Das Autonome Nervensystem funktioniert ganz anders, als wir es bis heute in allen Anatomiebüchern lesen können. Das ist die bahnbrechende Erkenntnis, die der amerikanische Wissenschaftler Stephen Porges von der Universität Illinois in die Welt gesetzt hat. Auf Grund intensiver Studien der menschlichen Polygenese (Stammgeschichte) und der neuralen Abläufe ist Porges heute davon überzeugt, dass der Parasympatikus zweigeteilt ist in einen dorsalen und ventralen Vagus, die ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Menschliches Kontaktverhalten kann mittels der These von Stephen Porges neu erklärt werden. Im Trauma-Heilungsmodell von Dr. Peter A. Levine spielt die polyvagale Theorie eine wichtige Rolle. Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Stephen Porges für die Erlaubnis, einen Ende 2002 in der Fachzeitschrift „Scientific Agenda“ der Amerikanischen Psychologie-Vereinigung (APA) erschienen Text über seine Hypothese hier in deutscher Sprache abdrucken zu dürfen.

Als evolutionäre Kräfte das menschliche Nervensystem formten, wurden neue Strukturen hinzugefügt und ältere Strukturen verändert. Die Gehirne der frühen Wirbeltiere glichen weitgehend unserem Hirnstamm. Diese primitiven Hirne bestanden vornehmlich aus reflexiv gesteuerten Neuralkreisläufen, die versuchten, metabolische Quellen zu bewahren, während sie tapfer die Funktionen der Eingeweide schützten. Während des Evolutionsprozesses blieben die primitiven Hirnstrukturen mit ihren reflexiv verdrahteten neuralen Kreisläufe erhalten, wurden jedoch neural mit den neueren und grösseren Hirnstrukturen, welche Menschen und andere Säugetiere charakterisieren, verbunden. Anders als die primitiven Wirbeltierhirne waren die Säugetierhirne mit ihren neuen Strukturen sauerstoffhungrig und konnten leicht und irreparabel geschädigt werden, wenn die Sauerstoffsättigung im Blut absank. Mit ansteigender neuraler Komplexität konnten die Gehirne der Säugetiere als Antwort auf Herausforderungen aus der Umwelt komplexe Verhaltensweisen aufzeigen - ohne die grundlegende Erfordernis des Körpers, die Erhaltung der Homöostase in den Eingeweiden, zu gefährden. Das Ergebnis ist ein grosses, komplexes neurales System, das lernfähig ist, Probleme lösen, eine Reihe von Affekten ausdrücken und soziale Bindungen aufbauen kann.

Feedbackschleife zwischen Eingeweiden und höheren Hirnstrukturen

Um zu überleben, müssen Säugetiere den Freund vom Feind unterscheiden können. Sie müssen überprüfen, ob die Umgebung sicher ist. Und sie kommunizieren innerhalb ihrer sozialen Gruppe. Diese überlebensbezogenen Verhaltensweisen haben unterschiedliche metabolische Erfordernisse und sind mit spezifischen physiologischen, durch das autonome Nervensystem regulierten Zuständen assoziiert. Das autonome Nervensystem ist nicht nur ein periphäres neurales System, es beinhaltet auch Hirnstammstrukturen, die den Zustand der Eingeweide überwachen und die Leistung der mit den Eingeweideorganen (zum Beispiel Herz, Lunge, Darm etc.) kommunizierenden autonomen Nerven kontrollieren. Durch neurale Leitungen beeinflussen affärente (hinbringende) Informationen von den Eingeweiden die höheren Hirnstrukturen. Der Zustand der höheren Hirnstrukturen beeinflusst seinerseits die neurale Einspeisung an die Eingeweide. Diese vereinfachte Beschreibung einer Feedbackschleife (Feedback verstanden als Rückkopplung, Rückwirkung; Anmerkung des Übersetzers) ergibt ein Schema, wie das Umfeld und die subjektive Erfahrung physiologische Zustände beeinflussen können - und wie physiologische Zustände die Fähigkeit eines Säugetieres, mit Herausforderungen der Umwelt umzugehen, einzuschränken vermögen.

