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© Helmut PangerlRisse auf der Fahrbahn in Kirchheimer Christofstraße sind Anzeichen einer Erdabsenkung.
Am ersten Weihnachtsfeiertag hat sich vor dem Haus Nummer 20 in der Christofstraße ein Erdfall ereignet. Dabei handelt es sich vermutlich um einen Hohlraumeinsturz.

Es war laut einer Anwohnerin zwischen neun und zehn Uhr abends, als am ersten Weihnachtsfeiertag in einem Teilabschnitt der Christofstraße plötzlich wie aus heiterem Himmel etwas krachend in sich zusammenstürzte. Vor dem Haus mit der Nummer 20 tat sich ein mehrere Quadratmeter großer Krater auf. Eine Stunde zuvor sei dort noch das Fahrzeug der Hausbewohnerin gestanden, berichtete eine Nachbarin gestern, vom Vorgang noch sichtlich berührt, der Bietigheimer, Sachsenheimer, Bönnigheimer Zeitung. Das Teilstück der Christofstraße ist seitdem abgesperrt. Was anfangs als Ursache eines möglichen Wasserrohrbruchs gedeutet wurde, hat nach den neuesten Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit geologische Ursachen. Die Gemeinde hat inzwischen einen Fachmann mit Untersuchungen beauftragt. Nächste Woche will der Geologe im Verwaltungs- und Bauausschuss zum aktuellen Fall Stellung beziehen.

Ein anderer Experte und ausgewiesener Kenner der Materie hat sich indes schon jetzt zum Vorgang geäußert. Dr. Hermann Behmel war am vergangenen Sonntag vor Ort, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Behmel war von 1969 bis 2002 Akademischer Direktor und Geschäftsführer des Instituts für Geologie und Paläontologie an der Universität Stuttgart. Er weist seit Jahrzehnten auf die immer wieder auftretenden Hohlraumeinstürze in tieferen Bodenschichten der Gegend rund um das Gemeinschaftskraftwerk Neckarwestheim (GKN) hin. Behmel brachte die Erdabsenkung in Kirchheim mit der hiesigen unsicheren Untergrundsituation in Zusammenhang, die auch den Baugrund charakterisiert, auf dem das GKN errichtet wurde. "Die Ursache für den Erdfall in der Christofstraße ist der Einsturz eines Hohlraums im Gips des Mittleren Muschelkalks in rund 50 bis 70 Metern Tiefe", erklärte Behmel gestern.

Mittlerweile wurde das große Loch vor dem Gebäude Nummer 20 wieder zugeschüttet. Der Einsturztrichter ist aber noch erkennbar. Die blau markierten Risse in der Asphaltdecke unmittelbar neben dem abgesenkten Straßenteil deuten ebenso auf die Brisanz des Ereignisses wie die Gipsmarkierungen an der Hauswand des betreffenden Gebäudes. Erkennbar an den Rissen in der Hauswand, reiche "der Erdfall unter das Gebäude hinunter". Es könne gut sein, dass es dort im Untergrund zu weiteren Hohlraumeinstürzen käme, äußerte Behmel. Wie sich solche erneuten Einstürze auf den Fortbestand des Gebäudes auswirkten, ließ er bewusst offen. Behmel erinnerte an ein ähnliches Ereignis wie in Kirchheim: Bereits im Jahr 2002 hatte sich zwischen Besigheim und Hessigheim an einer Stelle die Erde abgesenkt, die rund 4.500 Meter vom GKN entfernt ist. Von der Christofstraße in Kirchheim sind es nur rund 1.800 Meter zum Atomkraftwerk.

"Der Vorgang in Kirchheim ist ein Modellfall für den Untergrund des GKN", warnte der Experte aus der Landeshauptstadt. Wie in Kirchheim befände sich auch im Bereich des GKN unter der oberen wasserdurchlässigen Kalksteinschutt-Schicht eine "mürbe löchrige Gipsschicht mit Jahrtausende alten, ständig wachsenden Hohlräumen", so Behmel. Da die Rohr- und Steuerungsleitungen unter dem GKN nicht gegen die Auftriebskräfte gesichert seien, müssten dauernd riesige Mengen Wasser abgepumpt werden. Jeder Liter Wasser bringe aufgelösten Gips mit sich. Zu den mindestens 18.600 Kubikmetern Hohlräumen käme jeden Tag einen zusätzlicher Kubikmeter hinzu, erläuterte Behmel. Es ticke somit eine "geologische Zeitbombe", meinte der Experte. "Ein Hohlraumeinsturz kann jederzeit spontan auch unter wichtigen Rohrleitungen des Kühlsystems passieren. Der dann folgende Ausfall der Reaktorkühlung hätte verheerende Folgen. Das Loch in Kirchheim könnte die letzte Warnung gewesen sein", beurteilte Wolfram Scheffbuch vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar gestern das jüngste Ereignis.

Das Landratsamt weiß um die Bodenbeschaffenheit in der hiesigen Region. In Kirchheim habe es im Gebiet der Christofstraße und in Nähe zur Bundesstraße B 27 in den vergangenen Jahren immer wieder Vorkommnisse gegeben, die den Sachverhalt - das Einbrechen von Hohlräumen - bestätigten, teilte die Kreisbehörde mit.

Die EnBW vertritt als Betreiber des GKN nach wie vor die Position, das Atomkraftwerk sei auf festem Fels gebaut. Der dortige Baugrund sei sicher, hatte der Geschäftsführer der EnBW Kernkraft (EnKK), Christoph Heil noch im September 2013 im Gemmrigheimer Gemeinderat versichert. Es könne dort zwar tatsächlich "zur Auslaugung von Gips" kommen. Diesem Problem begegne der Kraftwerksbetreiber indes mit einer Zement-Suspension, die jeweils immer im Abstand von mehreren Jahren in den Untergrund injiziert würde, erklärte Heil damals. "Dies ist reine Kosmetik", kommentierte Behmel gestern die Maßnahmen der EnBW. Allmähliche Hohlraumeinstürze könnten gemessen werden. Bei "schlagartigen Durchbrüchen von Erdfällen auch ohne Erdbeben" gäben die Messeinrichtungen jedoch keinerlei Vorwarnung.