BP versucht sich mit Entschädigungen gegen Klageverzicht aus der Verantwortung zu stehlen
Als vor einem Jahr vor der Küste des US-Bundesstaates Louisiana die Bohrinsel »Deepwater Horizon« des britischen Ölkonzerns BP explodierte, ahnten wohl nur Pessimisten, wieviel Öl auslaufen und wie lange es dauern würde, bis das Bohrloch wieder verschlossen ist. Nach über drei Monaten war das Loch gestopft. Ein Jahr später sieht es vor Ort oberflächlich heil aus und die angekündigten Konsequenzen für besseren Umweltschutz sind offenbar vergessen. Dem Anschein zum Trotz sind die Folgen der Ölpest noch längst nicht bewältigt.
Vordergründig ist die Idylle an der USA-Südküste wieder hergestellt. Die Touristen kommen wieder und bestaunen die Tierwelt, vor der Küste tuckern Fischkutter. Von der Umweltkatastrophe ist direkt nichts mehr zu sehen. Der schmierige schwarze Ölfilm, nach Schätzungen fast 900 Millionen Liter, war im Spätsommer mithilfe sogenannter Dispergatoren in winzige Einzelteilchen zersetzt worden. Darüber machten sich der offiziellen Version zufolge Bakterien her. Doch verschwunden ist das Öl nicht, das Forschungsberichten zufolge äußerst gefährliche Toxizitätswerte aufweist. Einige Forscherteams entdeckten bereits riesige zentimeterdicke Ölschichten am Meeresgrund. Fischer berichten über merkwürdige Ansammlungen von Meeresbewohnern, die vor der Katastrophe anderswo anzutreffen waren, sowie von Missbildungen und ungewöhnlichen Reaktionen, etwa von Krabben und Krebsen.
British Petroleum hatte mit Genehmigung der USA-Bundesregierung einen Großteil der Weltvorräte des Verdünners Corexit aufgekauft und als letzte Notlösung davon Millionen von Litern unter Wasser wie an der Oberfläche abgelassen. Skeptiker meinen, es handele sich um ein chemisches Verschleierungsmanöver. Die Ölkatastrophe sei künstlich nach unten verlagert und ihr wahres Ausmaß damit nur dem Blickwinkel entzogen worden.
Schnellstmöglich »Schwamm drüber« war anscheinend auch das Motto der Obama-Regierung und der Ölindustrie. Die Aufsichtsbehörde BOEMRE genehmigte der USA-Firma Noble Energy Ende Februar eine erste Tiefseebohrung 100 Kilometer vor der Küste von Louisiana, nachdem Washington bereits zu Jahresbeginn sein grundsätzliches Einverständnis für Bohrungen signalisiert hatte. Der einzige Unterschied: strengere Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungen. Seit 1. April bohrt die italienische Firma ENI SpA. Selbst BP hat Lizenzen für zehn neue Bohrlöcher beantragt und wird voraussichtlich im Sommer mit den Arbeiten beginnen.
Dass große Proteste gegen das Vorgehen der Energieriesen und die Obama-Regierung bisher ausblieben, ist den Aufräumarbeiten und den Entschädigungszahlungen zu verdanken. Denn die Löhne, die BP örtlichen Bootsbesitzern und Hilfskräften in den ersten drei Monaten nach der Explosion zahlte, waren ziemlich gut. Zudem richtete BP, um einer Prozesslawine aufgrund der im Sommer 2010 vorliegenden 250 Sammelklagen zuvorzukommen, einen Entschädigungsfonds von 20 Milliarden Dollar ein. Dabei lautet die Formel »Entschädigungszahlung gegen Klageverzicht«. Nach Angaben der Fondsverwaltung, die von der Obama-Regierung eingesetzt wurde, sind inzwischen mehr als die Hälfte der Anträge bearbeitet worden, mehrheitlich Pauschalbeträge - 25 000 Dollar für Firmen und 5000 Dollar für Individuen. Bis Jahresende 2010 waren allerdings erst 3,6 Milliarden Dollar aus dem Fonds ausgezahlt worden. Nach Presseberichten von der Golfregion, deren Wirtschaft von der Ölindustrie und von der Fischerei abhängig ist, schwankt die Stimmung der Bevölkerung, einschließlich der Bürgermeister und vieler Bezirkspolitiker, zwischen unterschwelliger Wut und Resignation. Das System der Entschädigungszahlungen sei undurchsichtig und oft »ungerecht«, heißt es. Der Präsident der Vereinigung der Austernfischer von Louisiana, Byron Encalade, klagte vor Kurzem darüber, dass viele seiner Mitglieder »gar nichts oder viel zu wenig erhalten« würden. Die Region bezeichnet er wie das von den 9/11-Anschlägen in New York betroffene Areal als »Ground Zero«. Während die BP-Kassen »wieder klingeln«, so Encalade, »sind unsere Fischereigründe erschöpft, unsere Austern tot und wir verarmt«.
