Sven Felix Kellerhoff schildert in „Der Reichstagsbrand“ die Karriere eines Kriminalfalls

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In den Abendstunden des 27. Februar 1933 wurde ein Teil des Reichstagsgebäudes in Berlin, der Plenarsaal und die darüberliegende Kuppel, durch Brandstiftung zerstört. Noch am Tatort verhaftete die Polizei den damals 24-jährigen Niederländer Marinus van der Lubbe. In den darauffolgenden Vernehmungen beteuerte er wiederholt, aus „Protest“ gehandelt zu haben und der alleinige Täter zu sein. Die Reichsregierung Hitler lenkte, kurz vor der Reichstagswahl am 5. März 1933, den Verdacht geschickt auf die oppositionelle KPD und nutzte den Brand, um Grundrechte außer Kraft zu setzen und ihre Macht diktatorisch zu festigen. Auf Grundlage der gerade mehr als drei Wochen alten Notverordnung „zum Schutz des deutschen Volkes“ holte sie aus zu einem Schlag gegen den Kommunismus in Deutschland. Schon in den ersten zwölf Stunden nach dem Brandanschlag wurden allein in Berlin über 130 kommunistische Funktionäre sowie linke Prominente festgenommen, darunter zahlreiche Reichstags- und Landtagsabgeordnete der KPD.

Nur einen Tag nach dem Brand, am Abend des 28. Februar 1933, wurde die „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“, später bekannt als „Reichstagsbrandgesetz“, im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Sie verhängte den zivilen Ausnahmezustand über das gesamte Reich und setzte alle wichtigen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft - zur „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“. SA- und SS-Schläger verschleppten echte und vermeintliche politische Gegner, folterten sie in Kellern und Hinterhäusern. Der einsetzenden Verhaftungswelle bis Ende April 1933 fielen rund 40.000 Personen zum Opfer - vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten.

Der Historiker und Publizist Sven Felix Kellerhoff, derzeit Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der „Welt“, rekonstruiert - auf Grundlage der verfügbaren Quellen einschließlich der polizeilichen Ermittlungsakten - die Brandentstehung, die Reaktion des Reichskabinetts und den politischen Nutzen, die das NS-Regime aus dem Reichstagsbrand zog. Er verfolgt die sofort aufkeimende und bis heute währende Kontroverse, ob der Brand den Kommunisten, van der Lubbe als Einzeltäter oder aber den Nationalsozialisten anzulasten sei. Zweifel an deren Version kamen früh auf. NS-kritische Kreise, aber auch die ausländische Presse hegten bereits am Brandtag die Vermutung, Hitler und besonders Göring seien verantwortlich für den Reichstagsbrand.

Während die Nationalsozialisten die Gunst der Stunde nutzten, um linke Regimegegner unter Generalverdacht zu stellen, eröffnete die KPD den Gegenzug. Die Verhaftung des Fraktionsvorsitzenden der KPD im Reichstag, Ernst Torgler, und dreier bulgarischer Kommunisten, Wassili Taneff, Blagoi Popoff und Georgi Dimitroff (der spätere bulgarische KP-Chef), am 9. März 1933 erhöhte den Druck auf die Exil-KPD. Willi Münzenberg, der „rote Pressezar“, startete von Paris aus eine breit angelegte Kampagne. Als „Braunbuch“ zusammengefasst, erschien im Sommer 1933 ein über 380 Seiten starkes Werk, das die NS-Übergriffe gegen die Kommunisten zutreffend schilderte, sich jedoch in der Täterfrage zum Reichstagsbrand einer offensichtlichen Fälschung bediente, des sogenannten Oberfohren-Memorandums.

Gegenseitige Verdächtigungen, Mutmaßungen und Schuldzuschreibungen bestimmten die Wochen nach dem Reichstagsbrand. Am 21. September 1933 begann unter Vorsitz von Wilhelm Bünger, ehemals Mitglied der DVP und kein Anhänger des neuen Regimes, der Reichstagsbrandprozess, ein Verfahren, das in weiten Teilen geprägt war von politischen Auseinandersetzungen. Am 23. Dezember 1933 erging das Urteil: Die kommunistischen Angeklagten Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff wurden freigesprochen. Damit widersprach das Reichsgericht faktisch der offiziellen Version der Nationalsozialisten. Der geständige Marinus van der Lubbe wurde wegen Hochverrats in Tateinheit mit aufrührerischer Brandstiftung zum Tod verurteilt und am 10. Januar 1934 hingerichtet.

