Giftschlammwelle vom 4. Oktober 2010 von Kolontar und ein halbes Hahr danach
© EPA/Zsolt SzigetvaryZwei Tage nach der Giftschlammwelle vom 4. Oktober 2010 tragen Bewohner von Kolontar Habseligkeiten aus einem zerstörten Haus. Darunter ist der gleiche - plattgewalzte - Platz ein halbes Jahr danach zu sehen.

Die Opfer leiden noch immer unter der toxischen Schlammwalze, die über zwei Ortschaften gerollt war

Das Leid, der Schmerz und die Wut haben sich in den Menschen von Kolontar und Devecser verankert. Spricht man die Bewohner der beiden Dörfer auf ihr Schicksal an, winken sie verbittert ab oder beginnen zu weinen. Ein halbes Jahr ist vergangen, seit über Ungarn die schlimmste Umweltkatastrophe aller Zeiten hereingebrochen ist, als der Damm eines gigantischen Schlammbeckens einer Aluminiumfabrik geborsten ist und tausende Existenzen zerstört hat. Das tödliche Rostbraun ist fast verschwunden, doch die Landschaft blieb unbewohnbar und das Grundwasser verseucht.

"Langsam setzt das kollektive Vergessen ein", blinzelt Bernd Schaudinnus nachdenklich in die Frühlingssonne. Der Greenpeace-Mitarbeiter war unmittelbar nach dem Dammbruch am 4. Oktober 2010 dabei; er hat erlebt, mit welcher Wucht die zwei Meter hohe und hunderte Meter breite Giftwalze übers Land rollte und alles unter sich erstickte. Mit 35 km/h raste das Ungetüm daher, und niemand war darauf vorbereitet. Zehn Menschen starben, tausende wurden obdachlos, weil sich ihre Häuser mit Arsen, Quecksilber, Cadmium, Antimon, Nickel und 33 anderen gesundheitsschädlichen Substanzen vollgesogen haben. Hunderte sind schon abgerissen worden, mindestens ebenso viele werden bis Ende Juni folgen. Devecser und Kolontar haben längst aufgehört, in ihren üblichen Strukturen zu existieren.

"Den Opfern menschlicher Sorglosigkeit und Gier." Das kleine Schild haben die Einwohner von Kolontar auf einen alten Gedenkstein gehängt. Mit nur wenigen Worten üben sie stillen Protest an einem System, das sie zu Verlierern auserkoren hat. Entschädigungen gab es bisher nicht; wer sein Haus verloren hat, dem wurde ein zwar ein neues versprochen. Doch bis dato ist nichts geschehen. "Viele wohnen immer noch in Sporthallen oder bei Verwandten", weiß Schaudinnus. Die Aufregung rund um den Betreiber des Aluminium-Werks, die MAL AG, ist längst verflogen. Die Förderanlangen laufen, die Becken füllen sich wieder mit giftigen Abfallprodukten.

Fröhlich und beschwingt marschiert eine Volksschulklasse am Katastrophenkoordinationsstützpunkt vorbei. Die Kinder tragen Schutzmasken, um den rötlichen Feinstaub nicht einzuatmen. Auf eine Aushangtafel hat man Abrisspläne geklebt, auf denen Devecser in Sektoren eingeteilt ist. Je höher die römische Zahl, desto später rollen die Caterpiller an. Mehr als die Hälfte des 6.000 Einwohner-Städtchens wird es in knapp drei Monaten nicht mehr geben. Schon jetzt klaffen dort, wo einst alte Gehöfte mit gepflegten Vorgärten standen, riesige Lücken. Bagger verteilen darauf hellgelbes Erdreich. Darunter sickern jede Menge Schwermetalle ungehindert in den Boden.

Die Giftwelle bleibt allgegenwärtig. An Hausmauern, Fensterscheiben, Baumstämmen und Gartenzäunen hat sie sich verewigt und zwingt die Menschen in Kolontar und Devecser jeden Tag und jede Stunde, sich an den 4. Oktober 2010 zu erinnern. "Das Zeug geht unheimlich schwer runter", sagt Greenpeace-Aktivist und lässt seinen Blick über einen ehemaligen Erholungspark schweifen, den die Aufräumtrupps ursprünglich vorhatten zu retten. Irgendwann mussten sie aufgeben. Der Giftschlamm war einfach überall. Heute ist die einstige Grünanlage nur noch lebensfeindliche Ödnis.

Schaudinnus, der die Bilder von damals noch deutlich vor Augen hat, ist dennoch überrascht: "Es ist viel passiert seither." Die Erde der Felder wurde abgetragen, die tausenden Tonnen Schlamm hat man quasi zurück nach Hause gebracht und gleich neben den Auffangbecken endgelagert. Denn sie ist nach wie vor da - und wird noch lange Zeit ungebetener Gast in Kolontar und Devecser bleiben.