Phylogenetische Verlagerungen im Vagus

Während den vergangenen zehn Jahren haben wir eine Theorie aufgestellt und getestet. Sie erklärt, wie sich das primitive autonome Nervensystem der Wirbeltiere über den Prozess der Evolution in das autonome Nervensystem der Säugetiere weiterentwickelte. Dieses hat einzigartige funktionelle Eigenschaften: Es reguliert den Zustand der Eingeweide, um soziales Verhalten zu unterstützen. Wir haben sie die polyvagale Theorie genannt (Porges, 1995, 1997, 1998, 2001), um die phylogenetischen Verlagerungen im Vagus zu unterstreichen - einem Hirnnerv, der dem autonomen Nervensystem die ursprüngliche parasympathische Einspeisung vermittelt. Der Vagus primitiver Wirbeltiere ist nicht von einen Myelinmantel umgeben, nur Säugetiere haben sowohl durch Myelin geschützte als auch ungeschützte vagale efferente (absteigende) Leitungen. Die mit Myelin ummantelten (also die myelinisierten) und die ungeschützten vagalen (die nicht myelinisierten) Leitungen haben unterschiedliche Funktionen. Sie entspringen unterschiedlichen Bereichen des Hirnstammes und unterstützen unterschiedliche adaptive Verhaltensstrategien.

Die drei Verhaltensstrategien

Nach der Theorie gehören zu den drei Verhaltensstrategien der soziale Kontakt (zum Beispiel Gesichtsausdrücke, Zuhören oder Vokalisierung, also Stimmgabe), die Mobilisierung (zum Beispiel Kampf/Flucht-Verhalten) und die Immobilisation (zum Beispiel Sich-Totstellen, In-Ohnmacht-Fallen und Abschalten allen Verhaltens). Das soziale Kontakt-System, verstanden als ein System von sozialer Teilnahme und Kommunikation, ist ausschliesslich Säugetieren vorbehalten und hängt von den nur in ihnen vorhandenen, von einem Myelinmantel umgebenen vagalen motorischen Fasern ab. Dieser Säugetier-Vagus kann ruhige Verhaltensweisen fördern, kann aktiv den Einfluss des Sympathikus zum Herzen unterbinden und die HPA-Achse dämpfen. Im Gegensatz dazu hängt das Mobilisierungs-System, welches das Kampf/Flucht-Verhalten unterstützt, vom sympathischen Nervensystem ab. Der phylogenetisch primitivste neurale Kreislauf, das Immobilisierungs-System, hängt vom “vegetativen“ Vagus ohne Myelinmantel ab, den wir mit fast allen Wirbeltieren gemein haben. Zusätzlich zum Säugetierkreislauf, der den sozialen Dialog unterstützt, schlägt die Theorie auch vor, dass die Säugetiere neurale Kreisläufe behalten, die zu phylogenetisch älteren Wirbeltieren gehören und dass die Zuschaltung dieser alten Kreisläufe zur Regulierung autonomer Zustände einer Hierarchie folgt, in welcher die neuesten Kreisläufe zuerst eingesetzt werden.

Das auf sozialen Kontakt ausgerichtete System

Säugetiere besitzen also ein inneres System, das auf Kontakt und Kommunikation ausgerichtet ist (social engagement system). Es stellt die neuralen Strukuren bereit, die mit sozialen und emotionalen Verhaltensweisen zu tun haben und besteht aus zwei Komponenten: einem autonomen und einem somatomotorischen Teil. Der autonome Teil wird vom myelinisierten Vagus vermittelt, der - wie oben beschrieben - ruhige Verhaltensweisen begünstigt. Die somatomotorische Komponente wird von verschiedenen Hirnnerven vermittelt, die zusammen “spezielle efferente viszerale (zu den Eingeweiden führende) Leitungen” genannt werden. Das soziale Kontakt-System hat eine Kontrollkomponente im Kortex (die oberen motorischen Neuronen), welche die Hirnstamm-Nuklei (die unteren motorischen Neuronen) reguliert. Dadurch werden die Gesichtsmuskeln (zum Beispiel emotionaler Ausdruck), die Mittelohrmuskeln (zum Beispiel menschliche Stimmen von den Hintergrundgeräuschen lösen), die Kaumuskeln (zum Beispiel Verdauung), die Muskeln von Kehlkopf und Rachen (zum Beispiel Vokalisierung [Stimmgebung] und Sprache), die Kopfdrehmuskeln (zum Beispiel soziale Gesten und Orientierung) und das Öffnen der Augenlider (zum Beispiel Sehen) kontrolliert.

