Irgendetwas stimmte nicht mit dieser jungen Frau. Schon nach der ersten Begegnung hatte der Psychiater Hervey Cleckley bei seiner Patientin Roberta eine gewisse seelische Verwahrlosung ausgemacht.
In mehreren Gesprächen fiel ihm besonders die Willkür auf, mit der Roberta ihre Entscheidungen fällte. Selbst Angelegenheiten von größter Tragweite behandle sie wie "ein Mensch, der in den Spiegel guckt und dann spontan beschließt, zum Friseur zu gehen".
Verzweifelt hatten Robertas Eltern den Nervenarzt um Rat gefragt. Ihre Tochter hatte sie an den Rand des finanziellen Bankrotts und des seelischen Zusammenbruchs gebracht. Roberta fälschte Schecks, log das Blaue vom Himmel herunter und riss immer wieder von zu Hause aus.
"Ich verstehe dieses Mädchen einfach nicht", klagte der Vater. "Es ist nicht so, dass Roberta absichtlich Böses täte. Sie kann dir nur geradeheraus ins Gesicht lügen und scheint doch völlig mit sich im Reinen zu sein."
Auch die Mutter war verwirrt: "Sie hat die herzigsten Gefühle, aber die zählen nicht viel. Sie ist nicht herzlos, aber alles bei ihr geschieht an der Oberfläche."
Rätselhafte Seelenkälte
"So ein Mädchen kann sich und anderen mehr Schaden zufügen als ein durchschnittlicher Patient mit Schizophrenie", urteilte Cleckley. Der Gelehrte war unsicher, ob eine Einweisung in die Psychiatrie geboten sei: "Es kann kaum gesagt werden, ob sie in einer Anstalt sicherer ist oder ob man sich besser zu Hause um sie kümmert."
Cleckley wusste damals nicht, dass eine Art Blaue Mauritius der Psychopathologie vor ihm auf der Couch lag. Sein Bericht aus dem Jahr 1941 gilt heute als erste Fallstudie einer Psychopathin in der Geschichte der Psychiatrie. Wenig neue Erkenntnisse sind seitdem hinzugekommen.
Das Innenleben des männlichen Psychopathen ist vergleichsweise gut ausgeleuchtet. In großer Zahl bevölkern Betroffene dieser wohl dramatischsten aller Persönlichkeitsstörungen die Gefängnisse - bis zu 25 Prozent der Insassen sind nach Einschätzung von Experten Psychopathen.
Kommentar: Robert Hare, bezeichnet die Psychopathen die sich im Gefängnis befinden, als erfolglos oder gescheitert. D.h. es gibt weitaus geschicktere Psychopathen, die nicht im Gefängnis sitzen und sehr gewandt sind, wie Gesetze umgangen werden können und oftmals auch in höchsten Führungspositionen zu finden sind.
Wie aber steht es um die Frauen? Sind sie gefeit davor, zu emotionslosen Monstern zu werden? Und falls es doch Psychopathinnen gibt - wie sehen sie aus?
Als hervorstechendes Merkmal der Psychopathen gilt ihre rätselhafte Seelenkälte: Sie verhalten sich gewissenlos und können Gefühle wie Angst oder auch Freude überhaupt nicht nachvollziehen. Selbst nach schlimmsten Verbrechen quält diese Menschen kein Funken Reue.
"Die Psychopathin stellt ein schwarzes Loch der Wissenschaft dar"
Auch Strafe fürchten sie nicht, weil sie keine Angst empfinden. Und doch sind sie Meister darin, die Erwartungen ihrer Umwelt zu erkennen und zumindest vordergründig zu bedienen. Die Kombination dieser Eigenschaften macht den prototypischen Psychopathen zu einem gefährlichen, antisozialen Raubtier.
Von männlichen Psychopathen ist bekannt, dass sie Gesprächspartner mit viel Charme um den Finger wickeln. Sie sind extrem auf Kontrolle und Machtausübung erpicht, können ihre Impulse aber nur schwer unter Kontrolle halten.
Trotzdem wird keineswegs jeder Psychopath zum Mörder. Die meisten fallen eher durch Betrug und Manipulation auf. Nur wenn sich die Vereisung der Seele mit einer krankhaften Neigung zum Sadismus verbindet, regt sich im Psychopathen die Mordlust.
Ist all das der weiblichen Seele fremd, oder tritt es nur weniger offensichtlich zutage?
