Während alle ganz konzentriert auf die kommende Volksabstimmung blicken, sowohl in Hellas wie auch in anderen Ländern, spitzt sich die Situation an der Grenze Griechenland-FYROM zu. Und keiner schaut hin.

Flüchtlinge haben es nach Griechenland geschafft Mai 2015
© ReutersSymbolbild
Es ist halb 10 Uhr abends, da klingelt mein Handy. Es ist Vasilis Tsartsanis, der mich fragt, ob ich Lust hätte, ihm zu helfen, ich solle nach Evzoni kommen, da werde dringend Hilfe gebraucht.

Eine gute halbe Stunde nach dem Anruf bin ich in Evzoni. Das normale Bild dort, an das man zwischenzeitlich schon gewöhnt war, hat sich verändert: Die Massen an Teilnehmern der Völkerwanderung nach Zentraleuropa sind nicht mehr anzutreffen, sie verteilen sich jetzt auf die Felder unmittelbar vor der Grenze zur FYROM. Und dort bleiben sie vorerst, wie es aussieht.

Während ich Vasilis gemeinsam mit Evelina, einer sehr engagierten Griechin aus Polykstro, dabei behilflich bin, einer Gruppe Syrier mit Säuglingen, kleinen Kindern und einem schwer gehbehinderten jungen Mann zu helfen - seine Freunde transportieren ihn auf einem Schubkarren, der schnell organisiert wurde, gebracht worden ist er auf einer Leiter liegend, wie Vasilis mir erklärt - informiert mich Vasilis darüber, was los ist und wie sich die Situation an den Übergängen, die von den Flüchtlingen normalerweise benutzt werden, entwickelt hat:

Laut Vasilis haben unsere Nachbarn zwischenzeitlich Militär aufgefahren. Jeder Zentimeter der Grenze werde jetzt kontrolliert, erklärt er, den Flüchtlingen, von denen ohnehin niemand den Wunsch verspüre in der FYROM zu bleiben, komme kaum noch jemand durch.Viele derjenigen, die es dennoch schaffen, werden kurz nach der Grenze bereits erwartet: Die "Mafia" sei zwischenzeitlich bestens organisiert und erleichtere die ohnehin verängstigten, aus einem Kriegsgebiet kommenden Menschen um all ihr Hab und Gut, wobei nicht unterschieden werde zwischen Männern, Frauen und - ja, manchmal würden sogar Kinder als Geiseln dafür benutzt werden, dass die Eltern schnell alles abgäben, was sie mit sich tragen. Diese "Mafia" bestehe vornehmlich aus Albanern und Skopjanern (so nennen wir hier unsere Nachbarn), sagt er mir, und es gebe keine Möglichkeit, die Flüchtlinge von Griechenland aus zu schützen - außer für sie zu beten.

Die Konsequenz daraus ist, dass nun Hunderte von Menschen, vornehmlich Syrier, vor der Grenzlinie in den Feldern warten, manchmal in Zelten, in der Hoffnung, ein Schlepper könne sie doch irgendwann sicher nach drüben bringen. Und von hinten kommen tagtäglich neue Ankömmlinge nach, sodass sich deren Zahl, wenn sich nicht schnell etwas ändert, wohl schon bald die ersten Tausend erhöhen wird.

Ein Syrier namens Ali, erzählt mir, seine Familie habe ihn geschickt, um sich in Berlin ein Projektil aus dem Brustbereich herausoperieren zu lassen - in Syrien seinen die Mittel für diesen gefährlichen Eingriff nicht mehr vorhanden, und den Ärzten in der Türkei vertraue man nicht so sehr, sagt er. Wie er das bezahlen wolle, frage ich ihn, und er meint, seine Familie habe Geld, das sei kein Problem. Verwundert frage ich Ali, warum er dann nicht einfach mit dem Flugzeug nach Deutschland reise, das Laufen bereitet ihm sichtlich Schmerzen und ich verstehe nicht, warum er sich diesen langen Weg zu Fuß zumuten will."Wir bekommen schon lange keine Reisepässe mehr von der Regierung, wir kommen nicht legal nach Deutschland", sagt er.In seiner Gruppe sind noch ein 25-Jähriger, der vor einem Jahr bei einem Bombeneinschlag in seiner Nähe den rechten Arm verloren hat, ein 14-Jähriger, der vor einem Jahr nach Hause ging und dabei zusehen musste, wie sein Elternhaus mit seiner ganzen Familie darin dem Erdboden gleichgemacht wurde, eine jung Verheiratete, die im dritten Monat schwanger ist und deren Mann auf seinem Weg nach Hause von der Druckwelle eines Bombeneinschlages getötet wurde.