Unbelehrbar
Als das Öl aus dem Bohrloch ungebremst ins Meer floss, da kursierte selbst in den USA das Wort vom »Tschernobyl der Ölindustrie« und im US-Kongress wurde ernsthaft über eine Neuregelung des ganzen Sicherheitssystems für Tiefseebohrungen diskutiert. Zwölf Monate danach sind viele Fragen noch immer ungeklärt, Repräsentantenhaus und Senat streiten um den nächsten Bundeshaushalt und die Ölindustrie drängt wieder erfolgreich in die Tiefen des Golfs von Mexiko und des Polarmeers.
Die Empfehlungen der Untersuchungskommission zur Explosion der »Deepwater Horizon«, wonach das zu enge Verhältnis zwischen Kontrollbehörden und Ölunternehmen die Sicherheitsüberprüfungen ins Leere hat laufen lassen, blieben ohne Konsequenzen.
Kaum besser sieht es in Bezug auf die technische Seite der Sicherheit aus. Bis heute sind sich der Ölkonzern BP, der Bohrinseleigner Transocean und der Hersteller des defekten Sicherheitsverschlusses für das Bohrloch (Blowout Preventer - BOP) noch nicht einmal einig geworden, ob die bekannten Wartungsmängel oder eine vom Hersteller nicht vorhergesehene Fehlstellung des Ölrohrs nach der Explosion für das Versagen des BOP verantwortlich waren. Und obwohl inzwischen klar ist, dass die Ölindustrie in keinerlei Weise für die Behebung eines Defekts unter den Extrembedingungen der Tiefsee gerüstet ist, bereiten alle großen Ölkonzerne weitere Bohrungen im Golf von Mexiko, im Polarmeer und im Atlantik vor.
Auch wenn der seinerzeit gezogene Vergleich mit Tschernobyl übertrieben ist, eine Parallele ist unübersehbar. Das gewiss technikfreundliche britische Wissenschaftsjournal »Nature« bescheinigt den Industriegesellschaften ein »Übervertrauen« in die Technik. Das reicht von der Atomwirtschaft und ihrer ganz offensichtlich unhaltbaren Vorstellung eines schon von der Konstruktion her unfallsicheren Reaktors bis zur Ölbranche, die sich trotz des Fiaskos im Golf nun den ungleich komplizierter zu beherrschenden Bohrungen im Polarmeer zuwendet. BP vorneweg.
Chronik
20. April 2010: Die 80 Kilometer vor der Küste des US-Bundesstaats Louisiana gelegene Förderplattform »Deepwater Horizon« explodiert, elf Arbeiter sterben. Zwei Tage lang steht sie in Flammen, bis sie auf den 1500 Meter tiefen Ozeangrund sinkt. Öl strömt ins Meer.
29. April: Der Ölteppich erreicht die Küsten von Louisiana. Fast 1000 Kilometer Küste von Texas bis nach Florida werden in den nächsten Wochen verschmutzt.
27. Mai: Als Reaktion auf die Ölpest stoppt die US-Regierung neue Tiefseebohrungen für ein halbes Jahr. BP versucht vergeblich, das Bohrloch zu stopfen.
1. Juni: Die US-Regierung leitet straf- und zivilrechtliche Ermittlungen gegen die Verantwortlichen für die Ölkatastrophe ein.
16. Juni: Auf Druck der US-Regierung erklärt sich BP bereit, 20 Milliarden Dollar (rund 15 Milliarden Euro) in einen Treuhandfonds für Geschädigte der Ölpest zu zahlen.
15. Juli: Nach mehreren Versuchen gelingt es BP, den Ölfluss aus dem Bohrloch mit einem Absaugtrichter zu stoppen.
19. September: Mit der sogenannten »Operation Bottom Kill« wird das Bohrloch endgültig versiegelt, die US-Behörden erklären die Ölquelle für »tot«.
10. Oktober: Nach der Verschärfung der Sicherheitsstandards hebt die US-Regierung das Moratorium für Tiefseebohrungen im Golf von Mexiko auf.
11. Januar 2011: Eine von US-Präsident Barack Obama eingesetzte Untersuchungskommission legt ihren Abschlussbericht vor. Darin heißt es, die Katastrophe sei »vorhersehbar und vermeidbar« gewesen.
1. Februar: BP-Geschäftszahlen für 2010: Das Unternehmen fährt einen Verlust von 4,9 Milliarden Dollar ein. Die Ölkatastrophe kostet den Konzern nach eigenen Angaben 40,9 Milliarden Dollar.
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