Röntgenbild Lunge
1994 brachte das Focus Magazin einen Artikel, in dem das Röntgen-Gebaren der Mediziner unter die Lupe genommen wurde. Dies war umso bemerkenswerter, wurde doch 1988 eine Neufassung der Röntgenverordnung verabschiedet mit dem Ziel, unter anderem die Strahlenbelastung für den Patienten zu senken. Aber schon 1994 war die Effektivität dieser Maßnahme nicht gegeben. Warum? Strahlenschutzexperten von der Gesellschaft für Strahlenschutz veröffentlichten damals neue Untersuchungen, die besagten, dass die Röntgendiagnostik allein für 16.000 Krebstote jedes Jahr sorgt.

Man sprach von einem Röntgenskandal. Dieser Skandal bestand weniger in einer möglicherweise falschen oder laschen Schutzverordnung. Er bestand in dessen permanenter Umgehung. So vermutete man, dass eine konsequente Beachtung der Schutzvorschriften etwa ein Drittel der 16.000 Krebstoten verhindern würde.

Aber 9.000 Krebstote sind auch kein Ruhmesblatt für eine Zunft, die die Erhaltung bzw. Wiederherstellung und nicht die Vernichtung von Gesundheit auf ihre Fahnen geschrieben hat. Damit tun sich Fragen auf:
  • Wer garantiert die Einhaltung dieser Vorsichtsmaßnahmen?
  • Die “freiwillige Selbstkontrolle” der Ärzte?
  • Überwachungsbehörden, die keinen Einblick haben, wer wie viele Röntgenbilder produziert?
Schon 1994 wurden bis zu 500 Millionen Röntgenaufnahmen pro Jahr in Deutschland gemacht. So kamen die Gutachter zu dem Schluss, dass nicht nur übermäßig viele Aufnahmen gemacht wurden, sondern dass mit der Masse auch weniger Klasse produziert wurde. Die Aufnahmen waren größtenteils schlecht. Ein weiterer Aspekt in der täglichen medizinischen Praxis war seinerzeit, dass nur jeder 20. Röntgenarzt nach den damals geltenden Vorschriften ausgebildet war. Und die Fragen zur Schädlichkeit bzw. Unbedenklichkeit von Strahlung und deren Dosen waren nur akademisch und für die Praxis ohne Relevanz, da teilweise auch nur spekulativ.

Als weiterer Punkt kam noch dazu, dass die Hersteller von Röntgenfilmen sich weigerten, eine verlässlichere Aufnahmetechnik zur Verfügung zu stellen und die Qualität der Filme zu verbessern. Dieser Maßnahmekomplex alleine in Verbindung mit einer besseren Überwachung, so vermutete man damals, hätte die Strahlenbelastung um fast 90 Prozent senken können, und das damit verbundene Krebsrisiko.

Die Liste der Mängel im Bereich der Röntgendiagnostik war ellenlang. Die Spezialisten bemängelten fehlendes Fachwissen bei den Ärzten, die in Aufnahmen resultierten, von denen nur etwa 25 Prozent ohne Fehl und Tadel waren. In 30 Prozent der Fälle wurden Magenaufnahmen im Stil von Conrad Röntgen gemacht, also mit Megadosen an Strahlung für den untersuchten Patienten. Naja, und wenn die Aufnahme nicht so gut geworden ist, dann wird sie einfach wiederholt, geradeso als wenn es sich um eine Fotoserie aus dem Urlaubsalbum handelt. Begründet wird dies dann oft mit der unausweichlichen Notwendigkeit für eine genaue Abklärung einer möglicherweise lebensbedrohlichen Erkrankung.

Aber auch diese “Ausrede” scheint fragwürdig. Denn laut Statistik von 2008 wurden in Deutschland 850.000 Koronarangiografien durchgeführt, die 540.000 (64 Prozent) mal keinerlei therapeutische Konsequenz nach sich zogen. Man kann sich also leicht vorstellen, dass Röntgenaufnahmen bei weniger dramatischen Erkrankungen wie in den Herzkranzgefäßen vielleicht eine noch höhere Aufnahmerate haben, ohne dass es zu den geforderten therapeutischen Konsequenzen kommt.

Und warum scheinen die Ärzte von einer Art Röntgentollwut befallen zu sein?