"Die Psychopathin stellt ein schwarzes Loch der Wissenschaft dar", sagt die Berliner Psychologin Anja Lehmann von der Freien Universität Berlin. Diese Lücke wollte sie nun gemeinsam mit einem Team von Wissenschaftlern schließen. Lehmann machte sich daran, in deutschen Frauengefängnissen das Profil der prototypischen Psychopathin zu erstellen - "ein zumindest in Deutschland bislang einzigartiges Projekt", urteilt die Berliner Psychologin Angela Ittel.
Warum Frauen die erfolgreicheren Psychopathen sind
Insgesamt 230 weibliche Häftlinge hat Lehmann zur Mitarbeit an ihrer Studie aufgefordert; 60 Frauen erklärten sich bereit dazu. Nach ausführlichen Interviews stufte die Forscherin sechs von ihnen als psychopathisch ein.
Wie unter Experten üblich benutzte sie dazu einen Fragenkatalog, den der kanadische Psychologe Robert Hare in den siebziger Jahren entwickelt hatte. Der höchste erzielbare Wert auf der Hare-Checkliste liegt bei 40 Punkten, die Schwelle zur Psychopathie hat Hare bei 30 festgelegt.
Diesen Wert verfehlten allerdings drei der sechs von Lehmann diagnostizierten Frauen knapp - den Grund dafür sieht die Forscherin darin, dass Hares Interview-Baukasten allzu sehr auf Männer zugeschnitten ist.
So ist ein wichtiges Element der Checkliste die Frage nach frühen Verhaltensauffälligkeiten. Psychopathische Jungs zeigen meist schon im Sandkastenalter alarmierende Anzeichen einer seelischen Unwucht: Sie quälen Tiere, legen Feuer, sind mitunter extrem gewalttätig und bedrängen häufig schon mit zehn oder zwölf Jahren Mitschüler oder Geschwister sexuell. Ein ähnliches Muster ließ sich bei Mädchen bisher nicht ausmachen.
Weil sich männliche Psychopathen von Kindesbeinen an auf Kollisionskurs mit der Gesellschaft befinden, bringen sie es oft bereits als Minderjährige auf ein beachtliches Vorstrafenregister. Die von Lehmann befragten Frauen dagegen waren als Mädchen eher durch Bagatelldelikte aufgefallen: "Sie klauen immer wieder Haargummis oder Lippenstifte - das sind Verfahren, die dann wegen Geringfügigkeit eingestellt werden."
"Sie kokettieren mit ihrem Äußeren und strahlen etwas Sexuelles aus"
Im Gefängnis traf die Wissenschaftlerin auf Täterinnen, die emotional kaum erreichbar waren. "Ich fühlte mich wie in einem Pingpongspiel, bei dem der Ball nicht zurückkommt", berichtet sie. Angesprochen auf ihre Taten, zeigten die Frauen keinerlei Scham für Delikte wie Betrug oder sogar Mord. "Diesen Menschen ist es völlig egal, wie sie vor anderen dastehen - eigentlich ein relativ untypisches Verhalten, denn Frauen machen sich normalerweise häufig Gedanken über ihre Außenwirkung", sagt Lehmann.
Kaltherzig fielen die Begründungen selbst für schlimmste Straftaten aus. "Da wird ein Mord etwa mit den Worten gerechtfertigt: "Der störte mich, der wollte mich aus der Wohnung werfen", berichtet Lehmann. Mitgefühl oder Reue war diesen Inhaftierten fremd. "Das ist ja deren Problem", urteilte eine Delinquentin über eine Frau, die sie in verheerende Schulden getrieben hatte.
"Mitunter können diese Frauen verbrannte Erde hinterlassen", warnt die Psychologin. "Sie kokettieren mit ihrem Äußeren und strahlen etwas Sexuelles aus." Selbst weniger attraktive Frauen erlangten auf diese Weise eine unwiderstehliche Wirkung auf Männer, denen sie sich zunächst als leichte Beute präsentierten.
"Tatsächlich aber wollen sie immer die Kontrolle behalten", sagt Lehmann. Unbarmherzig können sie ihrem Partner auch noch das letzte Hemd ausziehen - während dieser in einer Mischung aus Nachsicht und Anbetung verharrt.
Frauen können formal die gesellschaftlichen Spielregeln einhalten
Gerade die Unberechenbarkeit psychopathischer Frauen zieht viele Männer offenbar an. Auf einer Woge aus Stress- und Glückshormonen treiben sie ihrem Untergang entgegen.
Systematisch hatten die sechs von Lehmann befragten Straftäterinnen eine typisch weibliche Waffe eingesetzt. "Frauen haben generell ein besseres Gespür für die Bedürfnisse des Gegenübers", sagt die Psychologin. Entsprechend erfolgreich bedienen Psychopathinnen das Stereotyp einer passiven, fürsorglichen und abhängigen Frau, um von Männern zu bekommen, was sie haben wollen.
