Regisseur Bryan Singer soll einen früheren Nachwuchsschauspieler als Jugendlichen vergewaltigt haben. Die Klage gegen ihn ist nur der Anfang. Hollywood droht eine Prozesslawine wegen Kindesmissbrauchs.

Die Anschuldigungen gegen Bryan Singer waren angeblich nur der Anfang. Nach der Klage des früheren Nachwuchsschauspielers Michael Egan, der „X-Men“-Regisseur habe ihn als Jugendlichen mit Drogen gefügig gemacht und bei Sexpartys immer wieder vergewaltigt, droht Egans Anwalt Jeff Herman mit neuen Enthüllungen. „Hollywood hat ein Problem mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Die Causa Egan ist der erste von vielen Fällen, die ich vorbringen werde“, sagte der Jurist. Schon die Klageschrift, die Herman in der vergangenen Woche bei einem Bundesgericht in Hawaii einreichte, garantierte erdbebenartige Erschütterungen.

„Der beschuldigte Singer gab dem Kläger Alkohol und erwähnte, ihn in einem seiner nächsten Filme zu besetzen. Der beschuldigte Singer sagte dem Kläger, dass ,seine Gruppe‘ Hollywood kontrollierte. Anschließend befriedigte er ihn mit der Hand und hatte Oralsex mit ihm“, beschrieb Herman eine Begegnung Egans mit dem Filmemacher im Jahr 1999. Als sich der damals Fünfzehnjährige später gegen weitere Übergriffe wehrte, soll der Regisseur und Produzent ihn zum Analverkehr gezwungen haben. „Wir waren wie ein Stück Fleisch, das diese Leute untereinander herumreichten“, sagte Egan bei einer Pressekonferenz, zu der Herman in der vergangenen Woche im kalifornischen Beverly Hills eingeladen hatte.

Der Missbrauch fand angeblich am Swimmingpool der Villa des Medienunternehmers Marc Collins-Rector in Encino bei Los Angeles und auf Hawaii statt. Collins-Rector, ein verurteilter Sextäter, soll die Vereinigten Staaten vor einigen Jahren mit unbekanntem Ziel verlassen haben. Der 48 Jahre alte Singer, der sich gerade auf die Premiere seines Actionfilms „X-Men - Zukunft ist Vergangenheit“ vorbereitete, als ihn Egans Zivilklage erreichte, schrieb die Anschuldigungen einer Rufmordkampagne zu. Den geplanten Auftritt mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden bei einer Konferenz über „Kreativität und Unterhaltung“ in Washington sagte der Filmemacher dennoch ab.

„Angeblich machen das alle“

Dass sich viele Nachwuchsschauspieler in der Hoffnung auf lukrative Rollen missbrauchen lassen, ist längst kein Geheimnis mehr. Spätestens seit der frühere Kinderstar Corey Feldman („Gremlins“) vor einigen Monaten in der Autobiographie Coreyography Übergriffe von Agenten und Produzenten in Toiletten beschrieb, sind die sexuellen Abgründe des zumindest vor der Kamera als prüde verschrieenen Hollywood bekannt.

„Während der Dreharbeiten lernten wir, dass sexuelle Beziehungen zwischen älteren Männern und Jungen in der Branche ganz normal sind. Angeblich machten das alle“, erinnerte sich der heute 43 Jahre alte Kalifornier, der mit seinem Freund und Ko-Star Corey Haim in den achtziger Jahren zu den Jugendidolen der Film-Enklave gehörte. „In der Mittagspause bei einem Dreh ging Haim mit einem älteren Typen zwischen zwei Wohnwagen und ließ sich dort, unschuldig und ehrgeizig, wie er war, von hinten besteigen“, schrieb Feldman. Haim, der vor vier Jahren nach langer Drogensucht an Herzversagen starb, war damals 13 Jahre alt.

Auch Shirley Temple, in den späten Dreißigern Amerikas beliebtester Filmstar, machte Erfahrungen mit Hollywoods Appetit auf Kinder. Als Hauptdarstellerin in den Kurzfilmen „Baby Burlesks“ stand sie schon im Alter von fünf Jahren als Bardame in schulterfreien Kleidern vor der Kamera, um die Zuschauer mit Lolita-Posen zu bespaßen. Acht Jahre später warf der Produzent Arthur Freed die sexuell unerfahrene Schauspielerin aus seinem Büro, als sie das Herunterlassen seiner Hose mit einem Lachen beantwortete.