Kollektiv funktionieren diese Muskeln einerseits als Filter, welche die sozialen Stimuli einschränken (zum Beispiel Gesichtszüge beobachten und der menschlichen Stimme zuhören) und anderseits als aktive Merkmale der Beschäftigung mit der sozialen Umgebung. Die neurale Kontrolle dieser Muskeln bestimmt die sozialen Erfahrungen. Zusätzlich kommunizieren die ursprünglichen Nuklei (das heisst die unteren motorischen Neuronen) der im Hirnstamm liegenden Nerven direkt mit der autonomen Komponente (das heisst dem von einem Myelinmantel umgebenen Vagus), der den Herzschlag verlangsamt, den Blutdruck senkt und aktiv die Erregung unterdrückt, um ruhige Zustände hervorzubringen - die mit den metabolischen Anforderungen des Wachstums und der Wiederherstellung unseres neurophysiologischen Systems übereinstimmen.

Die Evolution des menschlichen Mittelohrs

Klänge aus unserer Umwelt treffen auf das Trommelfell und versetzen es in Schwingung. Diese Vibrationen werden vom Trommelfell über die kleinen Gehörknöchel im Mittelohr zum inneren Ohr weitergeleitet. Der sich verändernde Tonus des Stapediusmuskels (Steigbügelspanner; nervlich von einem Ast der Gesichtsnerven versorgt) und des Tensor tympani (Trommelfellspanner; von einem Ast des Trigeminus versorgt) reguliert die Steife der Gehörknöchelchen-Kette. Wenn diese Kette steif ist, wird die Lautstärke von niederfrequenten Geräuschen zum Innenohr gedämpft. Die funktionelle Auswirkung dieser Muskeln auf die wahrgenommene akustische Umgebung besteht darin, die niederfrequenten Töne markant zu mindern, um so die Auskopplung der mit menschlichen Stimmen assoziierten höherfrequenten Töne zu erleichtern. Unsere akustische Umgebung wird oft von lauten niederfrequenten Geräuschen dominiert - mit der funktionellen Auswirkung, dass die sanften höherfrequenten Töne der menschlichen Stimme durch sie verdeckt werden. Beim Menschen wird die Gehörknöchelchenkette vor allem durch den Stapediusmuskel reguliert, und die Anspannung dieses Muskels verhindert diesen Maskierungseffekt (siehe Borg & Counter, 1989).

Als sich die Wirbeltiere von Reptilien zu Säugetieren entwickelten, lösten sich die Strukturen am Ende des Kieferknochens und wurden zu den Gehörknöchelchen im Mittelohr. Die Evolution des menschlichen Mittelohrs ermöglichte es, dass luftübertragene, relativ hochfrequente Töne niederer Amplitude (zum Beispiel Töne in den Frequenzen der Vokalisierung) selbst dann gehört werden, wenn die akustische Umgebung von niederfrequenten Geräuschen dominiert wird. Diese phylogenetische Neuerung ermöglichte es den frühen Säugetieren, über ein Frequenzband zu kommunizieren, das von den Reptilien nicht entdeckt werden konnte. Wegen ihrer Abhängigkeit von Knochenübertragung konnten Reptilien nur niedrigere Frequenzen hören. Diese Fähigkeit, luftübertragene hochfrequente Töne niederer Amplitude in einer von niederfrequenten Geräuschen dominierten akustischen Umgebung zu hören, wurde jedoch nur möglich, wenn die Mittelohrmuskeln angespannt waren - um so die Gehörknöchelchenkette zu versteifen. Ohne diese Versteifung der Gehörknöchelchenkette würden die Säugetiere diesen Vorteil verlieren und die sanften luftübertragenen Töne der Vokalisierung könnten leicht in den lauteren, niederfrequenten Hintergrundgeräuschen verloren gehen.