Wer eine Anlage kauft, der macht sich Gedanken, wie er die Kosten und Unterhaltskosten für die Maschine wieder hereinbekommt. Das Gerät muss sich “amortisieren”. Es muss Geld machen. Somit wird der Patient im Zweifelsfalle für einen Röntgengang verdammt. Und die medizinisch ethische Ideologie vom Diagnostizieren und Therapieren überdeckt die unbarmherzige Realität von der Notwendigkeit wirtschaftlichen Denkens in der Medizin. Denn auch ein Röntgengerät ist in erster Linie eine Geldbeschaffungsmaßnahme und keine karitative Veranstaltung. Und genau aus diesen Gründen werden zusätzliche Kosten vermieden. Man spricht dann von “Unkosten”. Denn wenn sich ein Gerät noch nicht amortisiert hat, dann sind aus rein wirtschaftlichen Gründen Modernisierungsmaßnahmen nicht machbar. Schon 1994 waren 40 Prozent der Uralt-Modelle in Praxen und den “Gesundheits”ämtern zu finden. Die Kliniken hatten immerhin noch zu 17 Prozent veraltete Modelle in der Verwendung.

Die Problematik “ungefährlicher” Strahlung

Strahlung ist nicht sichtbar. Sie tut nicht weh. Sie schmeckt nicht schlecht, riecht nicht übel und ist für den Otto-Normalverbraucher gar nicht da, auch wenn sie da ist. Kann etwas so unauffälliges denn größeren Schaden anrichten? Die Antwort ist “JA”, es kann! Nicht nur die Atombomben von Hiroshima, das Reaktorunglück von Tschernobyl etc. haben gezeigt, mit welcher Heimtücke unsichtbare Strahlung Menschen in nur wenigen Wochen zum Tode befördert hat. Natürlich handelte es sich hier um mehr als nur die beim Arzt verwendete Röntgenstrahlung. Und die Intensität ist ungleich höher.

Aber solch übertriebene Darstellung verdeutlicht das Prinzip: Strahlung ist gefährlich. Dies hängt von der Art der Strahlung und deren Intensität ab. Auch hier ist die Dosis die bestimmende Größe für Schädigung oder Unbedenklichkeit. Ein direkter Nutzen der Röntgenstrahlung, außer in der Diagnostik und der Tumorbehandlung mit Strahlen, ist nicht bekannt. Damit stehen alle Zeichen auf Verharmlosung: So hört man immer und immer wieder, dass das mit der Röntgenstrahlung gar nicht so fürchterlich sei, wie man vielleicht annehmen könnte. Schließlich wäre eine Röntgenaufnahme nicht schlimmer als die Strahlung, die der Patient beim letzten Flug in den Urlaub nach Thailand im Flieger abbekommen hätte. Oder die Mammographie entspräche im Wesentlichen der Strahlung bei einem Ausflug ins Hochgebirge. Stimmt das etwa nicht?


Doch, es stimmt! Es stimmt aber nur dann, wenn der Patient in der Lage ist, in den nächsten wenigen Minuten fast 200-mal in Urlaub zu fliegen und die Frau drei Jahre Hochgebirgsurlaub macht. Denn das Herabspielen und Verharmlosen dieser Strahlung ist mit ein Grund, warum es schon 1994 über 16.000 strahlungsbedingte Krebstote gab. Und es ist eine Garantie, dass das so bleiben wird, da man ja irrtümlicherweise glaubt, dass es sich bei dieser Strahlung um Urlaub und Ausflug handelt. Wer so unbesorgt mit der Strahlung umgeht, wird sich auch wenig Gedanken machen über die Menge an Strahlen, die dem Patienten zugemutet wird.

Diese Tatsache kommt besonders gut zum Ausdruck in einer Studie einer Arbeitsgruppe für Strahlenschutz, die Dosismeter an eine Reihe von deutschen und europäischen Kliniken schickte. Diese kleinen Messgeräte wurden den Patienten während des Röntgenvorgangs auf der Haut befestigt. Bei den Röntgenaufnahmen handelte es sich um routinemäßige Röntgenbilder. Ergebnis dieser Untersuchung war, dass bei Abbildungen der Wirbelsäule die höchste Strahlendosis 60-mal höher war als die Niedrigste. Es gab Kliniken, wo die Schwankungen in der Strahlungsdosierung relativ eng begrenzt ausfielen. Andere Kliniken muteten ihren Patienten für die gleichen Untersuchungen eine 10-fache Dosis zu, wobei es bei den eigenen Patienten auch zu einer Schwankung der Strahlendosis um den Faktor 10 kam. Und es scheint ein weitverbreitetes Missverständnis zu sein, dass die Strahlenmenge einen Einfluss auf die Bildqualität hat.

