Kreativität lässt sich weder messen noch erzwingen. Sie hängt vielmehr von harter Arbeit und ein bisschen auch vom Zufall ab.
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Mit der menschlichen Kreativität beschäftigen sich Forscher schon lange. Greifbarer wurde das Geheimnis der originellen Ideen nicht. Schon neurologisch lässt sich Kreativität mehr schlecht als recht erklären. Zu dieser Erkenntnis kamen Andreas Fink und Mathias Benedek von der Universität Graz. Die Psychologen hatten 2012 die Hirnströme von Probanden bei kreativen Leistungen gemessen. „Kreativität lässt sich nicht durch die Aktivierung oder Deaktivierung spezieller Hirnzellen oder -areale erklären“, schreiben sie in der Fachzeitschrift Neuroscience and Behavioral Reviews. Stattdessen handele es sich, um funktionales Zusammenspiel verschiedener Hirnareale in komplexen neuronalen Netzwerken. Soweit so unklar. Bis weit ins 17. Jahrhundert schrieb man alles Kreative einfach einer höheren Macht zu. Inspirationen wurde im wahrsten Sinne der Wortbedeutung von Gott eingehaucht. Der anfänglichen Mystifizierung folgte in den nächsten Jahrhunderten die Ratio und die Besinnung auf den eigenen Geist. Kreativität schrieben die Psychologen von nun an dem eigenen Kopf zu. In der Fachliteratur wird eine kreative Leistung seither als Neuformierung von Informationen und dem Einbringen von etwas Neuem in ein angestammtes Feld definiert. Messen oder gar trainieren lässt sich Kreativität trotz schöner Definitionen und unzähligen Studien nicht.

Ob ein Mensch kreativ sein kann, hängt von vielen Faktoren, manchmal auch von Zufällen ab, wie folgende Anekdote zeigt. Gillian Lynne war eine schlechte Schülerin. Sie hatte Probleme zuzuhören und störte oft den Unterricht. Die Lehrer rieten ihrer verzweifelten Mutter zum Besuch beim Psychologen. Gesagt, getan: Eine Stunde lang hörte sich der Arzt Geschichten über das zappelige Mädchen an. Am Ende der Sitzung bat er die Mutter für einen Moment vor die Tür. Beim Hinausgehen stellte er noch das Radio an. Kaum waren beide aus der Tür, sprang Gillian auf und bewegte sich zur Musik. „Der Psychologe sagte zu meiner Mutter, ihre Tochter ist nicht krank, sie ist eine Tänzerin“, erinnert sich die inzwischen fast 90-Jährige. Statt zur Therapie schickte die Mutter ihre Tochter zum Tanzunterricht. Gillian Lynne wurde erst eine weltberühmte Tänzerin und später die Lieblingschoreographin von Andrew Lloyd Webber. Musicalerfolge wie Phantom der Oper oder Cats machten sie zu einer Multimillionärin. Ihr Glück: Die Diagnose ADHS war damals noch [nicht] „verfügbar“, sonst hätte der Psychologe ihr vielleicht Ritalin verschrieben, statt ihre Begabung zu erkennen.


Die Psychologie hat fünf Grundbedingungen für die Kreativität von Menschen wie Gillian Lynne ausgemacht - Wissen, Begabung, Umgebungsbedingungen Motivation und Persönlichkeit. Ein erster, wichtiger Punkt dieser Theorie: Neben der besonderen Begabung braucht der Kreative vor allem Wissen. Beste Beispiele für diese These sind Albert Einstein und Wolfgang Amadeus Mozart. „Sie waren unglaublich kreativ auf ihrem Gebiet, weil beide ein außergewöhnliches Gedächtnis und hohes Fachwissen hatten“, sagt Rainer Holm-Hadulla, Kreativitätsforscher an der Universität Heidelberg. Eine einfache, wie wichtige Aussage: Ohne ein tiefes Verständnis für die Physik und Mathematik hätte Einstein keine bahnbrechenden Einfälle gehabt. Ohne die Fähigkeit Klavier zu spielen und Noten zu lesen, hätte auch Mozarts besondere Vorstellungskraft nicht ausgereicht, um geniale Stücke zu komponieren. Eine weitere wichtige Rolle spielt die Förderung der Talente: Wissenschaftler unterscheiden verschiedene Arten von Begabungen - mathematisch, sprachlich, sportlich oder musikalisch. Sie alle sind uns Menschen in einer bestimmten Ausprägung angeboren. Um daraus ein Talent zu machen, müssen sie früh gefördert werden. „Der Vater von Wolfgang Amadeus Mozart ermutigte seinen Sohn von Anfang zum Komponieren und unterstützt ihn mit allen Mitteln“, sagt Eckart Altenmüller, Neurologe und Direktor des „Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin“ (IMMM) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Schon der Vater selbst galt als ein begnadeter Musiker und hat ein entsprechend strukturiertes Programm entwickelt, um seinen Sohn zu fördern. Die kleine Schwester, das Nannerl, bekam dagegen deutlich weniger Aufmerksamkeit. „Damals galt es als unfein, wenn eine Frau komponierte“, sagt Altenmüller. Obwohl sie schon früh mit ihrem Bruder auftrat und als begnadete Pianistin galt, sind von ihr keine eigenen Stücke überliefert.