Klinische Anwendungen der Polyvagal-Theorie.

Die Beschreibung der phylogenetisch begründeten Hierarchie autonomer Zustände in Verbindung mit dem Wissen um die “Auslösereffekte”, welche eine Degradierung dieser Hierarchie hat, ermöglicht eine neue Art der Erforschung von atypischem sozialen Verhalten - das in der Regel mit verschiedenen psychischen Störungen assoziiert ist. Die Polyvagal-Theorie betont, dass das Nervensystem von Säugetieren nicht nur für die Anforderungen aus der Umwelt und wahrgenommenen Stress oder Bedrohung empfindlich ist. Es reorganisiert sich auch - in vorhersagbarer Reihenfolge - schnell in verschiedene neural vermittelte Zustände. Die Polyvagal-Theorie zwingt uns, gefährdetes soziales Verhalten aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die Theorie unterstreicht, dass der Spielraum für soziales Verhalten durch den physiologischen Zustand limitiert wird. Sie betont, dass Mobilisierungs- und Immobilisationsverhalten adaptive Strategien eines herausgeforderten (zum Beispiel verängstigten) Individuums sein können.

Wir haben uns dafür entschieden, diese Theorie zu testen: Ausgangspunkt war die Hypothese, dass durch eine neurale Regulierung von Hirnstamm-Strukturen (die zum System der sozialen Kontaktaufnahme in Zuständen von Ruhe und Entspannung gehören) das spontane soziale Verhalten verbessert wird.