Ihre Kollegen hätten sich bislang zumeist auf die männlichen Delinquenten fixiert und die wissenschaftliche Betrachtung der weiblichen Aggression vernachlässigt, bemängelt Lehmann.
Im Regelfall scheint es den Frauen besser zu gelingen, zumindest formal die gesellschaftlichen Spielregeln einzuhalten. "Dadurch bleiben viele Psychopathinnen unter dem Radar der Rechtsprechung", vermutet die Forscherin. Ihr Resümee: "Die Kombination dieser Faktoren macht Frauen zu den erfolgreicheren Psychopathen."
Analysen wie diejenige der Berliner Psychologin könnten Richtern künftig helfen, ein klareres Bild von dieser Art von Täterinnen zu gewinnen - und damit zugleich zu beurteilen, ob eine Delinquentin überhaupt zu normalem Verhalten fähig ist. Wie schwierig es ist, eine klare Diagnose zu stellen, das offenbaren schon die wenigen prominenten Fälle.
Psychopathische Mustertaten?
Die Amerikanerin Amanda Knox etwa soll in Italien gemeinsam mit ihrem Freund die Studentin Meredith Kercher zunächst sexuell missbraucht und anschließend erstochen haben. Das Opfer erstickte an seinem eigenen Blut.
Knox wurde im Dezember 2009 von einem Gericht in Perugia zu 26 Jahren Haft verurteilt. Die Verkündung dieses Strafmaßes nahm die 22-Jährige ebenso regungslos zur Kenntnis wie das übrige Prozessgeschehen. Ihr unterkühltes Verhalten angesichts der bestialischen Tat trug ihr den Beinamen "Engel mit den Eisaugen" ein. In den US-Medien wird über ihre "psychopathische Persönlichkeit" spekuliert.
Zum Auftakt des Berufungsverfahrens schien sie ihre Strategie überdacht zu haben. Plötzlich präsentierte sich Knox der Öffentlichkeit in Tränen aufgelöst: Das kalkulierte Schauspiel einer gewieften Lügnerin oder die aufrichtige Verzweiflung einer zu Unrecht Verurteilten?
Nicht minder verwirrend stellt sich der Fall der Kanadierin Karla H. dar. Gemeinsam mit ihrem Ehemann entführte sie Anfang der neunziger Jahre mehrere Mädchen, die das Paar gemeinsam vergewaltigte, folterte und anschließend ermordete. Die Taten filmte das Duo mit einer Videokamera. H., blond und gutaussehend, erlangte im Zuge des Prozesses als "Killer-Barbie" Berühmtheit.
Eingeschränkte moralischer Urteilskraft
Fachmann Hare beschrieb ihr grausiges Treiben in einem seiner Bücher als psychopathische Mustertat. Doch die Untersuchung im Gefängnis erbrachte 1996 ein überraschendes Resultat: Trotz der an Abscheulichkeit kaum zu überbietenden Morde und H.s extrem eingeschränkter moralischer Urteilskraft erzielte sie auf der Hare-Skala nur einen Wert von fünf Punkten - und landete damit weit unter der Psychopathie-Marke.
Auf andere Weise in Erklärungsnot brachten Psychiater die Tat der Britin Chelsea O., die sich bereits als 14-Jährige mit einem gezielten Fußtritt jede Zukunft ruinierte.
O. gehörte zu einer Jugendbande sogenannter Happy Slapper, die auf ihre Opfer vor laufender Handy-Kamera einprügeln. Am Morgen des 30. Oktober 2004 traf sie zusammen mit drei männlichen Kumpels auf den Barkeeper David Morley, 37, den die Jugendlichen sofort brutal attackierten.
Als Morley bereits wehrlos am Boden lag, versetzte die Jugendliche ihrem Opfer einen wuchtigen Tritt vor den Kopf, den sie nach Aussage eines Augenzeugen "mit der Sorgfalt und Kraft eines Fußballspielers beim Elfmeter" ausführte.
2006 wurde die inzwischen 16-jährige O. wegen Totschlags zu acht Jahren Gefängnis verurteilt - David Morley war infolge des Überfalls im Krankenhaus verblutet.
