Tatort North Charleston: Wieder einmal ist das Opfer schwarz, der Täter ein weißer Polizist. Neu hingegen ist, dass ein Handyclip den Amok mit acht Schüssen komplett zeigt. Jetzt sollen sich die 350 Polizisten im Ort mit Körperkameras gleich selbst überwachen. Eine unsinnige Idee, denn das wahre Problem liegt woanders: In den USA wird Polizeigewalt vertuscht. Statistiken sind ungenau und lückenhaft, die Cops sind »nahezu immun« gegen Anklagen und der Rassismus lebt im Alltag.

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Ein kaputtes Bremslicht endet mit der Hinrichtung des Fahrers. Was für Europäer nach Wahnsinn klingt, passierte in den USA genau auf diese Weise. Schon wieder ein brutaler Mord an einem Schwarzen durch einen weißen Polizisten. Nur der letzte in einer ganzen Serie: Walter Scott fährt am Samstagmorgen durch die 100 000-Einwohner-Stadt North Charleston im Bundesstaat South Carolina. Einem Cop fällt das defekte Bremslicht an dem Mercedes auf. Er hält den 50-jährigen Schwarzen an, doch der vierfache Familienvater flieht aus dem Auto. Es wird seine letzte routinemäßige Verkehrskontrolle, der 4. April sein letzter Tag.


Scott ist noch Unterhaltszahlungen schuldig und flüchtet vermutlich deshalb vor Michael Slager, der den Schwarzen im nahen Park einholen kann. Es folgt ein kurzes Gespräch, doch Scott schlägt dem Streifenpolizisten eine Elektroschockpistole aus der Hand. Die fällt zu Boden und schon wieder rennt er weg. Das reicht für den Amoklauf des Cops. Er feuert eine Salve von acht Schüssen ab. Keine Warnschüsse, sondern gezielt auf den Rücken des Unbewaffneten. Fünf treffen, eine Kugel zerfetzt das Ohr, eine das Herz.

Einen lebenden Schwarzen kann der schießwütige Cop nicht gebrauchen

Scott bricht zusammen, dann läuft Slager ruhig zum leblosen Körper und legt ihm Handschellen an. Der Polizist kümmert sich nicht weiter um den Sterbenden, der mit dem Gesicht nach unten liegt. Einen lebenden Schwarzen kann er jetzt auch gar nicht mehr gebrauchen.

Er konstruiert kaltschnäuzig eine neue Version der Tat, die ihn entlasten soll. Einen Notarzt ruft er nicht. Stattdessen platziert Slager die Elektroschockpistole neben Scott und wird später behaupten, der wollte ihn damit angreifen. Es war nur Notwehr.

Ist es ein »Krieg gegen Schwarze«?

Eine Lüge, die entlarvt wird. Der Polizist bemerkt Feidin Santana hinter einem Zaun nicht: Der Frisör macht geistesgegenwärtig einen wackligen Clip von der ganzen Tat und spielt den Handyfilm der Lokalzeitung Post and Courier zu. Der Anwalt von Scotts Hinterbliebenen gibt das Video an die New York Times weiter. Es folgt das übliche Entsetzen im ganzen Land. Reflexartig, denn Polizeigewalt ist dort ein erschreckendes Problem. Viele sterben durch die Hand von Polizisten - unter seltsamen Umständen. Darunter eine große Anzahl mit dunkler Hautfarbe. Deshalb lösen Morde wie dieser immer auch eine neue Rassismus-Debatte in den USA aus. Schwarze Bürgerrechtler sprechen dann sogar vom »Krieg gegen schwarze Menschen«. Wie zuletzt bei Michael Brown in Ferguson, John Crawford in Dayton, Tamir Rice in Cleveland, Eric Garner in New York und jetzt Walter Scott.

Nelson Rivers, ein schwarzer Bürgerrechtler und Pastor in North Charleston, sagt später: »Ohne dieses Video wäre es eine völlig andere Geschichte.« Das stimmt, stimmt aber auch nicht. Ohne den Handyfilm wäre der Bürgermeister des Ortes vermutlich nicht auf diese Idee gekommen, die aber nichts verändern wird: Keith Summey verkündet auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz,dass 100 Körperkameras für die 350 Polizisten der Stadt gekauft werden.