Akustische Stimulierung für eine neurale Regulierung

Wir entwickelten eine Intervention über eine akustische Stimulierung - mit dem Ziel, die neurale Regulierung des sozialen Kommunikations- und Kontakt-Systems zu erreichen. Wir testeten diese Idee, indem wir das soziale Verhalten von Kindern beobachteten, die als autistisch diagnostiziert worden waren. Die Intervention basierte auf mehreren aus der Polyvagal-Theorie abgeleiteten Prinzipien. Es macht Sinn, diese hier klar zu benennen, um die Testreihe nachvollziehen zu können:
  • Erstens reguliert der Bereich des Hirnstamms, der den Säugetier- oder myelinisierten Vagus reguliert, auch die Kopfmuskeln - jene von Gesicht, Mittelohr, Mund, Kehlkopf und Rachen eingeschlossen. Diese Muskeln funktionieren gemeinsam mit dem Myelin-Vagus als ein integriertes soziales Dialog-System. Es ermöglicht ruhiges Verhalten und kontrolliert Sehen, Hören, Sprechen und Gesichtsausdruck. Wenn die neurale Regulierung des somatomotorischen Anteils nicht funktioniert, ist das Gesicht nicht in vollem Umfang ausdrucksfähig (zum Beispiel eingeschränkte Expression des Gesichts, mangelndes Öffnen des Augenlids, gestörter Satzrhythmus [Prosodie] oder reduzierte Fähigkeit zum Zuhören). Bei einer dysfunktionalen autonomen Komponente werden die Möglichkeiten eingeschränkt, Verhalten zu regulieren und einen ruhigen Zustand aufrechtzuerhalten - weil im autonomen Bereich des Nervensystems der Sympathikus vorherrschend ist. Und der unterstützt klar ein Kampf/Flucht-Verhalten. Interessanterweise werden diese autonomen Eigenschaften und Gesichtsaudrücke oft mit Psychopathologien (z. B. Autismus, Depression, aggressive Störungen und posttraumatischer Stress), mit emotionalen Zuständen während grossen Herausforderungen (z. B. Gram, Wut, Zorn, Einsamkeit) oder medizinischen Krankheiten (z. B. Senilität, AIDS, Fieber) assoziiert.
  • Zweitens spielen die Mittelohrmuskeln eine wichtige Rolle für die Ausfilterung der menschlichen Stimme aus unserer komplexen akustischen Umgebung. Wenn der neurale Tonus zu den Mittelohrmuskeln niedrig ist, filtern die Mittelohrstrukturen die niederen Frequenzen, die unsere akustische Umgebung in der modernen industrialisierten Welt beherrschen, nicht aktiv aus und es wird schwierig, den Inhalt der menschlichen Stimmen zu verstehen. Diese Hörschwierigkeiten können auch bei einem Individuum auftreten, das normal hört (verstanden als normales Funktionieren der Cochlea, des Hörnervs und der Hirnregionen, die akustische Informationen verarbeiten).
  • Drittens ist die neurale Regulierung der Mittelohrmuskeln neuroanatomisch mit der Regulierung der Muskeln verbunden, welche den Gesichtsausdruck und die stimmliche Intonierung kontrollieren. Deshalb sollten auch positive Veränderungen im Gesichtsausdruck, im Sehen und in der Stimmbildung zu beobachten sein, wenn durch eine Stimulation die neurale Regulierung der Mittelohrmuskeln verbessert wird.
In Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Olga Bazhenova wurde eine Intervention entworfen, um die kortikale Regulierung des sozialen Kommunikations-Systems zuzuschalten - und so die freiwilligen prosozialen Verhaltensweisen anzuregen, die in autistischen Kindern fehlen. Es muss betont werden, dass wir hier ein optimistisches Modell vertreten: Wir gehen davon aus, dass bei vielen Kindern mit sozialen Verhaltensproblemen das soziale Dialog-System neuroanatomisch und neurophysiologisch an sich intakt ist. Ihr Problem wird aus dieser Warte als ein funktionelles Defizit angesehen. Damit spontanes soziales Verhalten vermehrt eintreten kann, muss die kortikale Regulierung des Hirnstammsystems stimuliert werden, welches die Kopfmuskeln kontrolliert. Die Theorie geht davon aus, dass soziales Verhalten und Kommunikation spontan als natürlich auftretende Eigenschaften des biologischen Systems einsetzen - sobald die kortikale Regulierung des Hirnstammsystems einmal zugeschaltet ist. So wird die Intervention als eine “Stimulation” und “Übung” für jene Nerven angesehen, welche die Kopfmuskeln regulieren.

Frequenzspektrum vervollständigen

Zur Stimulation des auf sozialen Kontakt ausgerichteten Systems wurden die Aufnahmen von Kinderliedern im Computer derart verändert, dass alle Frequenzen ausserhalb der Bandbreite von menschlichen Stimmen entfernt und die verbleibenden Frequenzen abgestuft wurden. So entstanden fünf 45-minütige Programme. Jedes Programm fügte progressiv weitere Frequenzen hinzu, bis das gesamte Frequenzspektrum vorhanden war. Die akustische Stimulierung erfolgte über Kopfhörer, während sich die Kinder in einem Spielzimmer befanden. An fünf aufeinander folgenden Tagen wurde jeweils ein Programm abgespielt. Der Theorie entsprechend versuchten der Versuchsleiter und ein anwesender Elternteil das Kind in einem ruhigen Zustand zu halten, während es zuhörte. Das Verhalten wurde über Fragebögen an die Eltern und die Kodierung von Videoaufnahmen beurteilt, wobei die Aufmerksamkeit beim Betrachten der Bilder auf eine vorgegebene Aufgabe ausgerichtet war.