Merkmale die es zu achten gebe
Der Fall O. widerspricht Lehmanns Befund, demzufolge Psychopathinnen in jungen Jahren zunächst eher unauffällig bleiben. Bei ihrer Festnahme hatte die Polizei ein Tagebuch entdeckt, in dem sie im Szenejargon über die gewalttätigen Streifzüge ihrer Rotte berichtet hatte: "Them lot bang up some old homeless man which I fink is bad even doe I woz laughen after doe" (Etwa: "Sie verprügeln oft ein paar alte, obdachlose Männer, was ich schlimm finde, obwohl ich darüber gelacht habe").
Inzwischen wächst unter Psychologen die Einsicht, dass weibliche Psychopathen nur bedingt mit jenen Begriffen zu fassen sind, die eigentlich für Männer entwickelt wurden. Die kalifornische Psychologin Hallie Ben-Horin etwa plädiert dafür, die Hare-Checkliste zur Untersuchung von Frauen zu ergänzen. Besonders auf drei Merkmale gelte es dabei zu achten:
Relationale Aggression:Ob Psychopathie heilbar ist, darüber streiten die Experten. Sie können noch nicht einmal sagen, was genau dem Psychopathen fehlt. Die Indizien sprechen dafür, dass der Defekt in der Amygdala liegt - jener Hirnregion also, in der die Emotionen verarbeitet werden. Darüber, ob die Störung angeboren ist oder etwa durch frühe Traumatisierungen ausgelöst wird, sagt das aber noch nichts aus.
Beziehungen sind für Psychopathinnen bloßes Mittel zum Zweck. Ben-Horin beschreibt einen Frauentyp, "der etwa einer Freundin den Partner ausspannt, nur um diese zu verletzen". Über andere verbreiten diese Frauen gern üble Gerüchte und reden verächtlich über sie. In der Partnerschaft drohen sie regelmäßig mit dem Abbruch der Beziehung, um ihren Willen durchzusetzen.
Betrug und Manipulation:
Psychopathinnen meistern ihr Leben mittels Fälschung, Unterschlagung und Lüge. Typischerweise, so Ben-Horin, "bezeichnen sie andere als leichtgläubig und schwach und äußern die Überzeugung, dass es töricht wäre, nicht jeden auszunutzen, der dumm genug ist, dies zuzulassen". Meist machten sie sich dabei "überhaupt keine Sorgen darüber, wie ihr Verhalten anderen schadet".
Parasitärer Lebensstil:
Psychopathinnen begeben sich mutwillig in finanzielle Abhängigkeit. "Sie bekommen, was sie wollen, indem sie sich als hilflos darstellen oder Angehörige und Freunde nötigen oder ihnen drohen", so Ben-Horin. Die psychopathische Persönlichkeit wechsle häufig den Partner und halte dabei gezielt Ausschau nach Männern mit hohem Einkommen.
Ob Frauen auf ähnliche Weise psychopathisch sein können wie Männer
Eine mögliche psychiatrische Intervention müsse im Idealfall schon im Kindesalter einsetzen, um Wirkung zu erzielen, fordern die Spezialisten. Alle Bemühungen, die überaus unberechenbaren Patienten in therapeutischen Wohngemeinschaften kurieren zu wollen, gelten inzwischen als gescheitert. "Psychopathen unterlaufen dieses Konzept, indem sie ihre Mitbewohner systematisch unterjochen", berichtet Lehmann.
Kommentar: In dem Buch Menschinder oder Manager von Hare/Babiak wurde genannt, dass Therapieversuche meist die Situation noch verschlimmerten. Da Psychopathen neues Wissen erlangten und somit andere Menschen noch besser manipulieren konnten.
Doch womöglich gilt auch dies wieder nur für Männer. Zumindest die Frauen, die Lehmann in deutschen Gefängnissen traf, verhielten sich geradezu vorbildhaft: Sie hatten persönliche Dinge an ihre Mitgefangenen verliehen, das soziale Gefüge unterstützt und waren durchaus gesellig.
Lehmann hält es allerdings für denkbar, dass die Psychopathinnen hinter Gittern nur deshalb eine "soziale Maske" aufsetzen, weil ihnen das in der streng reglementierten Welt des Gefängnisses einen Vorteil verschafft.
Doch spricht Lehmann damit ihren Interviewpartnerinnen nicht jede Fähigkeit zur Besserung ab? Mitunter beschleichen die Psychologin Anflüge eines schlechten Gewissens. In solchen Momenten fürchtet sie, mit ihrer Forschung das Ansehen der Frau an sich zu untergraben.
Aber dann besinnt sie sich wieder auf die eigentliche Erkenntnis: "Dass Frauen auf ähnlich erschreckende Weise psychopathisch sein können wie Männer - ist das nicht auch ein Beitrag zur Gleichberechtigung der Geschlechter?"
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