Aber eine hohe Strahlendosis ist kein Garant für eine hohe Aufnahmequalität. Das einzige Trostpflaster, was uns diese Studie auf den Weg mitgeben kann, ist die Tatsache, dass nicht nur in Deutschland diese Schwankungen zu verzeichnen sind. In diesem Aspekt ist sich Europa einig.

Röntgen heute

Wurden laut Statistik 1994 etwa 500 Millionen Röntgenaufnahmen gemacht, so sind es 2010 nur noch 140 Millionen. Das sieht nach einem Lernprozess aus, der hier eingesetzt zu haben scheint. Aber dennoch schreibt z.B. die “Welt online”, dass wir in Sachen Röntgen “einsame Spitze” sind. Weltmeister allerdings sind die Japaner mit nur knappem Vorsprung vor Röntgen-Vizeweltmeister Deutschland. Erstmals sind auch Strahlenwerte zu vernehmen: Im Mittel erhält jeder Deutsche jedes Jahr eine Dosis von 2 mSv (Milli-Sievert). Deutlich abgeschlagen landen auf Platz 3 und 4 Frankreich und die Schweiz. Man kann erfahren, dass dort nur halb so viel geröntgt wird wie in Deutschland. In England kommt man mit nur einem Siebtel der Strahlenbelastung aus.

Aber wie kann man sich eine seit 1994 praktisch gleich hoch gebliebene Strahlungsbelastung erklären, konnte man doch einen deutlichen Abfall der Röntgenmenge verzeichnen, von 500 Millionen auf 140 Millionen? Die Antwort könnte so aussehen: Im Laufe der Zeit hat sich die Röntgendiagnostik entwickelt, so dass das alte Standardverfahren häufig durch neue, leistungsfähigere Verfahren, wie die Computertomographie (CT) ersetzt wird. CTs zeigen eine deutlich höhere Strahlungsbelastung als die normalen Röntgengeräte. Hier einmal ein paar Vergleichswerte:

Effektive Strahlendosis einiger Röntgenuntersuchungen
  • Extremitäten: 0,01 mSv
  • Brustkorb: 0,02 mSv
  • Halswirbelsäule: 0,1mSv
  • Brustwirbelsäule 1 mSv
  • Lendenwirbelsäule: 2,4 mSv
  • Schädel: 0,1 mSv
  • CT Schädel: 2,0 mSv
  • CT Brust: 11 mSv
  • CT Bauchraum: 8 mSv
Die natürliche Strahlung, der jeder ausgesetzt ist, beträgt pro Jahr 2 mSv.
Anmerkung: Eine sehr gute Vergleichs-Übersicht bezüglich der Strahlendosen hat die Süddeutsche Zeitung in mehreren Grafiken veranschaulicht: http://www.sueddeutsche.de/wissen/radioaktive-strahlung-vom-roentgen-bis-zum-super-gau-1.1081825-2
Aus diesen Zahlen lässt sich schön erkennen, dass CT-Untersuchungen 10 bis 20-fach höhere Strahlungsdosen abgeben als die konventionellen Röntgenuntersuchungen. Sie zeigen auch, dass eine Schädel CT z.B. die natürliche Strahlungsdosis schlagartig verdoppelt.

Damit scheint sich die weiter oben gestellte Frage so langsam zu beantworten: Es ist der Zuwachs an CT-Untersuchungen. Seit 1996 hat sich die Anzahl mehr als verdoppelt. Laut Statistik wurden damals 0,06 Untersuchungen pro Einwohner unternommen. Heute sind es mehr als 0,12. CT-Untersuchungen tragen zu 60 Prozent an der gesamten medizinischen Strahlenbelastung bei. Dies ist umso bemerkenswerter, beträgt ihr Anteil an der radiologischen Diagnostik weniger als 10 Prozent. Die Abnahme aller Röntgenuntersuchungen von 1,8 auf 1,6 pro Einwohner pro Jahr war zwar signifikant, aber nicht ausreichend, auch die gesamte Strahlenbelastung nach unten zu beeinflussen.

Diese Zahlen sind umso erstaunlicher, da ein anderes diagnostisches Verfahren, die Magnetresonanz-Tomografie (MRT), sich im gleichen Zeitraum verdreifacht hat. Aber auch diese Verdreifachung hatte keinen Einfluss auf die Strahlenbelastung. Kein Wunder wenn sich die Experten wundern, warum immer noch zuviel geröntgt wird. Sonographie und MRT sind Alternativen, die immer noch nicht genug berücksichtigt werden.