Zweifel an seiner alleinigen Täterschaft blieben - bis heute. Sven Felix Kellerhoff schildert die stark emotionalisierte und im Nachhinein fast grotesk anmutende Debatte. „Nach 1945 zweifelte zunächst fast niemand daran, dass die Nationalsozialisten Urheber des Brandes gewesen waren, obwohl Hermann Göring diesen Vorwurf vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg überzeugend zurückgewiesen hatte“, schreibt Hans Mommsen im Vorwort. Dieser weitgehende Konsens wurde erst Ende der fünfziger Jahre durch die Forschungen von Fritz Tobias durchbrochen. Seine These „Marinus van der Lubbe war ein Einzeltäter“ blieb heftig umstritten. Ende der sechziger Jahre versuchten der kroatische Journalist Eduardo Calic und das von ihm initiierte „Luxemburger Komitee“ die Alleintäterschaft der Nationalsozialisten zu behaupten - mit schlecht fabrizierten Fälschungen, wie der ZEIT-Historiker Karl-Heinz Janßen nachwies.

Der Reichstagsbrand avancierte zum spektakulärsten Polit-Kriminalfall der deutschen Geschichte, Historiker und Publizisten führten einen hitzigen Glaubenskrieg. „Seit dem 27. Februar 1933 sind mehrere Dutzend Bücher erschienen, über hundert wissenschaftliche Aufsätze und viele tausend Zeitungsartikel. Und trotzdem ist die Lage heute kaum klarer...“, schreibt Kellerhoff. Sein Fazit ist schlüssig: Bislang erhärtet nichts die These einer Mittäterschaft der SA oder NSDAP. Zuzutrauen wäre es ihnen sehr wohl angesichts weit größerer Verbrechen. Doch: „Wer schon den Reichstagsbrand für ein inszeniertes Schurkenstück der Hitler-Partei hält, muss zwangsläufig die NS-Herrschaft insgesamt zu präzise durchgeplanter Machtpolitik erklären (...) Automatisch wird damit die Verantwortung der deutschen Gesellschaft insgesamt, hunderttausender, ja Millionen Deutscher an all diesen Verbrechen stark reduziert.“

Letztlich bleibt nur die Frage: Wie konnte der zu 70 Prozent sehbehinderte Marinus van der Lubbe - allein mit simplen Kohlenanzündern und ohne Brandbeschleuniger - einen derart verheerenden Brand entfachen? Die Lösung: Es dürfte am 27. Februar 1933 gegen 21.27 Uhr zu einem heute als „backdraft“ bekannten und gefürchteten Phänomen gekommen sein. Hierzu passen alle bekannten Details des Brandes im Reichstagsplenarsaal. Nach dem Öffnen der Türen vermischte sich im Brandsaal der zuströmende Sauerstoff innerhalb kurzer Zeit mit den heißen Rauchgasen. Die entstandene Rauchgasexplosion mit Temperaturen von bis zu 1.000 Grad war nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. So die Darstellung Kellerhoffs. Sind damit alle Kontroversen beendet? Wohl nein.

Die Alleintäterschaft van der Lubbes ist nicht unbestritten, sie gilt inzwischen jedoch als weitgehend gesichert, auf jeden Fall besitzt sie eins: ein Höchstmaß an Plausibilität. Unabhängig vom Streit in der Täterfrage hob die Bundesanwaltschaft im Januar 2008 das Urteil gegen van der Lubbe auf, da der Straftatbestand und die Möglichkeit der Verurteilung zum Tod erst mit der „Notverordnung“ vom 28. Februar 1933 und dem „Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe“ vom 29. März 1933 geschaffen wurde und somit erst nach der Tat durch direkte Einwirkung Hitlers.

Reichsbrandgesetz
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Literaturangaben:
KELLERHOFF, SVEN FELIX: Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls. Mit einem Vorwort von Hans Mommsen. be.bra Verlag, Berlin 2008. 160 S., 24 Abb., 14,90 €.