Engländer hatten es schwer im 14. Jahrhundert: Erst plagte sie eine große Hungersnot, dann fielen mehr als die Hälfte der Einwohner Londons der Pest zum Opfer. Skelette aus der Zeit des Schreckens zeigen, was geschah.
totenschädel
© Crossrail AG
Als die Pest London erreichte, wussten die Obersten der Stadt längst, dass der Schwarze Tod auf sie zukam. Er hatte sich zunächst auf dem Kontinent in den Hafenstädten Marseille und Venedig gezeigt. Dann fraß die Seuche sich langsam ins Landesinnere vor. Southampton meldete als erste Stadt Englands ebenfalls Pesttote. Als die Todesfälle immer näher rückten, kauften die Londoner Land vor den Toren der Stadt: Einen Gottesacker, der die Zehntausenden aufnehmen sollte, die in den kommenden Jahren sterben würden.

"Die historischen Berichte zeigen, dass der Ankunft der Pest in London ein erheblicher Planungsaufwand vorausging", erklärt Grabungsleiter Jay Carver. "Es gab zwei Notfriedhöfe, die für geplante und geordnete christliche Begräbnisse bereitgehalten wurden." Die Lage des ersten Friedhofs ist bereits seit den achtziger Jahren bekannt. Auf den zweiten dieser Friedhöfe stießen die Archäologen nun bei Bauarbeiten zu einem Bahntunnel unter dem Charterhouse Square im Londoner Stadtteil Farringdon.

DNA-Nachweis nach mehr als 600 Jahren

Denn längst liegt das Gelände nicht mehr vor den Toren der Stadt, sondern London ist darum herumgewachsen. Ab 2018 sollen hier die Waggons der neuen Crossrail-Linie verkehren, die 118 Kilometer lang quer durch die Stadt verlaufen wird. Mehr als 20 Kilometer der Strecke liegen unterirdisch - mitten in den ältesten, am dichtesten besiedelten Arealen der Stadt. Damit wird die Tunnelgrabung zu einer einmaligen Gelegenheit für tiefe Einblicke in die Geschichte Londons: Entsprechend beschäftigt Crossrail derzeit mehr als hundert Archäologen auf rund 40 Grabungen.

Insgesamt 25 Skelette bargen Carver und seine Kollegen unter dem Charterhouse Square, um Platz für den Tunnel zu machen. Von zwölf der Toten entnahmen sie Zähne, um mehr über ihr Schicksal zu erfahren. "Vier davon konnten positiv auf die DNA des Pesterregers Yersinis pestis getestet werden", berichtet Carver. "Das ist ein ziemlich gutes Ergebnis. Und es ist durchaus möglich, dass noch weitere der Toten infiziert waren, aber die DNA in den vergangenen 660 Jahren so weit zerfallen ist, dass wir es nicht mehr nachweisen konnten."

Allerdings starben diese Pestopfer nicht alle zugleich. Denn es blieb nicht beim ersten schweren Ausbruch der Seuche im Winter 1348/49. Im gesamten 14. Jahrhundert rollten immer wieder neue Pestwellen über die Stadt hinweg. Die ältesten Toten konnten die Ausgräber zwar dem ersten Ausbruch der Seuche zuordnen. "Aber die zweite Begräbnisphase gehört wahrscheinlich zu der Pestwelle von 1361/62", schreibt Carver. Die dritte Phase datiert sogar noch in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts: "Und wir haben DNA von Yersinia pestis in Skeletten aller drei Phasen gefunden."

Zuerst der Hunger, dann die Seuche

Es war nicht nur die Pest, unter der die Londoner litten. Die Knochen berichten von der Not und der Armut, die damals in der englischen Hauptstadt herrschte. Viele der Skelette zeigen eindeutige Zeichen von Mangelernährung und Hunger. Und 16 Prozent der Toten litten an Rachitis, einer Knochenkrankheit, die durch einen Mangel an Vitamin D ausgelöst wird.

30 Jahre vor Ankunft der Pest in London hatte es schon einmal eine große Todeswelle gegeben. Millionen Menschen verhungerten, nachdem Überschwemmungen und lange Winter in den Jahren 1315 bis 1317 die Ernten vernichtet hatten. Tierseuchen grassierten derweil unter den Viehbeständen.

Auch diese Katastrophe hat ihre Spuren in den Knochen hinterlassen. "Wir können an den Skeletten beobachten, dass einige der Individuen bei sehr schlechter Gesundheit waren oder als Kinder Hunger gelitten hatten. In einigen der Fälle können das die Folgen der Großen Hungersnot gewesen sein", vermutet Carver. Zur schlechten Ernährung kam noch die schwere körperliche Arbeit: "Wir fanden zahlreiche Hinweise auf Rückenschäden."

Knochen verraten Ernährung und Herkunft

Die historischen Quellen beschreiben auch, dass es in Folge des großen Leides zu sozialen Unruhen kam. Wer Hunger und Seuche überlebte, scherte sich oft einen Dreck um das Gesetz - denn wer wusste schon, ob er morgen überhaupt noch am Leben sein würde? "Interessanterweise finden wir bei den Skeletten der späteren Phasen - also jener Menschen, die den ersten Pestausbruch überlebt hatten - Verletzungen, die typisch sind für menschliche Gewalteinwirkung", führt Carver aus. Dazu gehören Knochenbrüche und Traumata im Bereich des Oberkörpers, wie sie bei Prügeleien und Kämpfen mit stumpfen Waffen entstehen. "Auch wenn unsere Probe natürlich nur sehr klein ist, könnten diese Verletzungen die sozialen Unruhen jener Jahre widerspiegeln", meint Carver.

Schließlich untersuchten die Ausgräber auch noch die Isotopenverhältnisse der Zähne und Knochen, um mehr über die Ernährung und Herkunft der Toten herauszufinden. Dabei stand ein Mann besonders heraus: Er war Vegetarier. Allerdings nicht von Kindheit an. Erst als Erwachsener hatte er begonnen, tierische Produkte zu meiden. Er war, so vermuten die Archäologen, dem Kartäuserorden beigetreten, dessen Mönche sich zu vegetarischer Lebensweise verpflichten.

Die Isotopenverhältnisse zeigen außerdem, wo ein Mensch seine Kindheit verbrachte. Offenbar waren 40 Prozent der Toten nicht in London aufgewachsen, sondern an so entfernt gelegenen Orten wie Schottland. Was trieb sie dazu, ihre Heimat zu verlassen und stattdessen in der hunger- und pestgeplagten Hauptstadt ihr Glück zu suchen? Das verraten die Knochen nicht. "Aber sie zeigen, dass offenbar London bereits im 14. Jahrhundert schon ebenso die Menschen anzog wie heute."