Falsches Vertrauen in den Überwachungsstaat

North Charleston hat einen schwarzen Bevölkerungsanteil von 47 Prozent. Der Bundesstaat South Carolina galt einmal als das Herz des Südens und der Sklaverei. Vier von fünf Polizisten sind aber weiß. Die sollen sich jetzt ständig selber filmen. Ein Überwachungsstaat in der Transparenz-Offensive. Damit sollen zwei allerdings falsche Hoffnungen genährt werden: Die schwarze Bevölkerung soll beruhigt werden und der Finger der weißen Polizisten soll dann wohl nicht mehr ganz so locker am Abzug liegen. Schließlich wissen sie ja dann, dass sie »pausenlos gefilmt« werden.

Ein Trugschluss. Damit das funktioniert, müsste die US-Polizei nämlich selbst mit offenen Karten spielen, was die eigenen Fehler angeht. Wer garantiert, dass die Kameras nicht zufällig dann kaputtgehen, wenn wieder geschossen wird? Slager verwandelte sich in Sekunden vom Cop zum Mörder und bewies ein hohes Maß an krimineller Energie. Er manipulierte den Tatort in seinem Sinne. Gerade ein Polizist weiß, was er dabei wie zu tun hat.

Warum Polizisten nie angeklagt werden

Die Manipulation beginnt beim Cop auf der Straße, aber eine ganze Institution vertuscht das wahre Ausmaß. Man deckt sich gegenseitig, wie der Fall von Darren Wilson zeigt. Der weiße Polizist tötet in Ferguson den unbewaffneten Teenager Michael Brown mit sechs Schüssen. Er wird freigesprochen und eine Untersuchung des Houston Chronicle kommt zu dem Schluss, dass »Polizisten, die in Schießereien verwickelt sind, nahezu immun gegenüber Anklageerhebungen sind«.

David Rudkovsky, ein Sachverständiger für Polizeigewalt, sagt dem Nachrichtenportal Vox.com: »Die Ermittlungen werden von Polizeikollegen durchgeführt, die Anklage von Staatsanwälten formuliert, die ihr Leben lang eng mit Polizisten zusammenarbeiten.« Hinzu komme, dass die Jury-Mitglieder meist das übernehmen, was ihnen die Strafverfolgungsbehörden vorbeten.

Todes-Statistiken: freiwillig, ungenau, geschönt

Manipuliert wird aber auch im ganz großen Stil in den Statistiken: Es gibt erst gar keine offiziellen Daten, die zeigen, wie oft Polizisten warum auch immer auf Zivilisten schießen und welche Hautfarbe die Opfer haben. Daten des US-Justizministeriums gibt es nur bis zum Jahr 1998 und dort ist lediglich vom »Totschlag aus Notwehr« die Rede. Bereits damals starben jährlich 400 Menschen, 42 Prozent davon Schwarze.

Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil werden viel mehr Schwarze getötet. Außerdem waren 87 Prozent aller Polizisten damals weiß. Es gibt also eine bevorzugte Opfergruppe. Das ist aber nur das Symptom, nicht die Ursache für schießwütige Cops.

Zwar erhebt die Bundespolizei FBI eine Art polizeiliche Kriminalstatistik. Allerdings schreibt USA Today, dass nur 750 der etwa 17 000 Polizeibehörden überhaupt Daten liefern, wenn Polizisten töten. In die Daten werden keine Fälle aufgenommen, bei denen der Getötete unbewaffnet war. Die Umstände des Todes und die Hautfarbe bleiben dort auch ungeklärt.

Polizei-Brutalität wird in den USA verschwiegen

Der Blog Fivethirtyeight.com kritisiert die FBI-Statistik: Die Todesursache würde oft nicht korrekt angegeben oder die Verwicklung von Polizisten verschwiegen. Damit gibt es zwar eine offizielleStatistik, die im Grunde aber wertlos ist. Interessant wird es hingegen bei lokalen Erhebungen. Die Polizei von New York City veröffentlicht jährlich den Firearms Discharge Report.