Man steht einem grenzenlosen Leid hilflos gegenüber, letzte Nacht, als ich von Evzoni nach Polykastro zurückfuhr, regnete es, und doch kamen mir viele Flüchtende auf der völlig unbeleuchteten Verbindungsstraße entgegen. Mit sehr vielen Kleinkindern und Säuglingen. In der Hoffnung, irgendwie doch Zentraleuropa zu erreichen.

Das mit den vor der Grenze campierenden Menschen verbundene, humanitäre Problem hat ungeahnte Ausmaße: Diese Menschen müssen ihre Notdurft verrichten und das tun sie natürlich, wo immer es notwenig ist.Sie lassen ihren Müll in Form von kaputten Schuhen und nicht mehr tragbarer Kleidung, Plastiktüten, ausgetrocknetem Brot und anderen Resten von zwischenzeitlich nicht mehr genießbaren Lebensmitteln, leeren Wasserflaschen, Babywindeln, etc. zurück, irgendwo auf den Feldern und am Rand der Wege, die sich zu breiten Trampelpfaden ausgetreten haben. Laut der "Ärzte ohne Grenzen", die hier sehr aktiv sind, ist nur noch abzuwarten, wann wir uns alle mit den Folgen dieser Hygieneprobleme konfrontiert sehen werden.

Unsere Gemeinden sind schlicht und ergreifend komplett überfordert, denn es gibt nicht mehr genügend Angestellte, die sich um den Müll kümmern könnten, u.a. bedingt durch die von der Troika geforderten und durchgeführten Personalkürzungen. Die Idee, chemische Toiletten aufzustellen, wurde bereits diskutiert, nun muss man nur noch die finanziellen Mittel dafür organisieren, was auch nicht so einfach sein dürfte. Auch die auf ein Minimum an Männern und Fahrzeugen heruntergekürzte Feuerwehr, die sich große Gedanken darum macht, wann wohl der erste, durch ein Lagerfeuer (nachts ist es kühl, wenn man draußen auf dem Boden schlafen muss!) der Flüchtenden ausgelöste Großbrand gelöscht werden muss, ist ein großes Thema. Bis jetzt ist noch nichts passiert, aber man überlegt sich, was werden soll, WENN etwas passiert.

Und niemand, kein Politiker und keine humanitäre Organisiation aus einem anderen EU-Land scheint sich auch nur im Geringsten für unsere Situation zu interessieren. Mails mit der Bitte um Verbreitung von der GELEBTEN REALITÄT in Nordgriechenland an so hoch gepriesene Informanten der politischen Situation in Griechenland (noch seien hier keine Namen genannt - NOCH nicht!) bleiben weiterhin unbeantwortet, wohl, weil hinter so einer Mailaktion immer ein bekannter Name stehen stehen sollte, damit sich ein Blick hierher auch lohnt. Schließlich findet sich in den Blogs oder Homepages solcher Informanten gerne mal ein Button mit der Aufschrift "Spenden", oder aber der klare Hinweis auf die politische Partei, die vertreten wird.

Hier noch ein Video von der ersten Rede Vasilis Tsartsanis´, der vor wenigen Tagen im EU-Parlament zum bereits zweiten Mal über die Flüchtlingssituation in Nordgriechenland berichtete, leider bislang nur in Griechisch, aber eine Zusammenfassung dessen, was er sagt, ist bereits geplant - es ist jedoch leider immer zu entscheiden, was wichtiger ist, die Arbeit am Computer oder die Hilfe draußen:


Sofern ich es heute einrichten kann, werde ich mit meiner Kamera nach Eidomeni fahren, um mich an Ort und Stelle von dem zu überzeugen, was mir Vasilis letzte Nacht erzählte. Er meinte, ich solle nicht zu nah an die Grenze herangehen, aber man könne ohnehin schon von weiter weg das Militär der FYROM sehen, es stehe genau an der Grenze zwischen unseren Ländern. Wie gesagt, sofern ich heute noch die Zeit dafür habe, werde ich hinfahren, um mich an Ort und Stelle selbst von der Richtigkeit der Informationen von Vasilis zu überzeugen.

Einen persönlichen Kommentar will und kann ich nicht abgeben, mir sitzt die vergangene Nacht noch in den Knochen. Doch, eins hätte ich dann doch zu sagen: Es wäre im Interesse ALLER - nicht nur der Griechen und irgendwelcher Flüchtlinge - wenn auch in Zentraleuropa ein paar Menschen langsam eigenständig nachdenken würden. Den Fernseher aus dem Fenster zu werfen könnte dabei ebenso hilfreich und unterstützend wirken, wie in Zeitungen des Niveaus "Bild" & co. keinen Cent mehr zu investieren. Solche Aktionen befreien die Gedanken, fördern das kognitive Denkvemögen und könnten zu Überlegungen führen, die letzendlich auch das Leben im eigenen Land betreffen.