da sie vor den S-Wellen eintreffen, können Erdbebenforscher diese P-Wellen messen und über automatische Systeme Sofortmaßnahmen auslösen: Kraftwerke herunterfahren, die Ampeln vor großen Brücken auf Rot stellen oder U-Bahnen vor der Fahrt in den Tunnel stoppen. Vermutlich registrieren auch Hunde, Hühner und Kühe diese P-Wellen und fliehen dann instinktiv aus Häusern. Diese können bei einem Beben schließlich einstürzen.

W-Wellen folgen den P-Wellen

Die wenigen Sekunden Vorwarnzeit durch P-Wellen reichen aber keineswegs, um Schulen, Fabrikhallen, Bürotrakte oder Krankenhäuser zu evakuieren. Dazu bräuchte man deutlich längere Vorwarnzeiten. Bisher aber haben Erdbebenforscher zwar eine ganze Reihe von ungewöhnlichen Erscheinungen entdeckt, die längere Zeit vor einem Beben auftreten. Diese aber treten nicht immer vor einem Beben auf, manchmal gibt es auch solche Vorwarnungen, aber es folgt kein Erdbeben. Immerhin gibt es aber ein paar Tierarten, die Erdbeben auch Wochen im Voraus zu spüren scheinen.

Sonderbare Verhaltensweisen von Fischen, Nagetieren, Wölfen und Schlangen fielen zum Beispiel bereits zwei Monate vor einem 7,5-Erdbeben am 28. Juli 1976 im chinesischen Tangshan auf, das vermutlich mehr als einer halben Millionen Menschen das Leben kostete. Für die tierischen Warner aber gilt im Prinzip das gleiche wie für die physikalisch-technischen Methoden der Erdbebenforscher: Sie sind einfach zu unzuverlässig. Direkt lassen sich diese Tiere daher kaum als Warnsystem vor Erdbeben einsetzen. Besser würde die Situation dagegen aussehen, wenn man erfahren würde, wie Tiere von einem drohenden Erdbeben überhaupt Wind bekommen. Dazu gibt es zwar eine ganze Reihe von Überlegungen, aber keine einzige handfeste naturwissenschaftliche Erkenntnis. So soll vor Erdbeben das Edelgas Radon verstärkt aus der Tiefe ausgasen, Tiere könnten das mitbekommen und so gewarnt sein. Vielleicht nehmen Tiere elektrische Erscheinungen wahr, die vor einem Erdbeben auftreten. Oder erste leichte Verschiebungen verändern das Grundwasser oder die Feuchtigkeit und die Temperatur im Boden.

Martin Wikelski hat sich daher ein Experiment ausgedacht, das er in den nächsten Monaten starten will. Der Biologe möchte am Ätna 200 bis 400 Tiere von Hunden und Gänsen über Schlangen bis zu anderen Reptilien mit kleinen Sendern ausrüsten, die Standort und Bewegungen der Träger in Echtzeit an die Wissenschaftler melden. Erschüttern dann Erdbeben den Vulkan oder bricht dieser sogar aus, können die Forscher die Bewegungsmuster jedes einzelnen Tieres vor dem Ereignis untersuchen und feststellen, ob es irgendwelche auffälligen Verhaltensweisen gibt. „Vielleicht reagieren ja nicht alle Hunde, sondern nur einige auf Vorboten einer Naturkatastrophe“, erklärt Martin Wikelski.

Diese Tiere will der Biologe dann genauer untersuchen. Zum Beispiel könnte er beobachten, ob und wie diese Tiere reagieren, während sie in einer Holzkammer sitzen, in der bestimmte Eigenschaften der Umwelt verändert werden. Am Ende weiß Martin Wikelski vielleicht, ob die tierischen Frühwarner vor Erdbeben auf Veränderungen des Magnetfeldes oder der Feuchtigkeit reagieren.