In Vorstudien wurden etwa 100 Kinder mit autistischen Spektrumstörungen im Alter zwischen 3 und 5 Jahren getestet. Sie wurden in verschiedene Gruppen aufgeteilt:
  1. die computerveränderte akustische Stimulierung erhielten,
  2. die Kopfhörer trugen, aber keine akustische Stimulierung erhielten,
  3. die ungefilterte Musik erhielten,
  4. die nur die Beurteilung erhielten.
Die Daten zeigten die einmalige Effektivität der computerveränderten akustischen Stimulierung, besonders in der Reduktion von Hörempfindlichkeiten und einer klaren Verbesserung der Fähigkeit, sich mitteilen zu können. Die positiven Resultate blieben auch während der dreimonatigen Nachprüfung erhalten. Mit der Zunahme des spontanen sozialen Kontaktverhaltens der Kinder nahmen die von aussen bestimmenden Interventionen der Eltern ab. Diese Beobachtung aus der Praxis war ebenfalls im Einklang mit der vorher formulierten Theorie. Im Moment dehnen wir die Anwendung der Interventionsforschung aus und beziehen auch Erwachsene mit Autismus, sowie Kinder mit verspäteter Sprachentwicklung in die Testreihen ein.

Über den Autor

Prof. Dr. Stephen Porges ist Professor an der Universität von Illinois in Chicago, wo er das sogenannte Gehirn-Körper-Zentrum leitet. Seine polyvagale Theorie liefert die theoretische Grundlage für das „Übersetzungs-Forschungs-Programm“, in welchem neurobiologische Erkenntnisse in Bezug auf ihren klinischen Wert und die damit zusammenhängenden Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis getestet werden. Er gastiert am 18. und 19. Mai erstmals für eine Lehrtätigkeit in der Schweiz. Am Nachmittag des 18. Mai wird er auf Einladung des „Zentrums für Innere Ökologie“ seine polyvagale Theorie vorstellen und dann im zweiten Teil der Veranstaltung für Fragen und Diskussionen zur Anwendung der Theorie für den Praxisalltag offen sein. Am 19. Mai leitet er einen Tagesworkshop zum Thema „Liebe - ein Bestandteil des Autonomen Nervensystems bei Säugetieren“.

Referenzen
  1. Porges, S.W. (1995). Orienting in a defensive world: Mammalian modifications of our evolutionary heritage. A Polyvagal Theory. Psychophysiology, 32, 301-318.
  2. Porges, S.W. (1997). Emotion: An evolutionary by-product of the neural regulation of the autonomic nervous system. In C. S. Carter, B. Kirkpatrick, & I.I. Lederhendler (eds.), The Integrative Neurobiology of Affiliation, Annals of the New York Academy of Sciences, 807, 62-77.
  3. Porges, S.W. (1998). Love: An emergent property of the mammalian autonomic nervous system. Psychoneuroendocrinology, 23, 837-861.
  4. Porges, S.W. (2001). The Polyvagal Theory: Phylogenetic substrates of a social nervous system. International Journal of Psychophysiology, 42, 123-146.
Mögliche Entre-Filets (längere am besten über zwei Spalten):

1) Während des Evolutionsprozesses blieben die primitiven Hirnstrukturen mit ihren reflexiv verdrahteten neuralen Kreisläufe erhalten, wurden jedoch neural mit den neueren und grösseren Hirnstrukturen, welche Menschen und andere Säugetiere charakterisieren, verbunden.

2) Der Vagus primitiver Wirbeltiere ist nicht von einen Myelinmantel umgeben, nur Säugetiere haben sowohl durch Myelin geschützte als auch ungeschützte vagale efferente (absteigende) Leitungen.

3) Der Säugetier-Vagus kann ruhige Verhaltensweisen fördern, kann aktiv den Einfluss des Sympathikus zum Herzen unterbinden und die HPA-Achse dämpfen.

4) Die Regulierung autonomer Zustände folgt einer Hierarchie, in welcher die neuesten Kreisläufe zuerst eingesetzt werden.

5) Unsere akustische Umgebung wird oft von lauten niederfrequenten Geräuschen dominiert - mit der funktionellen Auswirkung, dass die sanften höherfrequenten Töne der menschlichen Stimme durch sie maskiert werden.

6) Die Polyvagal-Theorie zwingt uns, gefährdetes soziales Verhalten aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Übersetzung ins Deutsche: Urs Honauer, Februar 2003