Impfen
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Heute habe ich einen Kommentar auf einem deutschen Science-Blog gelesen, der von einem Diplom-Geographen und Journalisten geschrieben wurde, den ich wirklich drei mal lesen musste um zu glauben, was der gute Mann da von sich gab. Den betreffenden Text findet man in der Kommentarspalte etwas weiter unten. Ein Leser weist darauf hin wie es dazu kommt, dass "Impfentscheidungen den Eltern zu überlassen seien" und weshalb dies in den USA so diskutiert werde.
Michael 5. Februar 2015

Dieser Blog verzerrt die Debatte in den USA vollkommen. Kein ernstzunehmender Kandidat der Republikaner hat gesagt, dass Impfen nicht wirkt oder schädlich ist, sondern nur, dass die Entscheidung den Eltern überlassen werden soll. Eine Ansicht, die u.A. auch Präsident Obama teilt (the presidents view is that people should evaluate this for themselves).

Daneben muss auch gesagt werden, dass die Impfvorschriften in den USA deutlich strenger sind als in Deutschland. In Deutschland gibt es überhaupt keine verpflichtenden Impfungen und soweit ich weiss auch keine bedeutende poltische Partei, die daran was ändern will. Mit anderen Worten Rand Pauls “Schwachfug” ist der Deutsche Konsens.
Und hier erfahren wir, was der Autor so über seine Mitmenschen wirklich denkt:
Jürgen Schönstein 6. Februar 2015

@Michael #25
Das “den Eltern überlassen” IST aber das Problem - denn es sollte eben nicht allein die Entscheidung der Eltern sein, die in praktisch ALLEN Fällen auf Fehlinformation oder eben, wie man an der Diskussion sieht, auf einem (geschürten) Misstrauen gegen “die Regierung” beruht - oder gegen die Pharmaindustrie oder die Bilderberger oder wen man auch immer für Verschwörungen verantwortlich sieht. Und jedes politische Herumeiern bestärkt diese Impfgegner nur.
Um es kurz herunter zu brechen, der Autor hält seine Mitmenschen für zu dumm um eigene Entscheidungen treffen zu können, folglich muss eine Autorität, in diesem Fall der Staat, eingreifen, um diese armen und irregeleiteten Dummköpfe vor sich selbst zu schützen, notfalls unter Zwang. Darüber hinaus sieht er Misstrauen gegenüber Autoritäten als völlig fehl am Platz und als Zeichen eben jener Dummheit, der nur durch konsequentes Handeln eben jener Autoritäten beizukommen ist.

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Bob Altemeyer beschreibt solch eine Einstellung als "autoritäre Mitläufer". Das Cambridge Wörterbuch der Psychologie beschreibt "autoritäre Persönlichkeiten" bzw. "autoritäre Mitläufer" folgendermaßen:
Autoritäre Mitläufer haben eine psychologische Charakteristik, die als rechtsgerichteter Autoritarismus ("right-wing authoritarianism") bekannt ist. Dieses Persönlichkeitsmerkmal besteht aus der autoritären Unterwerfung, einem hohen Maß der Unterwerfung gegenüber den etablierten Autoritäten in der Gesellschaft; autoritärer Aggression, Aggression, die gegen viele verschiedene Personen im Namen dieser Autoritäten gerichtet wird; und Konventionalismus, einer starken Anhänglichkeit gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen, die durch diese Autoritäten unterstützt werden.