Der zeigt eigentlich, warum Polizisten erschossen werden. Allerdings finden sich dort Angaben, wer von Polizeikugeln getroffen wird. Das ist zwar nicht genau vergleichbar, liefert aber auch eine klare Tendenz: 79 Prozent der Opfer sind schwarz, aber nur fünf Prozent sind weiß.

Bürgerrechtsorganisationen und Medien untersuchen die Polizeistatistiken auf lokaler Ebene. Allerdings beweisen auch sie nur, dass überdurchschnittlich viele Schwarze erschossen werden. Die noch wichtigere Frage aber bleibt: Wie brutal handelt die US-Polizei insgesamt? Wie viele Menschen sterben wirklich? Wie locker sitzt der Finger am Abzug bei denen, die eigentlich Leben schützen sollen?

Gerade in einem Land mit einer solchen Liebe zu Waffen ist das Thema brisant. Die eigene Pistole ist ein Grundrecht und Eltern schicken bereits ihre Kinder auf den Schießstand.

Selbstüberwachung bringt nichts

In Deutschland tötete die Polizei 2014 sechs Menschen. Kein Vergleich zu den 400 getöteten US-Amerikanern, wobei selbst diese Statistik weit weg von der Wirklichkeit scheint.

Deshalb liegt die Lösung für schießwütige Cops nicht in Überwachungskameras oder Polizisten, die sich selbst überwachen. Das tun sie bereits jetzt. Im Mordfall Walter Scott tauchte später ein Video aus dem Polizeiwagen auf - aber erst, als der Augenzeuge sein Handyvideo bereits veröffentlicht hatte. Wir erfahren durch eine Polizei, die sich selber überwacht, also auch nicht unbedingt die Wahrheit.

Die wahre Ursache: Der American Way of Life

Das Problem ist Amerikas Mentalität: Schießwut, Waffenvernarrtheit, Rassismus, das angebliche Recht auf Selbstjustiz und die Arroganz, von Gott auserwählt zu sein, all das ist Teil der US-Weltanschauung - damals wie heute und viel stärker, als es das Land selbst wahrhaben will.

Gegen Michael Slager wird bereits 2013 nach mehreren Beschwerden intern ermittelt. Er hat Walter Scott zwar als Polizist erschossen, als Mensch wächst er aber im Bundesstaat South Carolina auf. Dem Herz der Sklaverei. Das Land prägt ihn. Aufgrund der ausgedehnten Plantagen gab es dort einmal mehr Sklaven als Weiße und auch heute sind 30 Prozent der Einwohner schwarz. Scott flieht vor Slager, der ihn dann erschießt. »Als wollte er ein Reh töten, das durch den Wald läuft«,sagt der Vater von Scott. Er heißt auch Walter Scott und er beschreibt den Handyclip, auf dem ein weißer Cop seinen fliehenden Sohn kaltblütig erschießt, mit nur diesem einen Satz.

Die Cops in South Carolina haben eine blutige Geschichte. Die Polizei entwickelte sich aus einer Miliz, die entlaufene Sklaven fängt. Die waren nicht mehr als Eigentum, für dessen Ergreifung es eine Belohnung gab - tot oder lebendig. In der South Carolina Gazette findet sich der Bericht eines Plantagenbesitzers über die Flucht eines Sklaven in die Maisfelder. Die Miliz schoss auf den»neuen Neger«, der »unglücklicherweise eine Wunde im Rücken empfing« und später »trotz bester medizinischer Versorgung für tot erklärt wurde«.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Erinnerung lebt weiter. Niemand weiß genau, was in Michael Slager vorgeht, als er einen fliehenden Schwarzen mit acht Schüssen in den Rücken niederstreckt. Offenbar ist der »Alte Süden« und damit der Rassismus in den USA aber lebendiger, als es das waffenvernarrte Land wahrhaben will.