Ohne Unterstützung und positiven Zuspruch kann sich selbst ein kreativer Geist nicht entfalten“, sagt dazu David Kelley. Der renommierter Produktdesigner von der Stanford University sieht in der Angst vor einem Urteil und mangelnder Unterstützung eine große Gefahr für Kreativität. Zum Bruch des Selbstvertrauen komme es oft schon im Kindesalter. „Wenn Kinder abrupt im kreativen Prozess unterbrochen werden, zerstört das die Freude und verwurzelt das Gefühl nicht kreativ sein zu können“, sagt Kelley. Entscheidend ist deshalb ein konstruktives Interesse und gutes Feedback während des kreativen Prozesses. Das gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsenen. Wie wichtig Mut und Selbstvertrauen für die Erschaffung von etwas Neuem ist, zeigt die Geschichte. „Franz Kafka oder Vincent Van Gogh waren ihr gesamten Leben lang kreativ, ohne dafür besonders viel Anerkennung zu bekommen. Nur ihr eigene Überzeugung hat ihnen die Gewissheit gegeben, dass sie etwas Wertvolles erschaffen“, sagt Altenmüller. Gute Ideen allein reichen also nicht aus. Mindestens genauso wichtig ist es, sie auch umzusetzen und die Frustration zu ertragen, wenn der Geistesblitz auf sich warten lässt. Die Eingebung von oben ist übrigens oft deutlich unspektakulärer, als man denken mag. Viele Kreative sind bei genauerer Betrachtung ziemliche Gewohnheitstiere und echte Malocher. Ein Beispiel dafür ist Thomas Mann. Jeden Tag setzte er sich um neun Uhr an den Schreibtisch und arbeitet bis 13 Uhr konzentriert an seinen Büchern. „Aus dieser Routine sind solche Meisterwerke wie Doktor Faust oder der Zauberberg entstanden“, sagt Altenmüller. Ähnlich strenge Rituale sind auch von Wolfgang Goethe und Pablo Picasso überliefert. Ihre magischen Geistesblitze waren eher ein Produkt harter und konsequenter Arbeit. „Der Trick ist es, während der Routine die Offenheit für Kreativität und Zeit für freie Gedanken zu behalten“, sagt Holm-Hadulla. Genau mit dieser Offenheit lässt sich auch der Geistesblitz unter der Dusche oder beim Sport erklären. „In diesem Ruhemodus des Gehirns können wir frei phantasieren und unbewusst Informationen neu kombinieren“, sagt er. Für unsere Kreativität ist förderlich sich für solche Momente des freien Gedenkens regelmäßig Zeit zu nehmen, rät der Psychologe. Allerdings muss man seine Ideen dann auch auf Papier bringen. Am Ende bleibt nur noch ein kleiner Haken: Ob die Idee am Ende kreativ ist oder nicht, entscheidet auch die Gesellschaft, denn sie muss die Werke letztendlich als originell oder innovativ annehmen.

Mythen über Kreativität

Brainstorming lohnt sich: Studien der Universität Utrecht legen nahe, dass Kreativität in der Gruppe bis zu 50 Prozent weniger Ideen produziert als einzeln nachdenkende Menschen.

Kreativität und Intelligenz gehören zusammen: Einen Zusammenhang zwischen Kreativität und Intelligenz gibt es nur teilweise, nämlich bei durchschnittlich begabten Menschen. Bei der hohen Intelligenz besteht der Zusammenhang nicht mehr. Hochbegabte können durchaus sehr unkreativ sein.

Kreativität lässt sich trainieren: Unzählige Ratgeber versprechen eine Steigerung der Kreativität durch einfache Übungen. Allerdings sind die meisten Denkstrategien sehr abstrakt und können ohne genügend Fantasie nicht auf den Alltag angewendet werden. Oder anders formuliert: Um Kreativität zu trainieren, muss man kreativ genug sein.

Drogen helfen bei der Kreativität: Es gibt keine Drogen, die die Kreativität begünstigen. Studien belegen, dass allenfalls bei einer geringen Alkoholmenge, vielleicht ein bis zwei Gläsern Wein, Untersuchungsteilnehmer das Gefühl haben, sie wären kreativer. Dieses Gefühl tritt aber nur auf, wenn sie schon vorher glaubten, Alkohol steigert schöpferische Impulse - ein klassischer Fall von Placebo-Effekt. Auch Cannabis erzeugt häufig eine ausgegliche Stimmung, lähmt jedoch in aller Regel die Produktivität.

Das Genie arbeitet regelmäßig am Rande des Wahnsinns: Kreative Menschen sind weder besonders neurotisch noch besonders oft depressiv, das zeigten Untersuchungen der University Chicago. Selbstsicherheit, Optimismus und Offenheit für Neues sind deutlich wichtiger. Schwere psychische Erkrankungen beeinträchtigen die Produktivität eher.

Der Text von Birk Grüling erschien zuerst im MINT Zirkel.