Rechtsgerichteter Autoritarismus ("rechts" kommt von "rechtmäßig") wird mit Hilfe der sogenannten RWA-Skala gemessen.
Das Wörterbuch sagt uns, dass:
... Personen, die auf der RWA-Skala hohe Punktzahlen erreichen, unterwerfen sich ziemlich bereitwillig den etablierten Autoritäten in ihrem Leben und vertrauen ihnen viel mehr als dies die meisten Menschen tun.
Bob Altemeyer, einer der Verfechter in der Erforschung der Psychologie dieser autoritären Persönlichkeiten, hat festgestellt, dass sie durch ein bestimmtes kognitives Verhalten charakterisiert sind:
Im Vergleich zu Anderen haben autoritäre Persönlichkeiten nicht viel Zeit damit verbracht, Beweise zu untersuchen, kritisch nachzudenken, eigenständige Schlussfolgerungen zu ziehen und herauszufinden, ob ihre Schlussfolgerungen sich mit anderen Dingen decken, an die sie glauben. (...) Sie haben eine Liste von 'falschen Lehren' und verworfenen Ideologien in ihren Köpfen. Aber sie haben normalerweise gelernt, welche Ideen böse und welche gut sind - von den Autoritäten in ihrem Leben. Hohe [RWAs] sind nicht dafür vorbereitet kritisch zu denken.
Laura Knight-Jadczyk schreibt über diese Art der Persönlichkeitstypen:
Das Problem der autoritären Mitläufern, die im Grunde oftmals eigentlich anständige Leute sind, führt uns zum Thema des widersprüchlichen Denkens (Doppeldenk). George Orwell prägte das Wort Doppeldenk, was so viel bedeutet wie widersprüchliches Denken, in seinem Buch 1984.³ Im Roman ist der Ursprung des Doppeldenk im typischen Bürger nicht klar, jedoch kommt die Arbeit von Altemeyer der Lösung dieser Frage ziemlich nahe; Orwell zeigt uns ausführlich, wie Menschen das Doppeldenk und den Neusprech lernen; auf Grund von Gruppenzwang und dem Bedürfnis "dazu zu gehören" oder um Status innerhalb der Partei zu erlangen und als loyales Parteimitglied angesehen zu werden.
"Doppeldenk beschreibt den Akt von gewöhnlichen Menschen, in ihrem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide als korrekt zu akzeptieren, oft in verschieden sozialen Kontexten. Dieses Paradoxon wird im Roman am prägnantesten durch die drei Partei-Slogans ausgedrückt: "Krieg ist Frieden, "Freiheit ist Sklaverei", und "Unwissenheit ist Stärke". Der Bergriff wir häufig angewendet um die Fähigkeit zu beschreiben, in einer Situation einem Gedankengang zu folgen (bei der Arbeit, in bestimmten Gruppen, im Geschäftsleben) und in einer anderen Situation einem anderen Gedankengang (zu Hause, in einer anderen Gruppe, im privaten Leben), ohne zwangsläufig den Widerspruch zwischen diesen beiden Gedankengängen feststellen zu können."
Nun kommt der Autor schon in seiner Überschrift zu einer ziemlich überraschenden Erkenntnis:
Wenn Impfen zum Politikum wird ... dann bleibt, wie so oft (leider), der Verstand außen vor.
Dabei ist nicht genau zu erkennen, wessen Verstand warum außen vor bleibt, denn offensichtlich hat der Autor eine bestimmte Vorstellung darüber, was ein "Politikum" ist und wen dieser Vorgang betrifft. Wollte man das Wort klauben, so hieße das, dass bei den Initiatoren (also den Politikern), dabei der Verstand außen vor bleibt, was sich aber schlecht mit der Aussage über die armen Dummköpfe deckt. So könnte die Aussage auch heißen, dass politische Vorgänge zu kompliziert sind um sie von Außen verstehen zu können, weshalb jeder, der sich dazu kritisch äußert, eben seinen Verstand an der Tür abgegeben hat. Aber schon gleich im darauf folgenden Text scheint klar zu werden, wen er damit meint:
Anders lässt sich die aktuelle Diskussion um die Masernimpfung in den USA nicht beschreiben: Obwohl der Nutzen unbestreitbar ist (Masern sind, auch wenn wir sie als Kinderkrankheit verharmlosen, eine tödliche Angelegenheit, die im Jahr 2013 145.700 Todesopfer gefordert hat), und obwohl die angeblichen Autismus-Risiken längst widerlegt sind, schreiben sich gleich mehrere republikanische Kandidaten für die US-Präsidentschaft den “Kampf” (oder zumindest die Rhetorik) gegen die Masernimpfung auf die Fahnen. Und obwohl noch vor einem halben Jahrzehnt Republikaner und Demokraten gleichermaßen zu 71 Prozent die Impfung befürworteten, hat sich die Zustimmung entlang der Parteigrenzen aufgespalten: DemokratInnen sind zu 76 für Masernimpfungen, aber RepublikanerInnen nur noch zu 65 Prozent.
Also sind es doch die Politiker, welche ihren Verstand dabei abgeben. Konkreter wird es im nachfolgenden Text:
Und der Mechanismus ist im Prinzip der gleiche wie beim Klimaschutz: Was die Wissenschaft sagt, wird as “special interest” abgetan, und wenn die Regierung (oder zumindest einige Regierungen der Welt) als Befürworter auftritt, dann muss es automatisch schon gegen die bürgerlichen Freiheiten gerichtet sein. Und dann kommt halt solch ein Schwachfug raus wie der, den der republikanische Senator Rand Paul verbreitet hat: Für den approbierten Mediziner ist es “eine Frage der Freiheit“, dass Eltern ihre Kinder nicht impfen müssen. (Mehr PolitkerInnen-Stimmen gibt es hier, in der aktuellen New York Times).