Aus Kindern Profit schlagen

„Ihre Verehrer, Männer mittleren Alters und Geistliche, mögen ihre halbseidene Koketterie und ihren wohlgeformten, begehrenswerten kleinen Körper, weil die Filmhandlung ein Sicherheitsnetz zwischen ihren Verstand und ihre Lust spannt“, schrieb der Schriftsteller und Kritiker Graham Greene im Jahr 1937 über Temples Rolle in dem Abenteuerfilm Rekrut Willie Winkie. Das Statement über die Anziehungskraft der damals Neunjährigen, die vor zwei Monaten im Alter von 85 Jahren starb, endete in einem Verleumdungsprozess gegen Greenes Herausgeber der Zeitschrift Night and Day.

In den folgenden Jahrzehnten wurde Michael Jacksons Nähe zu Kinderstars wie Macaulay Culkin ebenso argwöhnisch beäugt wie Roman Polanskis Faible für das amerikanische Fotomodell Samantha Geimer und den deutschen Nachwuchsstar Nastassja Kinski. Die Schauspielerin Alison Arngrim, vor 40 Jahren als zickige Kaufmannstochter Nellie Oleson in der Serie Unser kleine Farm bekannt geworden, vermutet hinter Hollywoods kollektivem Wegsehen den Drang, aus Kindern Profit zu schlagen.

„Wer soll denn Anzeige erstatten, wenn ein Nachwuchsschauspieler sexuell missbraucht wird? Die Eltern, Agenten oder Manager? Ausgerechnet die Leute, die Geld mit dem System verdienen? Nein, sie schweigen, um die Dreharbeiten und damit die Honorare nicht zu gefährden“, sagte die Sprecherin der Kinderschutzorganisation Protect.

Missbrauch mehrerer Jungen

Während Kalifornien schon im Jahr 1939 das sogenannte Coogan-Gesetz verabschiedete, das einen Teil der Honorare von Kinderstars vor dem Zugriff gieriger Eltern oder Manager schützt, unterzeichnete Gouverneur Jerry Brown erst vor zwei Jahren das Verbot, Hollywoods Nachwuchs mit verurteilten Sextätern zusammenarbeiten zu lassen. Neben Feldman hatte sich der ebenfalls missbrauchte ehemalige Serienstar Todd Bridges (Noch Fragen Arnold?) für die Gesetzesvorlage der Demokratin Nora Campos eingesetzt.

„Ohne Vorsichtsmaßnahmen wie diese zieht Hollywood als unbeaufsichtigter Spielplatz auch in Zukunft weiter haufenweise Pädophile an“, sagte Bridges. Die Festnahme des Schauspielagenten Martin Weiss nach dem Missbrauch mehrerer Jungen und die Verhaftung des wegen Vergewaltigung vorbestraften Casting-Chefs Jason James Murphy Ende 2011 überzeugten schließlich auch die letzten Zweifler.

Weil Gouverneur Brown im Oktober 2013 aber nicht zustimmte, die Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern wie vorgeschlagen für ein Jahr aufzuheben, wich Singers angebliches Opfer Egan jetzt auf das Bundesgericht in Hawaii aus. Der gut fünf Flugstunden von Los Angeles entfernte Bundesstaat, in dem der Filmemacher den ziemlich unbekannten Schauspieler während eines Urlaubs im Jahr 1999 angeblich zweimal missbrauchte, hatte vor einigen Monaten die Verjährungsfrist für Sexualverbrechen gegen Kinder vorübergehend verlängert.

„Ich hatte die Übergriffe lange verdrängt. Jetzt sind sie durch eine Traumatherapie wieder hochgekommen“, erklärte Egan die späte Klage gegen seinen angeblichen Peiniger. Laut Anwalt Herman hatte die Mutter seines Mandanten den Missbrauch vor 15 Jahren zum ersten Mal angezeigt. Das Los Angeles Police Department habe aber nichts gegen die mutmaßlichen Vergewaltiger unternommen. Wie der Polizeisprecher Andrew Smith ankündigte, soll nun untersucht werden, warum damals nicht weiter gegen Hollywoods angeblichen Pädophilenring ermittelt wurde.