Offiziell war Tschernobyl kein Risiko für die DDR

Nicht aus erster Hand, sondern aus dem Westfernsehen sollte auch die Staatsführung der DDR - gleich ihrer Bevölkerung - vom Atomunfall in der Westukraine erfahren. Am 28. April 1986, zwei Tage nach dem GAU, setzte nicht Moskau, sondern die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien das zuständige staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz in Ostberlin in Kenntnis. Am Folgetag gab es im Neuen Deutschland auf der Seite 5 eine unscheinbare TASS-Meldung zur „Havarie“ im Kernkraftwerk Tschernobyl. Der uninformierten DDR-Führung erlaubte die Loyalität zur Sowjetunion keinerlei Spekulation. Die Ergebnisse der unmittelbar angeordneten Messungen von Radioaktivität auf dem DDR-Territorium veranlasste sie dann aber nicht dazu, Vorsorge- oder Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung zu treffen, obwohl die Belastungen Grund zur Sorge gaben. So war der Bezirk Magdeburg durch anhaltende Niederschläge vom radioaktiven Fallout besonders belastet. Konsequenzen hatte das keine. Im Gegenteil: Autoritäten wie Günter Flach, Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung in Rossendorf, wurden aufgeboten, um medial die Ungefährlichkeit der Situation für Mensch und Umwelt zu belegen. Wir haben andere Reaktoren als in Tschernobyl, das kann hier nicht passieren, hieß es.



Das Problem wurde kleingehalten und der Westen der Panikmache bezichtigt. Am 8. Mai verkündete das Neue Deutschland im Regierungsauftrag, es bestünden „keinerlei gesundheitliche Gefährdungen für die Bevölkerung“. Dennoch blieben viele Menschen unter dem Eindruck der Westmedien skeptisch und verlangten Aufklärung. Viele wollten sich selbst schützen, weil sie spürten, hier wird etwas vertuscht. Mit den veröffentlichten Strahlenbelastungen war wenig anzufangen, es fehlte der Vergleich und es hagelte deshalb Bürgereingaben. In Ostberlin beobachteten aufmerksame Mütter Anfang Mai, dass Kopfsalat, der in der Berliner Umgebung angebaut und sonst gegen Valuta in Westberlin verkauft wurde, dort aber wegen der radioaktiven Belastung zurückgewiesen wurde, sich in den Kaufhallen im Ostteil der Stadt türmte. Als er dort auch liegen blieb, wanderte er in Kindereinrichtungen.

Wieder verbreiteten die Medien den Eindruck der völligen Unbedenklichkeit für die Volksgesundheit, so wie es in der DDR offiziell auch keinerlei Umweltprobleme gab. Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid aus den Braunkohlekraftwerken, „Saurer Regen“ und „Waldsterben“, das kannten DDR-Bürger nur aus den Westmedien. Umweltdaten galten seit 1982 als geheime Verschlusssache. Dass dies so blieb, dafür sorgte die Staatssicherheit, die die Bürgerbewegungen kleinhielt. Wer aber von Berlin nach Leipzig über Bitterfeld fuhr, konnte selbst sehen und riechen, was los war.

Andreas Schönfelder gründete als Reaktion auf Tschernobyl eine Umweltbibliothek im sächsischen Großhennersdorf: „Es gab plötzlich einen riesigen Bedarf an Wahrheit“, erinnert er sich. Aus manchem einst friedensbewegten Oppositionellen in der DDR wurde über Nacht ein Anti-Atomkraftbewegter, so Schönfelder. Umweltgruppen schufen sich eine eigene Infrastruktur, die über das Ausmaß des Super-GAUs in der Ukraine informierte. „Wir waren gar nicht kompetent, aber offenbar authentisch für die Leute“, sagt Christian Halbrock, Mitbegründer des ökologischen Netzwerkes „Arche“. Unter dem Dach der evangelischen Kirche entstanden landesweit Umweltbibliotheken. Im Selbstverlag wurden Protestschriften gedruckt. „Alle möglichen Leute interessierten sich nach Tschernobyl plötzlich für Umweltfragen und kamen auf uns zu“, so Halbrock. „Wir wollten jetzt offene, legale Strukturen aufbauen, um die Menschen zu mobilisieren.“ Tschernobyl hatte Zugkraft. Wissenschaftler entdeckten ihr oppositionelles Handeln, Schriftsteller gründeten ein Umweltaktiv in ihrem Verband. Christa Wolf meldete sich mit der Erzählung „Störfall“ zu Wort, die Einblicke in die tiefe Verunsicherung gibt, die Tschernobyl unmittelbar bei ihr auslöste.

Der Umgang mit der Katastrophe in der DDR, aber auch in der Sowjetunion wirkte wie ein Katalysator auf Friedens- und Umweltgruppen. Netzwerke, die nach Tschernobyl entstanden, bauten ihren Einfluss aus und schufen so Grundlagen für die friedliche Revolution 1989.