Das Groteske dabei ist, dass die USA gerade eine der schlimmsten Masern-Epidemien seit Generationen erlebt. Wie schon gesagt: Wenn’s um Politik geht, dann hat der Verstand Pause...
Nun scheint es außer Frage zu stehen, wer damit gemeint ist. Aber halt, wer ist denn nun kein Dummkopf, wenn es um solche Fragen geht? Ganz offensichtlich sind es Eltern und Politiker gleichermaßen, nur "die Wissenschaft" scheint dies nicht zu betreffen. Konsequent abgeleitet vertritt der Autor also die Auffassung, dass die Politik sich der Wissenschaft beugen müsse, um im nächsten Schritt das Diktat der Wissenschaft dem unwissenden Publikum per Zwang aufzuerlegen, zu dessen eigenem Wohl versteht sich. Schöne neue Welt, ey?

Was der Autor offensichtlich nicht in Betracht zieht und darüber hinaus mit der Verwendung des Begriffs "Verschwörungstheorie" auch gleich beweist, ist die Tatsache, dass "Wissenschaft" heute dem Diktat der Politik unterliegt und diese wiederum dem Kapital dient. Durch seine Aussagen belegt er beispielhaft das Dilemma, in dem er sich als Wissenschaftler und Journalist befindet. An dieser Stelle scheint es angebracht, noch einmal die Beschreibung eines autoritären Mitläufers zu zitieren:
Im Vergleich zu Anderen haben autoritäre Persönlichkeiten nicht viel Zeit damit verbracht, Beweise zu untersuchen, kritisch nachzudenken, eigenständige Schlussfolgerungen zu ziehen und herauszufinden, ob ihre Schlussfolgerungen sich mit anderen Dingen decken, an die sie glauben. (...) Sie haben eine Liste von 'falschen Lehren' und verworfenen Ideologien in ihren Köpfen. Aber sie haben normalerweise gelernt, welche Ideen böse und welche gut sind - von den Autoritäten in ihrem Leben. Hohe [RWAs] sind nicht dafür vorbereitet kritisch zu denken.
Würde er nun anfangen wahrlich kritisch über sein eigenes Welt- und Menschenbild nachzudenken, müsste ihm aufgehen, wie widersprüchlich es ist, was er schreibt. Gesundheit ist ein Aspekt, der in der Politik, der Wirtschaft, auf dem Kapitalmarkt und in der Berufswelt gaaanz weit unten rangiert. Nur im Zusammenhang mit Profit und Effizienz gewinnt Gesundheit an Bedeutung, denn ein kranker Mensch generiert keine Werte, kann in keinen Krieg ziehen und kann nicht beitragen, das Wirtschaftssystem am Laufen zu halten.

Hier scheint der Autor einer der meist gepredigten Lügen der Autoritäten auf den Leim gegangen zu sein: "Wir sorgen uns um eure Gesundheit". Weshalb es auch verständlich ist, weshalb Impfungen etwas Gutes sein MÜSSEN, unabhängig davon, ob sie es sind oder nicht.

Wenn ich nun behaupten würde, dass Impf-Kampagnen nicht die Gesundheit an sich zum Ziel haben, sondern inhärenter Bestandteil des Systems sind und damit der Generierung von Kapital dienen, würde ich mir die Bezeichnung "Verschwörungstheoretiker" einhandeln. Kritik kann hier per se nicht zugelassen werden.

Nun, leider ist die Welt nicht schwarz oder weiß, nicht alles, was das Label "gesund" trägt, ist auch wirklich förderlich für die Gesundheit und nicht jeder, der Autoritäten misstraut ist ein Dummkopf. Tatsächlich gibt es mindestens ebenso viele Studien, die Impfungen kritisch betrachten als jene, die sie befürworten. Das Gleiche gilt zum Beispiel für die elektromagnetische Strahlung von Mobiltelefonen, WiFi, für die gesamte Pharma- und Ernährungsindustrie, für die Genforschung im Human- und Agrarbereich, für die Finanzsysteme und unsere Wirtschaftslehren.

Hinter all diesen Dingen stehen Interessen und hinter diesen Interessen stehen Menschen. Nimmt man nun diese Menschen und deren Interessen und rechnet sie aus all den Studien, Meinungen und Aussagen heraus, ändert sich das Bild schon ein wenig.

Einem autoritären Gefolgsmann werden diese Schlussfolgerungen nicht schmecken, decken sie doch auf, dass er einer der Säulen ist, die den Streit, an dem er sich reibt, erst ermöglicht und trägt.