Wenn man sich diese Zahlen genauer anschaut, taucht ein scheinbarer Widerspruch auf. Die Abnahme von 500 Millionen auf 140 Millionen Röntgenaufnahmen korrespondiert auf den ersten Blick nicht mit der Abnahme von 1,8 auf 1,6 Röntgenuntersuchungen pro Einwohner pro Jahr. Vorausgesetzt, dass diese Zahlen stimmen, kann dies nur bedeuten, dass nicht nur die Röntgenuntersuchungen abgenommen haben, sondern dass auch die Anzahl der Röntgenaufnahmen pro Untersuchung abgenommen hat. Beides sind begrüßenswerte Tendenzen.

Strahlendosis - darf es etwas mehr sein?

Die durchschnittliche jährliche Gesamtbelastung beträgt also etwa 2 mSv. Durch eine Röntgenuntersuchung, je nach Untersuchungsmethode und Körperteil, kann sich diese Dosis verdoppeln. Damit ist man immer noch weit entfernt von Strahlungsschäden. Die treten auf bei 200 mSv pro Stunde für die Dauer von 5 Stunden, also 1 Sv gesamt. Dann treten die ersten Symptome einer Strahlenkrankheit auf.

In Deutschland werden bei Belastungen von 100 mSv pro Woche Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet. Personen, die aufgrund beruflicher Tätigkeiten Strahlungen ausgesetzt sind, dürfen nicht mehr als 20 mSv pro Jahr erhalten. Ein ungeborenes Kind darf nicht mehr als 1 mSv erhalten. Da bleibt die Frage, ab wann die Strahlung dann für das Auftreten von Krebserkrankungen verantwortlich ist? Verbindliche Grenzwerte gibt es hier nicht. Jeder wird zudem eine individuelle Toleranzgrenze haben.

Grob über den Daumen gepeilt lässt sich festhalten: Je höher die Strahlungsdosis, desto größer die Gefahr einer strahlungsbedingten Krebserkrankung. Von daher ist es nur logisch, die medizinisch bedingte Strahlung auf ein Minimum zu reduzieren - oder?

Was sollten Patienten also tun?

1. Erkundigen Sie sich wie alt das jeweilige Gerät bei Ihrem Arzt oder in der Klinik ist.

2. Lassen Sie nicht bei jedem Arzt wegen der gleichen Beschwerden eine Aufnahme machen. Nehmen Sie stattdessen vorhandene Bilder mit, ebenso die Befunde.

3. Ein CT (Computertomograph) arbeitet mit Röntgenstrahlung, ein MRT (Magnetresonanztomograph, auch Kernspin genannt) arbeitet mit Magnetfeldern und Radiowellen. Vor allem die Anwendung eines CTs bei Krebspatienten halte ich für bedenklich. Diese sollten auf jeden Fall auf ein MRT bestehen.

4. Es ist die Frage zu stellen, ob man überhaupt so viele Röntgenbilder benötigt. Ein Professor erklärt mir in der Ausbildung einmal: „85% aller Diagnosen könnten bereits gestellt werden, wenn man den Patienten richtig befragen und mit den Händen untersuchen würde.“ Leider ist dies in den meisten Praxen heutzutage leider nicht mehr der Fall. Fairerweise muss ich auch sagen: es wird von den Kassen auch nicht wirklich honoriert. Röntgenbilder werden da schon besser vergütet - also wird erst mal ein Bild gemacht.

5. Eine Lösung könnte sein, wie es in anderen Ländern auch üblich ist: Röntgen, CT und MRT werden nur in entsprechenden Zentren von einem Radiologen ausgeführt. Dies wird allerdings auf erbitterten Widerstand der Ärzte stoßen, die solche Geräte in der Praxis haben. Und den Herstellern der Geräte wird dies auch nicht gefallen...

Quellen:

http://www.bfs.de/de/bfs/presse/pr10/pr1210.html

http://www.bfs.de/de/bfs/druck/uus/JB08Zusammenfassung.pdf

http://www.welt.de/print-welt/article271051/Wird_in_Deutschland_zu_viel_geroentgt.html

http://www.apotheken-umschau.de/Diagnostik-Therapie/Wird-in-Deutschland-zu-viel-geroentgt-74369.html