Obama/Guantanamo
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Mehr als 700 Dokumente zum Terrorknast Guantanamo offenbaren die Willkür des US-Militärs - und werden zum Problem für Barack Obama, der das Lager längst schließen wollte. Menschenrechtler erinnern den Präsidenten an sein gebrochenes Versprechen. Seine Regierung findet keine plausible Antwort.

Es gehörte zu Barack Obamas besten Momenten, wenn er von Guantanamo sprach. Minutenlanger Jubel begleitete ihn, wenn er das Gefangenenlager im Wahlkampf erwähnte, und es schien, als hätte er in diesen Momenten die kollektive Empörung eines Landes hinter sich, das damals, im Wahlkampf 2008, schon ahnte, welches Unrecht dort geschieht.

Mehr als 700 Dokumente hat WikiLeaks nun über Guantanamo veröffentlicht. Die Dokumente, die auch dem SPIEGEL vorliegen, zeigen detailliert, wie dilettantisch das Gefangenenlager Guantanamo geleitet wurde, wie willkürlich die Gefangenen verhört und beurteilt wurden. Sie liefern neue konkrete Geschichten und Gesichter für den bösen Verdacht. Doch die kollektive Empörung blieb dieses Mal aus.

Als einer der ersten US-Kommentatoren meldete sich am Sonntagmorgen Mark Thompson auf der Internetseite des Magazins Time zu Wort und fragte, ob das Thema in den Medien nicht heillos überbewertet werde. "Es fällt mir schwer zu verstehen, warum die New York Times und die Washington Post das Thema so prominent behandelt haben", schrieb Thompson. Sei es der Tatsache geschuldet gewesen, dass es sich um als geheim eingestufte Dokumente handelte oder die Täter des 11. Septembers eine nachhaltige Faszination ausüben würden? "Viel Neues", konstatierte Thompson, "steckt da nicht drin".

Forderung an Obama

Verfassungs- und Menschenrechtsorganisationen dagegen betonten die Bedeutung der Dokumente. Vince Warren vom Center for Constitutional Rights sagte, die Dokumente würden ausländischen Regierungen, dem US-Kongress und der amerikanischen Öffentlichkeit ein akkurateres Bild von dem geben, was in Guantanamo passierte. Sie zeigten ein Bild "von einer Regierung, die ihre Fehler zu rechtfertigen versuchte und Menschen über Jahre hinweg aufgrund schlechter Beweise und dem Hörensagen gefangen gehalten, verhört und misshandelt hat". Hina Shamsi, Chefin des Projekts Nationale Sicherheit der American Civil Liberties Union, erklärte: "Diese Dokumente sind bemerkenswert, weil sie zeigen, wie fragwürdig die Grundlage war, auf der die Regierung Hunderte Menschen gefangen hielt."

Die Regierung hält sich mit Kommentaren zunächst zurück, in der Hoffnung, das Thema auszusitzen. Nachdem das Pentagon die Veröffentlichung der Dokumente kritisierte, verwies Regierungssprecher Jay Carney darauf, dass es sich bei den veröffentlichten Dokumenten um Einschätzungen aus den Jahren 2002 bis 2009 handele, die bereits durch eine Neubewertung durch die Task Force der Regierung überholt seien. "Sie sollten nicht davon ausgehen, dass die Einschätzungen der Task Force dieselben waren wie die in den Dokumenten über einzelne Gefangene."

Für Shayana Kadidal, Chefanwalt für die Guantanamo-Initiative des Center for Constitutional Rights, ist das eine billige Art, sich aus der Affäre zu ziehen. Kadidal forderte Obama auf, die Dokumente der Task Force zu veröffentlichen, um das Bild zu korrigieren. "Wenn sich Obama wirklich an den Aussagen stört, kann er ja seine alternativen Einschätzungen veröffentlichen", sagte Kadidal SPIEGEL ONLINE.

"Phantom-Zone der Super-Bösewichte"

Kadidal übte auch Kritik an der Berichterstattung in den US-Medien, insbesondere an der in der New York Times. Die Zeitung habe aus falsch verstandenem Patriotismus zu unkritisch berichtet. Sie habe ihre Berichterstattung auf die als gefährlich eingestuften Gefangenen konzentriert und Bilder von Gefangenen veröffentlicht, die alle Vorurteile über potentielle Terroristen bedienten. Ausländische Medien wie der britische Guardian berichteten dagegen von den Absurditäten, dass Alte genauso wie Minderjährige behandelt würden.

Amy Davidson fragte im New Yorker: "Warum hat Obama die Dokumente nicht selbst veröffentlicht?" So zumindest hätte Obama die Bilder nutzen können, um Unterstützung dafür zu gewinnen, Guantanamo zu schließen. Aber Obama habe niemals das Bild von Guantanamo als "Phantomzone der Super-Bösewichte" in Frage gestellt, urteilt Davidson. Möglicherweise wollte Obama Guantanamo niemals ernsthaft schließen, aber muss er es jetzt?

Eugene R. Fidell, der als Militärrechtler an der Yale Law School lehrt, glaubt, dass sich durch die Veröffentlichung der WikiLeaks-Dokumente politisch nur wenig ändern wird. Guantanamo werde deshalb wohl kaum geschlossen. "Es ändert schließlich nichts an dem zentralen Problem, dass wir nicht wissen, wohin wir die Leute stecken sollen, wenn Guantanamo geschlossen wird."

Geoff Morrell, Sprecher des Pentagon, gab sich am Wochenende aufreizend gelassen und beschwerte sich darüber, dass ihm die Aufregung über die WikiLeaks-Papiere angeblich sein Osterfest verdorben haben. Auf Twitter klagte er: "Wegen WikiLeaks musste ich mein Osterwochenende mit der New York Times und anderen Medien verbringen, die die Guantanamo-Dokumente veröffentlicht haben." Kein Wort davon, dass sich in Guantanamo schnell etwas ändern muss.