Zum Abschluss eine erwähnenswerte Studie über die Psychologie der Vorurteile:
Eine kürzlich veröffentlichte bildgebende Studie des Psychologen Drew Westen und seiner Kollegen an der Emory Universität liefert sichere Untermauerung für die Existenz von emotionalem Denken. Kurz vor den Bush-Kerry Präsidentschaftswahlen wurden zwei Gruppen für die Studie rekrutiert - 15 leidenschaftliche Demokraten und 15 leidenschaftliche Republikaner. Jeder Gruppe wurden widersprüchliche und anscheinend schädigende Aussagen über ihre Kandidaten präsentiert, und auch über eher neutrale Zielobjekte wie Tom Hanks (der anscheinend von Leuten beider Parteien gemocht wird).

Wenig überraschend kam heraus, dass, wenn die Teilnehmer gefragt wurden, eine logische Schlussfolgerung über den Kandidaten der anderen "falschen" politischen Partei zu ziehen, die Teilnehmer einen Weg fanden zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, die den anderen Kandidaten schlecht aussehen ließ, obwohl die Logik es ihnen eigentlich ermöglichen hätte sollen, die speziellen Umstände abgeschwächt wahrzunehmen und eine andere Schlussfolgerung zu ziehen. Ab diesem Punkt wird es interessant.

Wenn diese "Kontrolle der Emotionen" einsetzte, wurden Teile des Gehirns nicht einbezogen, die normalerweise beim logischen Denken aktiviert werden. Stattdessen wurde eine Konstellation von Aktivierungen an denjenigen Stellen im Gehirn aktiviert, in denen man Bestrafungen, Schmerz und negative Emotionen erlebt (in der linken Insula, im lateralen frontalen Kortex und im ventromedialen präfrontalen Kortex). Sobald ein Weg gefunden wurde, Informationen, die man nicht rational weg argumentieren kann, zu ignorieren, schalteten sich diese neuronalen Bestrafungsgebiete im Gehirn ab und die Teilnehmer erlebten eine Explosion der Aktivität in den Gehirnkreisläufen, die bei Belohnungen aktiviert werden - ähnlich zu dem High-Gefühl, das ein Drogenabhängiger erlebt, nachdem er seine Dosis bekommen hat.

Schlussendlich ließen es die Teilnehmer also nicht zu, dass Fakten ihrer übereilten Entscheidungsfindung und schnellem Belohnungskick in die Quere kommen konnten. "Keine der Kreisläufe, die beim bewusstem logischen Denken aktiviert werden, waren besonders beteiligt", sagt Westen. "Schlussendlich sieht es so aus, dass die Parteianhänger ihr kognitives Kaleidoskop so lange drehen, bis sie eine Schlussfolgerung erhalten, die sie benötigen, und dann werden sie massiv genau darin bestärkt - durch die Eliminierung von negativen Gefühlszuständen und die Aktivierung von positiven"...

Letztendlich glauben Westen und seine Kollegen, dass 'emotional voreingenommenes Denken zum "Einfahren" bzw. zur Verstärkung eines defensiven Glaubens führt und die "revisionistische" Interpretation der Daten durch die Teilnehmer mit positiven Emotionen bzw. Erleichterung und Stressbeseitigung verbunden werden. Das Ergebnis ist, dass voreingenommene Meinungen rigide werden und der Mensch nur wenig aus neu verfügbarer Information lernen kann', so Westen. Westens bemerkenswerte Studie zeigte, dass neuronale Informationsverarbeitung mit dem, was er als 'motiviertes Denken' bezeichnet, zusammenhängt ... und scheint sich qualitativ vom Denken eines Menschen zu unterscheiden, wenn dieser in Bezug auf das zu erreichende Ergebnis emotional unbeteiligt ist.

Demnach ist dies die erste Studie, welche die neuronalen Prozesse beschreibt, die politischer Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zugrunde liegen. Die Studie beschreibt ebenso die Prozesse, welche die Kontrolle der Emotionen, psychologischen Abwehr, Bestätigungsfehler ("confirmatory bias") und einige Formen von kognitiver Dissonanz zur Folge haben. Die Wichtigkeit dieser Erkenntnisse reicht über die Politikwissenschaft hinaus: 'Jeder einzelne, angefangen bei Führungskräften und Richtern bis hin zu Wissenschaftlern und Politikern, kann emotional voreingenommene Urteile bilden, wenn er eigennütziges Interesse daran hat wie die "Fakten" zu interpretieren sind.'
Wenn Sie nun mal wieder sehen, wie sich Menschen um Sinn oder Unsinn von Impfungen streiten, behalten Sie im Kopf, dass es hier nicht um die Sache an sich geht, sondern darum, welchen Autoritäten gegenüber sich zu beugen besser ist. Tappen Sie nicht in die Falle des autoritären Gefolgsmanns und seinem Bestreben, Sie glauben zu machen, auch Sie müssten sich seiner Autorität beugen.